Festivalbericht von Charles Martig, Präsident der Jury

Es ist erstaunlich, wie die gesellschaftliche Befindlichkeit der Unsicherheit und des Sterbens sich in den Filmen der Berlinale gespiegelt hat. In >My Life without me< erfährt die dreiundzwanzigjährige Ann - Mutter von zwei Kindern - von ihrer tödlichen Krankheit und schreibt eine Liste all jener Dinge, die sie noch erledigen möchte. Die katalanische Regisseurin Isabel Coixet begleitet diese letzten Tage Anns mit Warmherzigkeit und ganz ohne Sentimentalität. Der Franzose Patrice Chéreau zeigt in seinem eindrücklichen Film >Son frère< die ausgemergelte Gestalt eines jungen Mannes, der an einer seltenen Bluterkrankung leidet. Auf dem Krankenbett wird er vom Spitalpersonal rasiert und auf die Operation vorbereitet. Die Kamera fängt unvergessliche Bilder ein und nimmt dabei die Perspektive des jüngeren Bruders ein, der diese Szenen des Verfalls verfolgt. Ein Schwerkranker wird seiner Intimität beraubt und kann sie erst wieder im Tod zurückgewinnen.

Migration als Frage des Überlebens

An dieser Grenzerfahrung des Todes arbeitet auch der Brite Michael Winterbottom und verschärft den Blick für die politische Wahrnehmung der Migrationsfrage. Die dokumentarisch eingeführte Geschichte von Jamal, einem jugendlichen Afghanen, der sich zusammen mit seinem Bruder vom pakistanischen Grenzgebiet bis nach London durchschlägt, überzeugt durch die Einfachheit und Direktheit der Bilder. Hier gibt es keine Verwicklungen, Wendepunkte in der Geschichte, keine Nebenfiguren, kaum eine Entwicklung ist spürbar. Nur die Strapaze dieser lebensgefährlichen Reise steht im Mittelpunkt. Diese Reduktion auf das Wesentliche ist das, was den Film so eindringlich macht. Bald ist man als Zuschauer und Zuschauerin gepackt von diesem Film, als gehe es um das eigene Leben. Jamals Begleiter erstickt im Container, doch der Junge erreicht London und telefoniert nach Hause. Sein Asylantrag wird angenommen, doch bei Erreichung seines 18. Lebensjahres muss er das Land wieder verlassen. Hier trifft sich die politische Dimension des Films mit der existentiellen Bedrohung des Lebens. Im Umfeld der Vorbereitungen auf den Irakkrieg, der grossen Friedensdemonstrationen, die in Berlin 500'000 Menschen zusammenführte, war dieser Preisträger, der den Goldenen Bären, den Friedenfilmpreis und den Preis der Ökumenischen Jury gewonnen hat, ein wichtiges Signal. Es gibt ein Kino, das ohne die Tricks aus der Traumfabrik auskommt und sich auf die gesellschaftliche Realität bezieht.

Heilende Geschichten aus dem Alltag

Still aus "Knafayim Shvurot" ("Broken Wings")
In den beiden Sektionen Panorama und Forum des jungen Films war unter anderem der Konflikt zwischen Israel und Palästina präsent. Interessant ist dabei, dass die Filme nicht so sehr auf den konkreten politischen Kontext eingehen, sondern alltägliches Leben zeigen. Im Zentrum steht die Frage, wie es in dieser gespaltenen Gesellschaft möglich ist, ein friedliches Leben zu führen. >Broken Wings< von Nir Bergman, ein erstaunlich stilsicherer Erstlingsfilm (Bild rechts), erzählt von einer alleinstehenden Mutter, die mit ihren vier Kindern nicht mehr zurecht kommt. Die Arbeit als Hebamme im Spital ist anstrengend. Die Familie ist durch den Tod des Vaters traumatisiert und die Kinder versuchen, diese einschneidende Erfahrung zu verarbeiten. Obwohl der Konflikt zwischen Palästinensern und Israeli nicht vorkommt, ist er doch indirekt stets präsent: in der fragilen Familiensituation, in der Krise der Figuren, die in einer verunsicherten Gesellschaft heimatlos geworden sind. In >Lettere dalla Palestina< versucht eine Gruppe von italienischen Filmschaffenden in zehn Geschichten, Bilder aus dem Alltag in Palästina zu übermitteln. Die übergreifende Idee dieses Projektes ist es, den Schmerz und das Leid eines Volkes auf metaphorische Weise in etwas Positives zu verwandeln. Die Geschichten oder poetischen Beschreibungen wollen einen Heilungsprozess möglich erscheinen lassen. Der Film wurde zwischen dem 3. und 10. Juni 2002 ohne Unterbrechung an den gefährlichsten Orten im besetzten Territorium und in Israel gedreht, unter anderem in Jerusalem, Gaza, Ramallah und Tel Aviv.

Polnische Passion

Die Ökumenische Jury hat im Forum mit >Edi< einen aussergewöhnlichen Film entdeckt, der sich den Ärmsten in der polnischen Gesellschaft zuwendet. Edi und Jureczek arbeiten als Schrottsammler. Sie leben in einfachsten Verhältnissen, sind beide Alkoholiker und schlagen sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Durch eine tragische Verstrickung wird Edi von zwei gewalttätigen Alkohollieferanten verdächtigt, deren Schwester vergewaltigt zu haben. Edi erleidet Gewalt und Schändung, wehrt sich jedoch nicht gegen die schrecklichen Übergriffe. Er behält seine Würde und erstaunt durch einen radikalen Verzicht auf Gewalt. In dieser Figur wird ein Weg der Passion sichtbar, der christologische Züge annimmt. Der junge Regisseur Piotr Trzaskalsi hat mit dem lowbudget Film eine einfache und sehr berührende Geschichte auf die Leinwand gebracht, die Lebensweisheit und eine Grundhaltung des Verzeihens verdichtet. Der Skandal des vollständigen Gewaltverzichtes wird hier erfahrbar.