Poetische Verwandlungen

"Paterson" von Jim Jarmusch

Die Jury der Evangelischen Filmarbeit, die von evangelischen Kultureinrichtungen in Deutschland getragen wird, hat "Paterson", den jüngsten Film von Jim Jarmusch, als FILM DES MONATS  November 2016 ausgezeichnet. Er ist jetzt auch auf DVD erhältlich. Karsten Visarius, Geschäftsführer der Jury und Executive Director von INTERFILM, schreibt über den Film.

 

Angesichts einer bei liberalen Geistern sich ausbreitenden Stimmungsverdüsterung lohnt sich der Blick auf einen Film, dessen stille Heiterkeit quer zur aktuellen Lage zu stehen scheint. Es ist "Paterson" von Jim Jarmusch, der in Cannes 2016 uraufgeführt wurde.

Der Film handelt von einem Busfahrer, der so heißt wie die Stadt, in der er lebt, und wie der Film, der von beiden erzählt, Paterson also.

Paterson wacht jeden Morgen zwischen 6 und halb 7 neben seiner bildschönen und phantasiebegabten Frau auf, frühstückt, geht zur Arbeit, fährt mit dem Bus durch die Stadt – also Paterson -, isst zuhause zu Abend, führt den Hund aus und trinkt in einer Kneipe ein Bier, sechs Mal hintereinander, dann kommt der Sonntag.

Ein Durchschnittsmensch. Er tut allerdings etwas, was nur wenige tun: er schreibt Gedichte. Wie sein Vorbild, William Carlos Williams, der einen großen Gedichtzyklus mit dem Titel „Paterson“ geschrieben hat.

Paterson, der Busfahrer, schreibt über das, was er sieht und hört, eine Streichholzschachtel auf dem Frühstückstisch zum Beispiel, die zum Anfang eines Gedichts wird.


Wenn Dinge in ein Gedicht eingehen, dann wandern sie in den Atemraum, wie Paul Celan das genannt hat. Das bezieht sich natürlich auf gesprochene und gehörte Gedichte, wie die, die wir in Jarmuschs Film gesprochen hören.

Gedichte sind aber auch Bilder, Schriftbilder. Und Jarmusch zeigt uns, wie die Gedichte Patersons auf die Filmbilder geschrieben und damit selbst zum Bild werden.

Wir bleiben in der Welt des Alltäglichen. Aber es hat sich fast unmerklich verwandelt, in die Innenwelt des Atemraums und eine von uns nicht betretbare Bilderwelt, die sich beide ineinander spiegeln. Die Dinge sind plötzlich ein wenig entrückt und gleichzeitig näher als sonst Dinge es sein können.

Man solle, hat Jarmusch gesagt, den Film einfach an sich vorüberziehen lassen. Wie Gedanken, würde ich hinzufügen.

Etwas abstrakter gesagt, folgen wir in „Paterson“ einer Transformation, die das Alltägliche spiritualisiert. Es gewinnt etwas, was Walter Benjamin dem Film prinzipiell abgesprochen hat, eine Aura – nach seiner Definition die einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch sein mag.


Am Sonntag trifft Paterson auf einem Spaziergang einen Japaner, ebenfalls ein Dichter, der wegen William Carlos Williams nach Paterson gekommen ist.

Warum ausgerechnet ein Japaner? Ich vermute, weil der größte Poet des Kinos, jedenfalls für viele, die das Kino lieben, der japanische Regisseur Yasujiro Ozu ist. Von seinen über dreißig Filmen heißt es, er habe, mit Variationen, immer wieder den gleichen Film gedreht. Wie Paterson, in Variationen, immer wieder den gleichen Tageszyklus durchlebt. Das große Thema bei Ozu und in „Paterson“ ist die Zeit – und die Zeitlosigkeit der Zeit.

Sich der Zeit zu entziehen, ist kein westliches Motiv. Der Westen ordnet vielmehr alles der Zeit unter. Mit dem Blick eines Japaners hingegen betrachtet kommt es darauf an, sich von der Zeit zu lösen. Und damit von all den Ambitionen, die uns an die Zeit ketten, von den Leidenschaften, vom Begehren, vom Ehrgeiz, vom Willen zur Macht.

Diese Haltung, dieses Konzept, ist religiös inspiriert, nicht nur, aber auch. Allerdings stammt diese Inspiration nicht aus dem Christentum, auch nicht aus dem Judentum oder dem Islam. Es kommt vielmehr aus der asiatischen Welt, aus dem Buddhismus, der in den letzten Jahrzehnten auch Menschen der westlichen Welt angezogen hat. Er ist von Ost nach West gewandert, wie der Japaner in „Paterson“. In einem Interview hat Jarmusch sich „eine Art Pseudo-Buddhist“ genannt. Er praktiziere den Buddhismus zwar nicht, lese aber viel darüber.

In „Paterson“ gibt es keine Buddhas, keine Mönche, es werden keine Sutren gelesen und kein Gong angeschlagen, und sein Schöpfer ist, wie er sagt, höchstens ein Pseudo-Buddhist. Dennoch ist es ein Film, dessen Haltung, dessen Erzählweise und visueller Stil von buddhistischen Ideen, Einsichten und Prinzipien beeinflusst sind. Wir oder die meisten von uns werden das wahrscheinlich nicht erkennen. Weil unser Säkularismus selbst eine christliche Erbschaft ist, die uns den Blick auf uns selbst und auf die Religionen der Welt verstellt.

Meine Beobachtungen und Überlegungen sollten diesen Blick ein bisschen zurechtrücken.


Zu „Paterson“ wäre noch sehr viel mehr zu sagen. Man kann ihn zum Beispiel als einen Anti-Trump-Film sehen und ihn in einen ganz aktuellen Kontext stellen. Auch der Busfahrer Paterson gehört zu jener unteren Mittelschicht, die, wie es heißt, das wichtigste Wählerpotential Donald Trumps bildet. Und es ist nicht ganz uninteressant, ein Gegenbild zu jenen weißen, wütenden, von Abstiegsängsten geplagten und ressentimentgeladenen Männern zu sehen, denen Trump eine Stimme gibt.

Es ist auch, wie ich versucht habe zu zeigen, ein Film zum interreligiösen Dialog, der allerdings die Fixierung auf den Dialog mit Muslimen und Juden hinter sich lässt und damit erkennbar macht, das es dabei gar nicht um einen Dialog der Religionen geht, sondern um politische und soziale Fragen. Ginge es um Religion, müsste man sich wohl zuerst die eigene religiöse Indifferenz eingestehen.

Man müsste auch von Laura erzählen, Patersons Frau. Ihre Phantasie und Kreativität schlagen sich zum Beispiel in der ständigen Dekoration und Umdekoration ihres Hauses nieder. In ihr hat sich gewissermaßen der Set-Designer des Films versteckt.

Schließlich ist es auch  - wenn auch vielleicht nur am Rande – ein Film zum Verhältnis von Medien und Kultur. Paterson verzichtet zum Beispiel ausdrücklich auf ein Handy. Er schreibt seine Gedichte in ein Notizheft, und der Film schreibt sie noch einmal auf die Leinwand. Auch deshalb ignoriert der Film all das, was die Medien uns von morgens bis abends als aktuelle Gegenwartsfragen vor die Füße werfen. Peter Sloterdijk hat die von den modernen Medien, hauptsächlich Fernsehen und Internet, durchdrungenen Gesellschaften als „Erregungsgemeinschaften“ gekennzeichnet, die sich ständig in einem gewissermaßen hysterischen Modus befinden. Die wunderbare Entspanntheit und Gelassenheit, die der Film sich erlaubt, ist ein Gegenbild zu diesem Zustand – wenn auch vielleicht nur ein Wunschbild. Für die Dauer des Films wird es unser Zuhause.