Ein Bericht der Mitglieder der Ökumenischen Jury, redigiert von Hans Hodel

In täglichen Frühstücksgesprächen und bei anderen Gelegenheiten reflektierten die Mitglieder der Ökumenischen Jury den Inhalt der am Vortag gesehenen Wettbewerbsfilme, und in einer Schlussrunde diskutierten sie einvernehmlich ihre spezifische Qualität im Blick auf die Preisfindung. Die Tatsache, dass in einer ersten Runde jeder der zehn Filme bei aller formal-ästhetischen Unterschiedlichkeit und Eigenständigkeit positiv gewürdigt wurde, zeugt davon, dass das Festival zu seinem 20. Geburtstag mit einer herausragenden Selektion von deutschen Erstaufführungen bedacht war. Einige der Filme waren freilich bereits in Cannes, Karlovy Vary, Locarno, Riga und Warschau im Programm und zum Teil mit Preisen versehen. Another Sky (Drugoye Nebo) von Dmitry Mamuliya (Russland 2010) war in Karlovy Vary zum Beispiel mit dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichnet worden und fiel deshalb in Cottbus gemäss Reglement aus den Rängen. (Umso schöner, dass er mit dem Preis der Internationalen Jury ausgezeichnet wurde). Es war folglich für die Jury auf den ersten Blick nicht einfach, sich auf einen einzigen preiswürdigen Film zu einigen, wie es vom Festival im Interesse eines speditiven Ablaufs der Preisverleihung gewünscht war.

Schauplatz Bor in Serbien

Das ostserbisch-serbische Bor, eine Stadt, deren Kupfertagebau teilweise stillgelegt wurde, war der Handlungsort gleich zweier höchst unterschiedlicher Wettbewerbsfilme: zum einen eine antiken Tragödie im modernen Gewand, Beli, Beli Svet (White, White World) von Oleg Novkovic (Serbien/Deutschand/Schweden 2010), zum anderen eine Geschichte um Sorglosigkeit und Verantwortung, Tilva Ros von Nikola Lezaic (Serbien 2009). Beide Filme verweben ihre persönlichen Geschichten mit der sozialen Misere der niedergegangenen Region.

Die Menschen der griechischen Tragödie verstricken sich unschuldig schicksalhaft in Schuld. Vater und Tochter werden ein Paar, ohne von ihrem Verwandtschaftsverhältnis zu wissen Der Vater wird geblendet; die wissende Mutter übernimmt für die gewalttätig gewordene Tochter die Schuld, damit (und hier bricht Beli, beli svet das antike Schema) die unschuldig schuldig gewordene schwangere Tochter eine Zukunft hat. Der Regisseur Oleg Novkovic erzählt die Geschichte dieser drei Protagonisten, kunstvoll eingebettet in ihrem facettenreichen Umfeld, realistisch in einer dichten Intensität und hohen Dramatik. Diesen Realismus verlässt er, wenn seine Figuren ihre innere, unsichtbare Befindlichkeit im Gesang ausdrücken. Mit diesem Stilwechsel hält der Film zwei Wirklichkeitsebenen auseinander. Im griechischen Drama hat der Chor eine vielfältige Funktion. Hier wird er in immer länger werdenden Sequenzen behutsam eingeführt. In der Schlusseinstellung nimmt er das gesamt Bild ein; sein Klagelied vor der geschundenen Landschaft der Mine hebt die persönlichen Geschichten im Allgemeinen auf. Ein beeindruckender Film.

Wie in Beli, beli svet symbolisiert die vergewaltigte Natur in Bor auch in Tilva Ros den geschundenen Menschen. Die beiden Jugendlichen Stefan und Toda verbringen den letzten gemeinsamen Sommer ihrer Jugend in ihrer Heimatstadt Bor, deren gähnend leere Fabrikhallen nur mehr vage an den einstigen Wohlstand der florierenden Bergbaustadt erinnern. Als Mitglieder der Skatergruppe Tilva Roš genießen sie möglichst jede Minute ihres Lebens. Für sie gibt es nur ihre Freundschaft und das tägliche Austesten ihrer persönlichen Grenzen, indem sie Mutproben in Form von Jackass-Imitationen bestehen müssen. Ihre scheinbar unzerstörbare Verbindung wird auf die Probe gestellt, als eine Schulfreundin aus Paris zurückkehrt und den Sommer in Bor verbringt. Ohne es zu bemerken, verfallen beide in einen Konkurrenzkampf, der in immer gefährlich werdenden Stunts ausartet. Sie versuchen sich gegenseitig zu testen. Dabei spielt Schmerz(-empfinden), Wut, das Unausgesprochene und Angst, den anderen an das Mädchen zu verlieren, eine große Rolle. Dies alles manifestiert sich in den Stunts und dem Umgang miteinander. Die Gefühle pendeln zwischen gemeinsamem Lachen und Gewaltaktionen. Die scheinbare, nach außen getragene Leichtigkeit und das vorgespielte Desinteresse am äußeren Geschehen werden durch die städtischen Proteste der Arbeiterbewegung kontrastiert.

Die Grundstruktur dieses Films hat man schon x-mal gesehen: der Verlust der Jugend und Eintritt ins Erwachsenenleben. Haften bleiben die riskanten Aktionen der Scaters und die Selbstverletzungen und nicht zuletzt der Umgang mit den miniturisierten Videokameras. Gegenwart wird nicht mehr unmittelbar wahrgenommen und später davon erinnernd erzählt, sondern mittelbar durch das Display der Kamera und somit ihrer Ästhetik. Erzählen wird vom Abspulen des Bandes ersetzt.

Ein aufschlussreiches Publikumsgespräch

Im Publikumsgespräch erzählt der junge Regisseur, dass er "einfach einen Film über die unbeschwerte Jugendzeit" machen wollte; einer Zeit bevor sich Wege trennen, weil der eine in die Berufswelt eintritt, während der andere an einer entfernten Universität eine Ausbildung absolviert. (Durch seine starken und authentischen Protagonisten ist ihm das überaus gelungen.) Fragt man nach der Echtheit der Stunts und der Gespräche im Allgemeinen, wird man nicht die Antwort eines Schauspielers, sondern die eines Jugendlichen bekommen, der sich selbst spielt. 80% des Filmes beruhen nicht auf einem Drehbuch. Die Authentizität und das Spiel der Jugendlichen mit der Kamera, der Kamera hinter der Kamera und den nachgeahmten Jackass-Stunts, geben aber nicht nur ein Bild der Unbeschwertheit wieder, sondern werfen Fragen nach den Darstellungsmöglichkeiten von Jugendlichen und ihrer Gewaltbereitschaft auf. Wie erlebt man den absichtlich herbeigeführten Schmerz? Ist er nur Nachahmung einer bekannten Fernsehserie oder mehr? Erfahren diese Burschen so ihre Grenzen oder ist alles nur ein Spiel, weil man es ja doch nur durch das Objektiv einer Kamera sieht und somit das Sehen in seinem Sinne verändern kann?

Der Film hinterlässt nicht nur eine lange anhaltende Gänsehaut wegen der Stunts, sondern auch andere länger bleibende Spuren: Ein Film, der wirklich gelungen ist und mehr unter die Lupe zu nehmen scheint, als der Regisseur eigentlich wollte. Nichts ist eben so real wie das Leben selbst!

Mutter Teresa der Katzen (Matka Teresa od kotow) von Pawel Sala, Polen 2010

Der grausame Mord zweier Jugendlicher an ihrer Mutter wird gegenläufig zum effektiven Verlauf des Geschehens erzählt, einer Geschichte, die auf einer wahren Begebenheit in Polen beruht: Die frei erfundene filmische Entwicklung ist der Versuch, der Frage auf den Grund zu gehen, ob es eine (plausible) Erklärung für ein derart grausiges Verbrechen gibt.

Artur und Martin leben zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Cousine, die sich um die jüngere Schwester kümmert. Ausgangspunkt ist der grausige Fund der Leiche durch die Cousine und die Verhaftung der Brüder. Woche für Woche wird über die Dauer von eineinhalb Jahren die tragische Familiengeschichte in ihrer Chronologie rückwärts erzählt. Man erfährt vom Militäreinsatz des Vaters, glücklichen Zeiten und vielen kaum wahrnehmbaren Veränderungen in der Psyche der Familienmitglieder. Es kommt zum Grand finale zwischen dem kriegsgeprägten Vater, der überforderten Mutter und dem im Parapsychologischen nach fehlendem Halt suchenden Sohn Artur.

Hervorzuheben ist die einmalige Erzähldramaturgie, die sich etwas Großes vorgenommen hat: schlüssig die Hintergründe dieser Tat zu zeigen. Über weite Strecken ist die Geschichte glaubwürdig, hinterlässt aber an der einen oder anderen Stelle Fragen. Hier scheint es, hat sich der Regisseur übernommen, zu wenig Zeit genommen, die Geschichte bis zum Schluss zu erzählen. Auf der anderen Seite gibt er an, unsere fortwährende Suche nach Erklärungen und Kausalität in Frage stellen zu wollen. Er versucht unsere kausalen Raster als Illusion zu entlarven. Ausgehend von diesem Aspekt, ist der Film außerordentlich gelungen, indem er zeigt, dass Erlebtes, Erfahrungen und psychische Verletzungen an nicht vorhersagbarer Stelle und zu unvorhersagbaren Zeiten an die Oberfläche treten. Der Film beschäftigt sich bemerkenswert unaufdringlich mit dem Thema der Rückkehr aus Krisen- und Kriegsgebieten und das Unausgesprochene, das fatal enden kann.

Kajínek von Petr Jákl, Tschechien 2010

Kajínek war anfangs der 90er Jahre in Tschechien der meistgesuchte Terrorist und wurde wegen Doppelmordes zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Eine junge, hoch motivierte Anwältin ist von seiner mysteriösen Person fasziniert und setzt alles daran, seinen Fall wieder aufzurollen. Es gibt Ungereimtheiten bei den damaligen Untersuchungen und sie behauptet, neue, ihn entlastende Beweise zu haben. Als sie endlich seine Zustimmung findet und den Fall vor Gericht bringt, stößt sie nicht nur auf reges Medieninteresse, sondern auch auf gefährliche Widersacher. Ihre Faszination, die in eine Art Obsession ausartet, wird zu einem gefährlichen Spiel, das nicht nur ihr Leben, sondern auch das ihrer Liebsten bedroht. Als Kajínek der Ausbruch aus dem Hochsicherheitsgefängnis gelingt, werden sie Verbündete, die einem unsichtbaren Gegner aus höchsten Kreisen gegenüberstehen. Was zu Beginn wie ein Karrieresprungbrett für die Anwältin zu sein scheint, entpuppt sich als ihr persönlicher Kampf, indem es Kajínek, der einst zu ihrem Held wurde, zu rächen gilt. Jeder verdient ein faires Verfahren!

Ein Film, der für die großen Kinoleinwände dieser Welt gemacht ist. Großes Unterhaltungskino, das sich mit den Spy-Filmen Hollywoods messen lässt. Der Erfolg des Filmes lässt sich auch auf die schauspielerische Leistung des Protagonisten zurückführen: eine charismatische, ausdruckstarke Figur, die durch seine wortkarge Art die Spannung über die gesamte Filmdauer aufrecht erhält. Auch auf die Auflösung der Beweggründe der jungen Anwältin darf man gespannt sein und sie als wirklich innovativ betrachten. Ein Mörder, der unbewusst Rache für sie nimmt, sie selbst vor dieser bewahrt und so zum Helden wird. Der moralische Satz: Jeder hat ein faires Verfahren verdient, wird am Ende von der Tatsache verdrängt, das jeder seinen eigenen Richter hat und auch die Großen von den Größeren gefressen werden. Hier wird Kritik am tschechischen Rechtssystems angedeutet, die aber hinter der Geschichte der Figur Kajínek eher klanglos verhallt.

Svet-Ake von Aktan Arym Kubat, Kirgisien/Deutschland/Frankreich/Niederlande 2010

Tradition, Gegenwart und Zukunft. Wie schwierig dieser Dreischritt ist, davon erzählt Svet-Ake (Der Dieb des Lichtes/The Light Thief). Der Regisseur erzählt vom Umbruch auf dem Lande im postsowjetischen Kirgistan. In schönen Bildern, vor allem aber witzig. Die Metapher für den Kampf ist die Elektrifizierung, Hier greift der Regisseur auf die sowjetische Geschichte zurück. Unter Stalin belegte der Erfolg der Elektrifizierung der UdSSR den von den Sowjets propagierte Fortschrittlichkeit des Sozialismus. Aber nicht an der brutalen Wucht Stalins orientiert sich der Dieb des Lichtes, sondern er will es einfühlsam in kleinen Schritten Strom für alle erreichen, auch gegen die durch ihr äußere Erscheinung als schmierig gekennzeichnete politische Klasse aus der Stadt und ihrer örtlichen Klientel. Das behutsame Vorgehen findet im klapprigen Windrad und im Fahrraddynamo seinen bildlichen Ausdruck.

Die Versuchung des Heiligen Tony von Veiko Ounpuu, Estland 2010

Estland ist im Umbruch, befreit vom sowjetischen Gefängnis und keiner weiss um den wirklichen Wert der neuen Freiheit. Im besten Mannesalter stellt sich Tony selbstkritische Fragen und stellt damit sein ganzes Leben in Fragen(n). Zu Beginn ein Hinweis auf Dantes dunklen Wald, Zeichen des Infernos aus der Göttliche Komödie. Der heilige Antonius von Hieronymus Busch und Pablo Picasso irrlichtern aus den Schatten, kein goldenes Zeitalter, trotz aller Versprechen nicht, ganz normale Zeiten der Niedertracht, der Einsamkeiten, der quälenden Sehnsüchte. Und am Ende hat Tony alles verloren, seine Frau, seine Familie, seine Arbeit, aber nicht sein  Sosein. Ein in gestochen scharfem Schwarzweiss gedrehten, von surrealistischen Traumbildern getragenem Film, der immer wieder archetyptische Dilemmas des Unterbewussten spiegelt (Macht-Ohnmacht, Reichtum-Armut, Leben-Tod und Moral) und u.a. an Luis Bunuel erinnert. Am Film Festival "Arsenals" in Riga mit dem Preis als bester baltischer Film und auch von der INTERFILM-Jury ausgezeichnet, musste sich in Cottbus der Hauptdarsteller Taavi Ealma mit dem Darstellerpreis zufrieden geben.

Preis der Ökumenischen Jury für Pál Adrienn

Mit Pál Adrienn von Ágnes Kocsis (Ungarn/Niederlande/Österreich/Frankreich 2010) war ein herausragender Film im Programm, der u.a. in Cannes bereits mit dem Fipresci-Preis ausgezeichnet worden ist. Er erzählt die Geschichte der dreissigjährigen schwergewichtigen Piroska, die als Krankenschwester in einem Spital arbeitet, wo schwer kranke Menschen gepflegt werden. Eines Tages erinnert sie der Name einer verstorbenen Patientin an ihre beste Freundin aus der Kindheit, zu der sich die Beziehung vor zwanzig Jahren verloren hatte. Bald schon beginnt eine obsessive Suche nach lange verschüttetem Glück. Die Gespräche mit ehemaligen Nachbarn und Schulkameraden sind von der Idealisierung der Vergangenheit geprägt, obwohl sie völlig unterschiedliche Wahrnehmungen und Bilder zutage fördern. Die ökumenische Jury verlieh diesem Film ihren Preis "für die formal überzeugende und bis zur Unerträglichkeit konsequent erzählte Geschichte einer Frau, die durch einen äusseren Anstoss sich selber wieder entdeckt", und wie füglich ergänzt werden kann, "sich selber wieder lieben lernt". Am Ende muss sie keinen Kummer mehr mit Süssspeisen kompensieren…

Ökumenischer Empfang in der Schlosskirche

Erneut fand in der Schlosskirche im Zentrum von Cottbus ein vom Ökumenischen Arbeitskreis Cottbus zusammen mit dem Film Festival organisierter sympathischer, gut besuchter Empfang statt, an welchem Pfr. Volker Mihan die Festivalleitung, die Mitglieder der Ökumenischen Jury und die Festivalgäste und Gäste der lokalen Kirchen begrüsste. Nach einem Kurzreferat des Jurypräsidenten Johannes Horstmann, in welchem er an konkreten Beispielen die Entscheidungskriterien der Ökumenischen Jury erläuterte, führte eine Gruppe Jugendlicher einen Kurzfilm zum Thema "Abbruch" vor, und Festivaldirektor Roland Rust überreichte nach einer persönlichen Referenz an die kirchliche Filmarbeit den Cottbus Discovery Award, gestiftet von Synchro Film, Video&Audio.