Festivalbericht von Irina Grassmann

„Es tut mir leid, ich kann ihnen für Juli nur einen Essensgutschein pro Tag geben.“ Fassungslos schaut der äthiopische Familienvater die Sozialarbeiterin an. Und für die Fahr-karte zur Essensausgabe reicht das Geld auch nicht. Selbst sichtlich erschüttert überprüft Colette noch einmal alles in ihrem Computer, wühlt in Papieren auf ihrem Schreibtisch. Dann versucht sie das Unmögliche möglich zu machen. Dass es ihr in diesem Fall an diesem einen Tag im Ansatz gelingt, ist ein kleines Wunder.

Der Film „Les arrrivants“ (The arrivals) von Claudine Bories und Patrice Chagnard zeigt den Alltag in der Pariser Behörde CAFDA, einer Anlaufstelle für asylsuchende Familien. Sozialarbeiter wie Asylsuchende kämpfen dort täglich mit den Mühlen der Bürokratie, Verständnisschwierigkeiten, einem zu kleinen Budget. Dass dabei beide Parteien auch an ihre Grenzen geraten, ist eine Zwangsläufigkeit, die der Film nicht verschweigt. Gerade diese Differenziertheit der Beobachtung ist eine Stärke des Films. Die Ökumenische Jury überzeugte „Les arrivants“ einhellig. Der Film zeigt, “dass Humanität nicht an Geld und Gesetzen scheitern muss“, heißt es in der Begründung. „Die Regisseure porträtieren die Menschen in ihrem Film mit Respekt und Würde. In jeder Einstellung ist die präzise Umsetzung des Konzepts zu spüren.“ Die französische Produktion konnte bei dem 52. Internationalen Festival für Dokumentar- und Animationsfilm gleich drei Preise gewinnen, in-klusive der Goldenen Taube.

Herausragend auch die polnische Produktion „Chemia“ (Chemo) von Pawel Lozinski. Ein Jahr lang filmte der Regisseur Patienten einer Krebsstation bei ihrer Chemotherapie. Und das ist beileibe nicht nur traurig. Es werden Pläne geschmiedet, Rezepte für die Zubereitung von Kohl ausgetauscht, über Alltäglichkeiten gewitzelt. Banales hat hier genauso Platz wie die Frage nach Gott oder dem Sinn. In diesem Raum sind alle gleich, ob Rentner, Hausfrau, Schüler oder Nonne. Hier geht es um jeden einzelnen Menschen mit sei-nem Schicksal. Das zeigt auch die Kamera. Sie bleibt während des gesamten Films ganz nah bei den Personen, nichts Überflüssiges kommt ins Bild. Wenn am Schluss einer nach dem anderen aus dem Zimmer geht, wünscht man ihnen von Herzen, dass sie alle die Krankheit besiegen. „Chemia“ wurde mit dem MDR-Filmpreis ausgezeichnet.

Als ein kleines Gesamtkunstwerk entpuppte sich „Tying Your Own Shoes“ von Shira Avni. Die kanadische Regisseurin porträtiert mosaikhaft vier junge Erwachsene mit Down-Syndrom. Dabei vermischt sie Real- mit Trickfilm. Das Besondere daran: die Zeichnungen sind von den Protagonisten selbst. Denn wer Down-Syndrom hat, kann gut malen, erklärt Katherine im Film selbstbewusst. So erzählen und zeichnen die vier munter und klug ihre Sicht auf die Welt zur eigens für den Film komponierten Musik. “Tying Your Own Shoes“ gewann die Goldene Taube/Kurzmetrage.

330 Filme aus 69 Ländern hatte Festivalleiter Claas Danielsen stolz bei der Eröffnung angekündigt. Neben den Wettbewerbsfilmen gab es ein umfangreiches weiteres Programm mit Sonderreihen wie „This is Africa“, Retrospektiven, Special Screenings und Filmgesprächen. Offensichtlich war das eine gute Zusammenstellung, denn das Festival endete mit einem Besucherrekord.

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