Bericht zu den Kurzfilmtagen Oberhausen 1996


Seit langem verteidigen sich die Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen, die unter der Leitung von Angela Haardt beharrlich den Willen zur Reflexion filmischer Traditionen und Zukunftsvisionen bekunden, vor der Übermacht des Neuen, vor den Bilderfluten einer weltweiten Jahresproduktion von Kurzfilmen und Videos, in der das einzelne Werk untergeht. Dem flüchtigen Konsum einer Kunstgattung, die mit Animations-, Experimental-, Dokumentar- und Spielfilmen, mit Essays und Kompilationsfilmen das gesamte Spektrum des Film- und Videoschaffens für sich in Anspruch nimmt, wiederspricht das Festival programmatisch mit Retrospektiven, Symposien und Sonderreihen, die den Blick für die historische Bedingtheit einander vergessender Avantgarden und einander herbei- und hinwegzitierender Film-Geschichten schärfen. In diesem Jahr konnte, wer immer sich dafür entscheiden mochte, das Festival als Filmmuseum zu nutzen, von einer Geschichte der Deutschen Wochenschau profitieren, sich auf die Wiederentdeckung der DEFA-Dokumentarfilme konzentrieren oder auf die „Found Footage“, einer verheißungsvollen Sammlung von Filmen, die ausdrücklich den Trouvaillen des Kompilationsfilm gewidmet war.

Diese Arbeit gereichte den Festivalmachern zur Ehre, nicht aber einem Festival, das zunehmend als Fortbildungsstätte verstanden und genutzt wird. Im Gegensatz zum vormittäglichen Kinderkino, das treue und quietschvergnügte Anhänger fand, zog der Internationale Wettbewerb allenfalls vierzig Prozent der professionellen Beobachter in seinen Bann. Angesichts der kleinen Schar Hartnäckiger, die sich zu jeder Vorführung der insgesamt 68 Wettbewerbsfilme aus 28 Ländern einfand, angesichts der gähnenden Leere in den Vorführungen des Deutschen Wettbewerbs, stellt sich die Frage, in wieweit diese Festivalkonzeption noch Sinn macht. Bedenkt man zudem die Qualität der zum Internationalen Wettbewerb zugelassenen Produktionen, die längst nicht mehr damit zu rechtfertigen ist, daß auch gescheiterte Experimente lehrreich sind, bedenkt man, daß die Chronistenpflicht, dem Deutschen Wettbewerb beizuwohnen, unter Kritikern, die innerhalb von fünfeinhalb Festivaltagen bei einem durchschnittlichen Pensum von 120 gesichteten Filmen, eigentlich ausreichend Enthusiasmus bezeugen, mittlerweile nur noch als Einübung in masochistische Praktiken begriffen wird, scheint eine Revision des Althergebrachten angemessen: Wozu ein Wettbewerb des Neuen, den man komplett wahrnehmen muß, so man die Aufgabe eines Festivals ernstnimmt, während die Lust an den Erkenntnismöglichkeiten des Films sich in Sonderveranstaltungen austobt?         

Die wenigen Wettbewerbsfilme, die sich in die Filmgeschichte einschreiben werden, fanden in der Masse selbstverliebter Experimentalfilme, die fasziniert von den technischen Möglichkeiten das Fehlen einer wie auch immer gearteten Idee von Kunst oder Anti-Kunst überspielen, übereinstimmend Anerkennung. Mit dem sogenannten Großen Preis zeichnete die Jury des Internationalen Wettbewerbs Aleksandr Sokurovs 45-minütigen Film „Östliche Elegie“ aus, einen ebenfalls vergebenen Hauptpreis teilten sich „Zone“ von Takashi Ito und „Cités Antérieures“ von Christian Boustani.

Einen würdigeren Preisträger als Sokurov hätte die Internationale Jury kaum finden können. Mit „Östliche Elegie“ hat der russische Filmemacher, der die Abgründe von Tod und Isolation, von physischer und metaphorischer Verwahrlosung auslotet, ein Gegenbild zu der Hoffnungslosigkeit, der Apathie entworfen, die bislang seinen Filmen innewohnte. Während seinen stillen Antihelden aus „Tage der Sonnenfinsternis“ und „Der zweite Kreis“ nichts beschieden war als die Einsicht, von Gott und den Menschen verlassen zu sein wie von der Illusion des selbstbestimmten Ichs, gestattet sich Sokurov in „Östliche Elegie“ eine Reise ins Paradies der Erinnerung. Daß es ihn traurig stimmt, ist für den letzten großen Melancholiker des Kinos die Voraussetzung für sein Bleiben - wie könnte uns erheitern, was wir verloren haben.

Auf einer Insel, die nach den Regeln der Welt zu Japan gehört, aber von Nebel verschleiert wie das Antlitz einer toten Braut, in der Topographie einer fernen, russischen Kindheit (ver)schwimmt, tastet sich der Filmemacher vor zu den Toten. Während der Lebende uns im Schwarzweiß eines von Regen und Träumen verwaschenen Totenreichs als Schatten erscheint, läßt die Dringlichkeit seiner Bitten die Seelen Gestalt gewinnen. Der Weg ins Innere der Insel, ins Herz der exilierten Erinnerung, die in der Fremde die Heimat zurückgewinnt, ist von steinernen Ahnen gesäumt. Ihnen gleichen die Köpfe der Toten, die sich glattgeschliffen von der Zeit aus dem Dunkel der Vergangenheit erheben wie ein Fels, den das Meer zurückflutend freigibt. Mit jedem Satz, der dem metapherndichten Nebel gilt, in dem sich nicht einmal Angehörigen wiedererkannten, mit jeder Erinnerung an die Einsamkeit, die den Tod überdauert, werden die Seelen sichtbarer, sprechen sie sich licht. Was sich zeigt, wenn man noch Fragen hat, an sich selbst, an die Gemeinschaft der Toten und Lebenden, offenbart eine Kunst, die mit sich nicht fertig ist, die Ungewißheit schenkt in einer Welt voller Antworten.

Der pappmachéerne Protagonist aus Takashi Itos phantasievollen  Animations-, Spiel- und Experimentalfilm „Zone“ verliert seine Lebendigkeit, weil er in den Versprechungen der Photographie eine Antwort auf das schwindende Leben sucht. Der Film beginnt im Realen: Photos werden gemacht, von einer Frau, einem Kind, von Himmel und Erde, vom Umfeld einer Existenz, die der Erinnerung nicht traut. Einmal gerahmt und an einer Wand zum Denkmal erstarrt, fördern die Photographien den Übergang des Films ins Surreale. Der Photograph erscheint als Gipsfigur, die obendrein ihren Kopf eingebüßt hat. Ein Schrein, hinter dessen verschlossenen Türen es rumort, komplettiert die Ausstattung eines Raums, in dem die Photos jede Regung eingefroren haben. Die Zerstörung der Photos und die Zertrümmerung einer Kamera, die gepfählt wird wie jeder Vampyr, setzen die Energien des Schreins frei. Was sich in einem Wirbel aus Licht und Laserstrahlen wieder ins Recht setzt, scheint die Anima der enthaupteten Figur zu sein, eine von ungelenken Kinderbildern inspirierte Seele, die unter dem Diktat der Photopgraphie verdrängt worden ist. Der Film, der von Bewegung lebt, zieht die Perspektivlosigkeit der Photographie zur Verantwortung. In der Zone des Es-ist-gewesen, angesichts der Photos, die den Tod hervorbringen, indem sie das Leben aufbewahren, ist der buchstäblich gefesselte Betrachter ohne Zukunft: Wie das Photo selbst. "Schaffen wir die Bilder ab, retten wir das unmittelbare (unvermittelte) Verlangen", hat Roland Barthes sich angesichts der Janusköpfigkeit der photographischen Momentaufnahme einmal geäußert. Itos Film gibt sich kaum weniger skeptisch. Der Film, der sich der Fixierung auf den photographisch abgepassten Augenblick entgegenstellt, kann seinem "Haupt"-Darsteller auch nicht den Kopf zurückgeben. 

Zuerst publiziert in: Frankfurter Rundschau, 2.5.1996

© Heike Kühn