Festivalbericht von Hans Hodel


Es war Mussolini, der am 6. August 1932 in Venedig als Teil der Kunstbiennale die erste „Mostra d’Arte Cinematografica“ eröffnete und damit die Geschichte der Filmfestivals einläutete. Seither wird fast jeden Tag irgendwo auf der Welt ein grösseres oder kleineres Filmfestival durchgeführt, und es ist kein Geheimnis, dass es für die mittelgrossen Festivals kaum genügend gute neue Filme gibt, die ihnen erlauben, ein nach eigenen Kriterien spezifisches Wettbewerbsprogramm gestalten zu können. Das erste Filmfestival von Cannes hätte als antifaschistische Veranstaltung unter Teilnahme einer ansehnlichen Zahl renommierter Stars aus Amerika auf Anregung des französischen Ministeriums für Agriculture am 1.September 1939 eröffnet werden sollen. Der Ausbruch des zweiten Weltkrieges verhinderte diese Pläne, und so fand die Eröffnung des ersten Filmfestivals von Cannes im alten Casino schliesslich ein Jahr nach Kriegsende am 20. September 1946 statt.

Während mehrerer Jahre wurden die Wettbewerbsfilme durch die Herkunftsländer selbst nominiert, und eine dafür zuständige Kommission sorgte bloss für eine nationale Ausgewogenheit. Das Symbol des Festival, die „Goldene Palme“, wurde 1955 eingeführt, aber erst seit den Siebzigerjahren wählt das Festival die ihm geeignet scheinenden Filme aus einer grossen Anzahl von Bewerbungen selber aus. An der Geschichte von Cannes sind auch die Studentenunruhen von 1968 nicht spurlos vorübergegangen. Die von Chabrol, Godard, Truffaut und anderen französischen Filmschaffenden begründete „Nouvelle Vague“, die das Kino der Sechzigerjahre prägte, ist dafür verantwortlich, dass es während des Festivals zu einer starken Solidarisierungswelle mit der Studentenbewegung kam und das Festival abgebrochen werden musste. Deshalb findet die 60. Ausgabe von Cannes erst nächstes Jahr statt. Während die unabhängige Programmschiene „Semaine Internationale de la Critique“ durch den französischen Filmkritikerverband bereits 1962 eingeführt wurde, ist die „Quinzaine des Réalisateurs“ mit renommierten Filmen, die von der offiziellen Auswahlkommission abgelehnt oder übersehen worden sind, eine direkte Folge der turbulenten Ereignisse von 1968. Als Ergänzung zum offiziellen Wettbewerb ist auch die Sektion „Un Certain Regard“ Teil des offiziellen Programms. Seit 1978 vergibt eine besondere  offizielle Jury an einen der in den verschiedenen Sektionen programmierten Erstlingsfilme die „Caméra d’Or“.

Im Spannungsfeld von Show und Kommerz

Cannes gilt vor Venedig und Berlin als das renommierteste Filmfestival, das seinem Publikum die schillerndsten Attraktionen bietet. Es verfügt mit vielen Ständen im Untergeschoss des Festivalpalastes und in Zelten an der Riviera auch über den grössten Filmmarkt, der Produzenten, Promotionsfirmen und Verleihern Gelegenheit bietet, für ihre Filme zu werben und Käufer zu suchen. Das bunte Leben auf der legendären Croisette, der etwa einen Kilometer langen Strandpromenade entlang der Hotelpaläste, die teilweise zu Werbeflächen für die grossen Filme umfunktioniert werden, lockt sowohl Starlets, Schausteller wie schaulustige Touristen an. Da können aber auch schon mal südkoreanische Cinéasten einen Sarg durch die Menge tragen, weil sie die Unabhängigkeit ihres Kinos durch die Macht Hollywoods bedroht sehen.

Am meisten Aufmerksamkeit aber findet jeden Abend der Aufmarsch der Filmprominenz jeglicher Herkunft, die im Blitzgewitter der Fotografen über den ominösen roten Teppich die 24 Stufen zur Galavorführung im „Salle Lumière“ des Festivalpalastes hochsteigt. Immer wieder postieren sich unermüdliche Fans schon früh am Vormittag mit Stühlen und Leitern auf der gegenüberliegenden Strassenseite auf, um sich den besten Ausblick nicht verbauen zu lassen und einen Hauch von Glamour zu sichern. Dass selbst die Mitglieder der Ökumenischen Jury (es gibt sie seit 1974) und ausgewählte Vertreter der hinter ihr stehenden Organisationen und der Ortskirchen im vorgeschriebenen Tenue de Soirée oder Anzug bzw. Smoking während des Festivals einmal zu diesem „Montée des marches“ eingeladen sind, gilt als Ausdruck der offiziellen Anerkennung und Wertschätzung durch das Festival. Aber die Jury wird auch vom Stadtpräsidenten von Cannes zu einem Apéro empfangen und feiert Gottesdienste mit den Ortskirchen. Und täglich sieht sie wie viele der annähernd 4000 akkreditierten Medienschaffenden vier bis fünf Filme, um schliesslich nach zahlreichen Diskussionen darüber zu entscheiden, welchem Film sie ihren Preis geben will.

Eine Programm mit politischen Akzenten

Show und Glamour können nicht darüber hinweg täuschen, dass die Programmierung des Festivals immer auch von politischen Gesichtspunkten geprägt ist. Filme sind nicht nur zur Unterhaltung des Publikums geschaffen; sie verstehen sich auch als Sensoren für die gesellschaftliche Befindlichkeit und politische Wirklichkeit. Dieser Aspekt ist dieses Jahr deutlicher geworden als erwartet. Hinzuweisen ist etwa auf den Film „United 93“ von Paul Greengrass, der bereits diese Woche in den Schweizer Kinos startet. Im Mittelpunkt steht einerseits jenes Flugzeug, das am 11.September 2001 auf einem Acker in Pennsylvania zerschellte, weil zahlreiche Passagier die Terroristen zu überwältigen versuchten, und andererseits die Ratlosigkeit der zuständigen Flughafenbehörden. Im Schatten dieses Ereignisses steht auch der Film „World Trade Center“ von Oliver Stone, der im Herbst in den USA Premiere haben soll, und von dem am Rande des Festivals 25 Minuten vorgeführt wurden.

Von einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, erzählt auch der heftig kritisierte Film „Southland Tales“ des jungen amerikanischen Regisseurs Richard Kelly, der mit apokalyptischen Versatzstücken die Situation in Los Angeles schildert, wo nach einer Serie terroristischer Atomschläge das Militär das Land kontrolliert. Ob die Jury unter dem Präsidium des Chinesen Wong Kar-wai aus Enttäuschung über den fehlenden frischen Wind im Wettbewerb mit Ken Loach’s Film „The Wind that Shakes the Barley“ ausgerechnet jenen mit der klarsten politischen Botschaft mit der Palme d’Or ausgezeichnet hat, oder ob sie die Gelegenheit wahrnehmen wollte, den Altmeister zu ehren, bleibe dahin gestellt. Bei aller Bewunderung für das klare Engagement von Ken Loach: Sein neuer Film, der im Herbst bei uns in die Kinos kommt, ist zwar eindrücklich, aber doch auch konventionell gemacht.

Demgegenüber darf der Preisträger der Ökumenischen Jury, „Babel“ des Mexikaners Alejandro Gonzalez Inarritu, als innovatives Werk bezeichnet werden, das aus einer globalen Perspektive heraus menschliche Geschichten aus Marokko, Tokio und der amerikanisch-mexikanischen Grenze miteinander in Beziehung setzt. Der Katalogtext zum Film bezieht sich zwar auf die biblische Geschichte von der babylonischen Sprachverwirrung, aber es sind, wie die Ökumenische Jury schreibt „Vorurteile, Angst und Einsamkeit“, welche die Menschen voneinander trennen. „Babel“ war in der Mitte des Festivals nach „Volver“ von Pedro Almodovar und „Lights in the Dusk“ von Aki Kaurismäki ein Höhepunkt und wurde nicht von ungefähr, mindestens von der deutschschweizerischer Presse, als einer der besten Wettbewerbsbeiträge bezeichnet. Er soll im Spätherbst bei uns ins Kino kommen.