Für die Erkundung des Films - für die Begegnung mit den Fragen, die er aufwirft, und den Diagnosen, die er riskiert; mit den Ansichten der Welt, die er uns eröffnet, und den lockenden oder beängstigenden Spiegelbildern unserer selbst - für eine solche weitgespannte Erfahrung bietet das aktuelle Kinoprogramm nur beschränkt Gelegenheit. Mindestens kommt es einem so vor, wenn man gerade einen Blick auf eines der großen Schaufenster der Kinematographie geworfen hat, das die Berliner Filmfestspiele von Jahr zu Jahr zusammenstellen. Mit der Fülle nicht zufrieden, berichten die Heimgekehrten indessen, daß es auch diesmal nicht genug war - nicht gut genug, nicht interessant, vielfältig oder innovativ genug. Kaum ein Rückblick, der frei wäre von diesem leicht schimmligen Anflug schlechter Laune. Vielleicht beruht die fast obligate Enttäuschung darauf, daß man aus dem Schaufenster doch nichts mitnehmen kann - außer einer Erfahrung, die man mit sich selbst gemacht hat. Und diese Erfahrung bleibt immer zwiespältig. Filme zehren ja unter anderem von dem Wunsch, Distanzen zu verringern - die Entfernung der Welt, die Fremdheit des anderen. Aber sie erfüllen diesen Wunsch nur um den Preis, auch das eigene Entferntsein zu erkennen. Darüber täuscht die festgeschriebene Erwartung an die Unterhaltsamkeit der Kinoerfahrung hinweg, an etwas, was man haben könnte ohne höhere Kosten als den Eintrittspreis.
Vom Schmerz zu sprechen, ist nicht unterhaltsam. Schlimmer noch, es ist nicht informativ. "Was macht der Schmerz," so begrüßen sich Afrikaner, und so hat Raymond Depardon sein filmisches Tagebuch einer Afrikareise genannt: "Afriques: Comment ça va avec la douleur?" Wer so fragt, hat anderes als eine Reportage im Sinn, die im Fernsehprogramm ihren Platz finden könnte, und lädt sich mehr auf als bloß eine Kamera auf die Schulter. Wenn Depardon seinen Beruf auch als Reporter sieht, über den er früher einen eigenen Film gedreht hat ("Reporters", 1980), so hat er die Arbeit mit der Kamera zugleich zu einer ständigen Selbstbefragung radikalisiert. Dabei entsteht eine ganz eigene Mischung von intellektueller Reflexion - der Bilder, des Blicks, des Subjekts, und ihrer Grenzen - und der spontanen Zeugenschaft des cinéma direct.
Filmbilder sind weniger als die Wahrheit, sagt Depardon. Eine Minute Schweigen von Nelson Mandela, zum Beispiel. Das wiegt im kommunikationsbesessenen Medienzeitalter mehr als ein politisches Statement; es ist ein Moment der Freiheit, den sich die Ikone der Befreiung im Einverständnis mit dem Autor erlaubt. In Südafrika beginnt er den Film, mit einer programmatischen, immer wiederkehrenden Einstellung, einem Panoramaschwenk von 360 Grad - dem Horizont, bis zu dem das Auge und die Kamera tragen, der sie einschließt und dem sie nie entrinnen können. Er ist nicht nur für die Landschaft da, sondern er bezeichnet vor allem das gleichsam materiale Maximum jeglichen dokumentarischen Blicks. Mit diesem an das wahrnehmende Ich gebundenen Blick durchquert Depardon den Kontinent. Und sieht, was durch die Raster der Begriffe und der Nachrichten fällt. Die Folgen der Gewalt, der Rassentrennung, des Hungers, der Armut, des Vergessens. Kinder in Angola, die aus dem Staub einzelne Getreidekörner sammeln, die von der Ladefläche eines LKW rieseln. Und wie sie versuchen, das Geriesel zu erneuern. Die knochige Magerkeit Kranker, psychisch Verwirrter, Sterbender in einer verwahrlosten Station im Süden Sudans. Der Gefängnishof in Kigali, auf dem nach dem Völkermord in Ruanda Tausende auf ihren Prozeß warten; und die Minuten, die die Kamera braucht, um auch hier ihren Kreis zu vollenden. Die Bucht von Mogadischu, die jetzt den Haien gehört, nachdem ein Schlachthof begonnen hatte, seine Abfälle ins Meer zu kippen. Jetzt, sagt Depardon, fressen die Haie die Beine der Badenden.
Bei allem Schmerz ist "Afriques: Comment ça va avec la douleur?" kein Elendsfilm, und schon gar nicht ein Appell. Nicht nur, weil er auch Momente der Gelassenheit, der Bewunderung und der Schönheit enthält. Vor allem versperrt er durch seine in die Bilder eingegangene und im Kommentar Depardons artikulierte Selbstreflexion die Bequemlichkeit einer eindeutigen, sei es emotionalen, moralischen oder politischen Position, die sich aus dem Blick des ungefährdeten Zuschauers speist. Er zeigt vielmehr ein der Wahrnehmung ausgesetztes Subjekt, das einer Moral ungeteilter Aufmerksamkeit folgt - und in ihr seine Grenzen findet: die Grenze des Blicks, der Profession, der biographischen Herkunft. Es ist deshalb nur konsequent, wenn der Film zuletzt zu Depardons Geburtsort zurückkehrt, zum Bauernhof seiner Eltern in Südfrankreich, an dem er zum ersten Mal eine Kamera in die Hand nahm. Von der mediterranen Kaplandschaft zum Mittelmeerraum hat sich der Kreis geschlossen: der Horizont der eigenen Identität.
Die Utopie einer weltverändernden Dynamik, die der sowjetische Avantgardist des dokumentarischen Kinos, Dsiga Vertov, in seinem berühmten filmischen Manifest der zwanziger Jahre vom "Mann mit der Kamera" erwartete, ist bei Depardon der melancholischen Einsicht in die Grenzen des Subjekts unter den Bildern gewichen, Bildern, die Kameras für Leinwände und Bildschirme produzieren. Auch derer, die außerhalb der Imperative ökonomischer Verwertbarkeit entstehen. Eine Hollywood-Produktion wie "Der englische Patient" von Anthony Minghella, mit den Vorschußlorbeeren mehrfacher Oscar-Nominierungen und begeisterter Kritiken in den Wettbewerb der Berlinale und anschließend in die deutschen Kinos gelangt, ist von einem solchen ökonomischen Kalkül gewiß nicht frei. Schon deshalb muß dieser Film die Ökonomie, die Politik und die Geschichte an seine Peripherie verbannen - um der alten, im Kino wiederbelebten Sehnsucht nach einem Entrinnen aus unseren biographisch-historischen Konditionen zu entsprechen. In der geographischen Spannweite zwischen afrikanischer Wüste und europäischem Mittelmeerraum - bei Minghella ist es die italienische Toscana - überschneiden sich "Der englische Patient" und der Film Depardons. Beide dehnen, kinotypisch, den Bild- und Erfahrungsraum weit über den lokalen Gesichtskreis auf eine potentiell "globale" Perspektive aus. Das hat bei der Filmerzählung Minghellas einen historischen (die Situation am Ende des Zweiten Weltkriegs) und einen literarischen Grund (die Buchvorlage des kanadisch-singhalesischen Autors Michael Ondaatje). Aber im Gegensatz zu Depardons Gegenwarts-Dokument beruht die Attraktion des "Englischen Patienten" auf dem Versuch, die romantische Mythologie des Ichs, des der Welt trotzenden Individuums zu erneuern. Das hat ihm schon jetzt Vergleiche mit Michael Curtiz' "Casablanca" und David Leans "Lawrence of Arabia" eingetragen.
Soviel vorauseilende Verklärung, und der Maßstab der literarischen Vorlage mit ihrer subtilen Modernität, erschweren die Wahrnehmung - zum Beispiel dafür, daß der Film mit einer Täuschung beginnt, die erst der Schluß revidiert, ja daß er ganz und gar aus einem Bewußtsein des Dementis entworfen ist. Die Geschichte einer großen Liebe, die er aus den Erinnerungen der Titelfigur Stück für Stück zusammensetzt, aus den Atemresten eines zur Unkenntlichkeit verbrannten, namenlosen Leibes, steht von vornherein unter dem Zeichen des "längst vorbei", als sei sie so entschwunden wie die Schwimmer in der Wüste, von denen archaische Felszeichnungen zeugen. In der Wüste, im metaphorischen Raum der Leere und Grenzenlosigkeit, begegnen sich der ungarische Graf Almasy, Forschungsreisender und Kartograph, und die verheiratete Britin Katherine Clifton, um die Leere mit einem einzigen, Welt und Geschichte verdrängenden Gefühl zu füllen - bis die Katastrophe der Welt auch sie ereilt. Es bleibt das Bild der Schwimmer. Es bleiben die Trümmer einer toscanischen Villa, in der die Krankenschwester Hana den englischen Patienten pflegt, der Singhalese Kip Bomben entschärft, der verratene Spion Caravaggio seine Rache vergißt. Die Zumutungen des Melodrams, des falschen Orients, der historischen Staffage, der Sentimentalität werden durch das Wissen um einen größeren Verlust berichtigt. Deshalb kann Michael Ondaatje sagen, er habe im Film die Essenz seines Romans wiedergefunden.
Nach unserer kulturellen Topographie sind diese beiden Filme "westlich", weil sie Innen und Außen, Welt und Subjekt aneinander messen. Im Programm der Berlinale ließen sich auch zwei bedeutende Zeugnisse des anderen, "östlichen" Blicks entdecken, eines mystischen, kontemplativen Geistes, dem alles Außen nur als Projektion, als eine Seelenlandschaft erscheint. Es ist für unsere Augen eine immer wieder befremdliche, fast schockierende und herausfordernde Erfahrung, daß die filmische Apparatur auch ein Instrument radikaler Entwirklichung sein kann. Der russische Regisseur Aleksandr Sokurov, ein Erbe Andrej Tarkovskijs, hat eine dem Hier und Jetzt entrückte Bildwelt entwickelt, die das Sehen selbst zu einem ungewissen Abenteuer macht - als ob es eines anderen Organs als der Augen bedürfte. "Mutter und Sohn", sein neuster Film, begnügt sich, nicht anders als seine früheren, mit einem Minimum an Stoff. Er variiert und erneuert nichts geringeres als das traditionelle Motiv der Pietà. Die Mutter stirbt, der Sohn erlebt ihr Sterben. Er trägt sie auf eine Bank vor dem Haus, hinaus zu drei Birken, bringt sie zurück; er wandert allein zum Meer und findet sie bei seiner Heimkehr tot. Jeder Atemzug hat Gewicht in diesem Film, jede Bewegung eine unendliche Behutsamkeit; jedes Bild ist von der Empfindung des Abschieds verdunkelt, abgelöst vom realen Dasein, verschoben in eine intensive Zeichenhaftigkeit.
Ähnlich weit reist man nur noch in dem japanischen Film "Der schlafende Mann" von Kohei Oguri. Aber während Sokurov unserem Sehen die Bilder zu entziehen scheint, legt es Oguri darauf an, das Sehen gleichsam über das normale Maß hinaus zu verschärfen. Ein Mann liegt im Koma, von seiner Mutter in einem Raum des elterlichen Hauses gepflegt. Die Menschen sprechen über ihn, erinnern sich, setzen ihr Alltagsleben fort. Es gibt kaum eine Geschichte, jedenfalls keine, die sich aus den von einer narrativen Logik entbundenen Raum- und Zeitsprüngen des Films restlos entschlüsseln ließe. Aber es gibt eine frappierende Schönheit und plastische Präsenz der Bilder, einen unbedingten Stilwillen, der die Logik des Erzählens hinter sich läßt. Die Logik überhaupt. Deshalb kann man sagen, daß in diesen Bildern der Geist des Schlafenden wacht.