Bericht von Charles Martig, Filmbeauftragter Katholischer Mediendienst

Nach der heftigen Debatte in Cannes rund um die Äusserungen von Lars von Trier ist es nun auch am Filmfestival Locarno zu einem kleinen Eklat gekommen. Der Präsident der Internationalen Jury Paulo Branco antwortete auf die Frage, warum bei der Vergabe der Leoparden die politisch positionierten Filme nicht berücksichtigt wurden, mit dem Diktum, dass für ihn alle Filme politisch seien. Dabei holte er an der Medienkonferenz der Preisvergabe zu einem massiven Vorwurf gegen den Schweizer Wettbewerbsfilm Vol spécial aus: "Ce film s’accompagne d’un fascisme ordinaire trop courant dans notre société. Celui-là même qu’il prétend dénoncer. (...) Je responsabilise complètement le metteur en scène d’avoir fait un film fasciste." Diese Aussage ist umso erstaunlicher, als die Ökumenische Jury diesen als besten Film des Wettbewerbs auszeichnete und damit sowohl die gestalterische als auch die gesellschaftspolitische Bedeutung des Films hervorhob.

Vol spécial – der beste Film des Festivals

Joachim Valentin, Präsident der Ökumenischen Jury, sagte gegenüber Schweizer Radio DRS 2: "Nach den Kriterien unserer Jury ist Vol spécial der beste Film im Festival, sowohl gestalterisch als auch bezüglich der humanistischen Werte." Die Vorwürfe von Paulo Branco sind aus der Sicht der Ökumenischen Jury nicht akzeptabel. Valentin sieht die Bedeutung des Films vor allem darin, dass die Problematik der Ausschaffungshaft alle Europäischen Länder betrifft.

Auch die Schweizer Verleiherin Bea Cuttat (Look Now) wehrt sich vehement gegen die Vorwürfe: "Es ist uns unverständlich, wie Vol spécial so gelesen werden kann, wie die Jury dazu gekommen ist, den Film so krass misszuverstehen. Fernand Melgar macht keine militanten Filme, er überzeichnet nicht laut, sondern zeigt engagiert die Situation auf und nimmt somit seine Zuschauer auch ernst." Mit dieser Erzählhaltung befindet sich der Regisseur in der qualitativ hochstehenden Tradition des Schweizer Dokumentarfilms. Nicht die Denunziation des politischen Systems mit starken Thesen steht hier im Vordergrund, sondern die möglichst differenzierte Schilderung des Alltags der Flüchtlinge, die im Ausschaffungszentrum in Genf leben.

Gesellschaftspolitische Dringlichkeit

Auffallend war im Wettbewerb von Locarno, dass neben den stilleren Werken – wie zum Beispiel Abrir puertas y ventanas, mit dem Goldenen Leopard, dem Preis der FIPRESCI und einer lobenden Erwähnung der Ökumenischen Jury der erfolgreichste Film – auch die klar politisch positionierten Filme eine Bedeutung hatten. So etwa die rumänischen Filme oder der niederländische Film Onder ons, der die Situation eines polnischen Aupair-Mädchens in Amsterdam zeigt, das nur knapp einer Vergewaltigung entkommt. Gesellschaftspolitischen Impetus hatte auch Sette opere della misericordia aus Italien, der jedoch gestalterisch nicht ganz überzeugte. Verstörende Wirkung brachte der Film Hashoter / Policeman aus Israel mit sich. Der Regisseur Nadav Lapid zeigt hier eine völlig gespaltene Gesellschaft, die unter einer politischen Desorientierung leidet. Nach einer Geiselnahme erschiessen Polizisten einer Spezialeinheit die jungen Leute, die sich für diesen Akt des Terrors entschieden haben. Doch hat diese Aktion keinen Sinn mehr, weder für die Polizisten noch für die Aktivisten. Dieser Zugang wurde mit dem Spezialpreis der Internationalen Jury ausgezeichnet.

Existentielle Befindlichkeiten

Neben der Tendenz zum Politischen zeigte der Wettbewerb auch eine starke Auseinandersetzung mit Befindlichkeiten. Der US-amerkanische Independent Filmer Mike Cahill entwickelt das Leitmotiv einer zweiten Erde, die am Firmament erscheint. Mit diesem Motiv in seinem Film Another Earth spiegelt er die Befindlichkeit der weiblichen Figur. Rhoda Williams ist eine intelligente junge Frau, die in das Astrophysik Programm des MIT aufgenommen wurde. Sie möchte das Universum erforschen. Ein tragischer Autounfall zerstört ihre Zukunft und die Familie eines brillianten Komponisten. Am Vorabend der Entdeckung einer zweiten Welt geschieht das Zusammentreffen und ihre Schicksale werden unwiderruflich miteinander verknüpft. Schuld, Vergebung und die Möglichkeit, ein zweites Leben auf einem anderen Planeten zu beginnen, sind die Themen dieses markanten Films. Der Independent Film war eine der grossen Entdeckungen im Wettbewerb. Zusammen mit Terri – dem Porträt eines übergewichtigen Jugendlichen an einer Highschool – hinterliess der Independent Film aus den USA einen starken Eindruck in Locarno.

Retrospektive: Vincente Minelli

Das Musical aus dem Hollywood Studio MGM bildete den würdigen Rahmen der filmhistorischen Entdeckungen in Locarno. Was Vincente Minelli hier geschaffen hat, wird erst in der Zusammenschau wirklich erfahrbar. An American in Paris mit Gene Kelly und Leslie Caron ist das bekannteste Werk von ihm. Doch sind Filme wie Gigi (1958), Meet Me in St. Louis (1944) und The Sandpiper (1965) ebenso Meisterwerke des Unterhaltungsfilms. Gene Kelly, Fred Astaire, Dean Martin, Elizabetz Taylor, Lauren Bacall, Kirk Douglas, Anthony Quinn: Die Hauptdarsteller lesen sich wie ein "Who is Who" des Hollywood-Films und zeigen, welche Bedeutung Minelli in der Produktion von Metro Goldwyn Mayer hatte. Damit ist Olivier Père wiederum gelungen, eine jüngere Generation an das klassische Hollywood-Kino heranzuführen.

Vincente Minnelli: Gigi