Publikumsmagnet in zwei Universitätsstädten, Expertentreffpunkt und Filmmarkt: Dieses Festival hat viele Gesichter und verändert gerne sein Profil. Diesmal war der chinesische Regisseur Zhang Yimou da, der seine Meisterwerke zeigte: Seine persönlichen Auftritte gaben der Reihe seiner streng stilisierten Parabeln und dynamischen Stationenwege zusätzliche Verbindlichkeit. Prominenz taucht in Mannheim-Heidelberg nur in den Retrospektiven auf. Neues von Neulingen, das ist hier die Devise, mit allem Reiz und allen Risiken dieser Spezialisierung. Im Premierenwettbewerb wie in der Reihe International Discoveries hofft der rührige Festivaldirektor Michael Kötz, unter dem Nachwuchs von heute große Namen von morgen vorzustellen, ein Versprechen, dessen Erfüllung sich Zeit lässt.
Jedenfalls aber lohnt es sich, in der Konkurrenz – diesmal dreißig Titel – Talente zu entdecken. So fiel als Glanzstück des diesjährigen Wettbewerbs Zwischenland (Tussenland) auf, der erste Spielfilm der niederländischen Dokumentaristin Eugenie Jansen, der den Preis der ökumenischen Jury erhielt. Mit sprödem Humor stellt die Regisseurin zwei Kulturen, zwei Hauptfiguren und zwei Arten Einsamkeit vor Augen. Der junge sudanesische Immigrant Majok leidet entwurzelt unter der Fremde, der verwitwete Jakob fühlt sich als indonesischer Kriegsveteran und Greis ausgegrenzt im eigenen Land. Der sehnsüchtige Halbwüchsige und der zornige alte Mann leben am gleichen niederländischen Ort in zwei getrennten Welten. Wenn sie eines Tages aufeinander stoßen, ist dies gerade im Zögern und Stocken der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Grobkörnige Rahmenpassagen vergegenwärtigen vor mythischen Horizonten Majoks sudanesische Traditionen, Rückblenden deuten auf das Kriegstrauma des Alten. Im Zusammenspiel so verschiedener Perspektiven zeigt die Regisseurin das seltene Talent, offenen dokumentarischen Blick und prägnante Komposition zu verbinden. Eine Ausnahme unter Filmen mit verwandtem Sujet, gleitet Zwischenland nie ins Plakative ab. Eugenie Jansen bringt das Kunststück fertig, einen Dunkelhäutigen und einen Weißen zusammenzuführen - ohne Schwarzweißmalerei.
Johnny Gogans irischer Film Mapmaker vermisst neu eine nordirische Grenzregion: Ein Kartograph reist ein, um nach dem Ende der Terrorwelle dem Tourismus Wege zu bahnen. Doch alte Rechnungen zwischen Katholiken und Protestanten, deren Rivalitäten trotz des offiziellen Waffenstillstands noch in der Luft hängen, ziehen alsbald auch den Neuankömmling in Mitleidenschaft. Die Topographie wird zum Tatort, die Szene zum Tribunal. Gogan entwirft einen Politthriller mit Versatzstücken, aber originellem Ansatz: Implizit geht es auch um Methoden des Filmemachens. Der scharfsichtige Blick des Kartographen entspricht dem des Filmregisseurs, der Geschehen und Schauplatz koordiniert, den die Realität manchmal narrt und zur Revision seiner Vorstellungen zwingt.
Landschaftserkundung, persönliche und politische Geschichte miteinander zu verknüpfen, das verspricht auch Andreas Pantzis in Reise des Evagoras (To tama), jedoch ohne sein Versprechen einzulösen. Wenn da in den vierziger Jahren ein Bauer zum Dank für die Geburt des Sohnes quer durch Zypern zum Kloster des heiligen Andreas wandert, trotzt er zunächst Invasoren und Besatzern. Doch statt unterwegs Krieg und Riten zu kontrastieren, vergisst der Regisseur die Zeitgeschichte bei zeitlosen erotischen Ausschweifungen des Pilgers. Der ambitionierte Ansatz des Films geht unter in Trivialitäten, Sex und Sightseeing. Geglückt ist György Palfis Mikrokosmos Hukkle. Diese ungarische Symphonie eines Dorfs sammelt dialog- und kommentarlos Eindrücke von Land und Leuten. Kontrapunktisch zur Harmonie bringen Ermittlungen eines Mordes beunruhigende Momente ins Panorama: Hukkle, für den Oscar eingereicht, entpuppt sich als verschmitztes Weltbild im Miniaturformat.
Wie inszeniert man den Aufstand vernachlässigter Kinder gegen gedankenlose Erzeuger? Christophe Ruggia errang mit dem effektversessenen französischen Aufschrei Les diables den Hauptpreis des Festivals, auch wenn sein gesellschaftskritischer Ansatz in sich überstürzenden Action-Szenen mit Schusswechseln, brennenden Häusern und kollidierenden Autos bald untergeht. Strenge visuelle Ambitionen hat hingegen der japanische Film Glowing Growing (Lobende Erwähnung der Ökumenischen Jury), bei dessen Hauptfiguren jeder Impuls zur Rebellion sich in Resignation verkehrt. Kei Horie begleitet die beiden zum internetgesteuerten Massenselbstmord ans Meer. Am Ende ästhetisiert der Regisseur das Grauen nach Mustern von Paul Schraders Mishima. Die Auseinandersetzung mit dem todessüchtigen Sog überlässt er dem Zuschauer. Ganz andere piktographische und existen-tialistische Traditionen zitiert Andrzej Jakimowskis herausragender polnischer Film Squint Your Eyes (Zmruz oczy). Das sommerliche Intermezzo führt einen Aussteiger auf Zeit und eine kleine Ausreißerin zusammen. Nicht zufällig ähnelt das verlassene Landgut, das der frühere Lehrer bewacht, einem Western-Fort: Er bewährt sich als lonesome rider neuen Typs, inmitten von Betriebsamkeit und Korruption ein unbestechlicher Zuschauer. Wenn am Ende der Erinnerungsfilm im Kopf des Duos mit den Leinwandsequenzen kongruent wird, ist Squint Your Eyes auch Reflex und Reflexion des filmischen Blicks.
Brisante politische Konfliktfelder erschlossen zwei halbdokumentarische Filme außerhalb des Wettbewerbs. Ticket to Jerusalem tut mitten im palästinensischen Alltag einen liebenswerten Narren und närrischen Liebhaber auf, der unter schwierigsten Bedingungen weiterhin sein Wanderkino betreibt. Rashid Masharawi begleitet den mit Equipment bepackten Kinofanatiker, der keine Feindbilder pflegt, auf dessen Wegen zu seinen Vorführungen. Immer wieder registriert der Regisseur, wie an ständig veränderten Kontrollpunkten Einreise- und Einfuhrbestimmungen wechseln. Und allein dabei schon steigern sich die Einzelbeobachtungen zum Panorama explosiver Krisen.
In Les beaux lendemains de Téhéran begnügt sich der nach Frankreich emigrierte Reza Khatibi keineswegs mit iranischen Impressionen. Er reflektiert zugleich Arbeitsbedingungen und kontroverse Zielvorstellungen seines offiziell geduldeten, doch vielfach behinderten französischen Fernsehteams. Khatibi lässt die Bilder sprechen. Wenn etwa telefonische Recherchen an der Universität ergeben, dass ein befreundeter Romanist dort nicht mehr arbeitet und spurlos aus allen Verzeichnissen verschwunden ist, wird der Schock allein von der Kamera kommentiert, die auf Chomeinis großes Foto neben dem Telefonapparat schwenkt. Wenn mutige Studentinnen sich in Interviews internationalen Austausch wünschen und beklagen, dass ihnen trotz Studium Berufstätigkeit verwehrt ist, werden die Reporter sofort vom Universitätsgelände verjagt. Diese Interviews und der gewaltsame Affront wirkten in Mannheim wie ein Korrektiv zum propagandistischen Musterbogen The Exam (Emtehan; Spezialpreis der internationalen Jury). In nichtssagender Kollektiv-Choreographie zeigt Nasser Refaie da, wie hundert uniform schwarzverschleierte Iranerinnen vorm Eintrittsexamen auf einem Collegehof kichern, sich balgen, über Papa und Mama, Männer und Babys plaudern. Über Prüfungsfächer, angestrebte Studienrichtungen oder Berufe sprechen sie hingegen unglaublicherweise nie. Die Wahrheit der Bilder, meinte Michael Kötz bei der Eröffnung des Festivals, stehe neu auf dem Prüfstand. Das gilt nicht nur für technische, sondern auch für ästhetische und politische Manipulationen.