Bericht über das Filmfestival in Karlovy Vary 2011 von Waltraud Verlaguet, Präsidentin der Ökumenischen Jury

Es ist immer das gleiche Dilemma bei Festivals: die Freude, gute Filme zu sehen, geht einher mit der Frustration, so viele Filme nicht sehen zu können. Es gibt so viele Reihen, so viele Filme! Das ist nicht schlimm, wenn es um Werke geht, die anschliessend in unsere Kinos kommen, aber bei so vielen anderen, insbesondere aus den Parallelreihen, ist das eben nicht der Fall. In Karlsbad gibt es neben dem offiziellen Wettbewerb (OW) mehrere solcher  Reihen, darunter eine mit dem Titel "Östlich vom Westen" (öW), eine Sektion "Horizonte" (H) zeigt Höhepunkte anderer Festivals,  es gibt das "Forum unabhängiger Filme" (FH) und schliesslich auch eine Sektion  speziell für tschechische Filme. Da man pro Tag zwei Filme aus dem Wettbewerb zu sehen hat, bleibt immerhin noch Zeit für einige Filme der anderen Reihen. Ich kann nur von Filmen reden,  die ich gesehen habe, und auch davon kann ich hier nur die Hälfte nennen.

Der politische Diskurs bleibt aus

Nur wenige Filme reden von Politik, zum Beispiel: Belvedère (OW) von Ahmed Immanovic (Bosnien-Herzegowina) behandelt die Unmöglichkeit, die durch die Massentötung in  Srebrenica hervorgerufene Trauer zu bewältigen. Boker Tov (Der Restaurator) von Adon Fidelman (OW) spielt in Israel, aber die politische Lage bleibt dabei ausser Blick. Der Film gewann den Kristallglobus der offiziellen Jury.

Soziale und ökonomische Fragen

Einige Filme thematisieren soziale und ökonomische Fragen: Cigán (Gitan) (OW) von Martin Šulik (Slovakien/Tschechien), ausgezeichnet mit einem Spezialpreis der offiziellen Jury, erzählt die tragische Geschichte einer Zigeunerfamilie in der östlichen Slovakei, und zwar mit fast dokumentarischer Genauigkeit. Eingezwängt zwischen Tradition und Wunsch, daraus auszubrechen, sucht ein Junge nach Halt. Er hätte ihn fast gefunden - man hätte sich ein anderes Ende gewünscht. In Il gioiellino (OW) von Andrea Molaioli (Italien/Frankreich) geht es um den Boss eines grossen Konzerns, der die Firma durch dubiose Finanzmechanismen vor dem Bankrott retten möchte – bis alles zusammenbricht. Am Ende des Films kann man auf dem Bildschirm lesen, dass derzeit die Finanzprodukte die realen Güter um das Zehnfache übersteigen.

Familiengeschichten

In den meisten Filmen sind Familien in allen möglichen Konstellationen im Mittelpunkt: Um zerbrochene Familien geht es zum Beispiel in No tengas miedo (OW) von Montxo Armendáriz (Spanien), der Geschichte um einen Inzest. Die sehr einfühlsame und rücksichtsvolle Kamera vermag es, komplexen Gefühlen Rechnung zu tragen. Igor Voloshin (Russland) (OW) zeigt uns in Bédouin eine Leihmutter, die diese Schwangerschaft akzeptiert, um damit das Geld für die Behandlung ihrer leukämiekranken Tochter zu bekommen. Die eigentliche Dramatik wird durch zu viel Gewalt erdrückt und das melodramatische Ende ist nicht ganz glaubwürdig. Raj dlja mamy (Das Paradies meiner Mutter)  (öW) von Aktan Arym Kubat (Kasachstan) erzählt von einer Mutter, die sich prostituiert, um ihre Kinder zu ernähren, weil der Vater, der aus dem gleichen Grund nach Russland ausgewandert ist, nicht wieder gekommen ist. Das Paradies ist in diesem Fall der hypothetische Himmel, in dem die Kinder sie nach ihrem Selbstmord glauben möchten.

Wenn Eltern ihre Lebensideale auf die Schultern ihrer Kinder legen, dann haben es diese oft schwer, ihren eigenen Weg zu finden: In Lollipop Monster (OW) von Ziska Riemann (Deutschland) erzieht eine Familie ihre Tochter in einem bonbonrosa Leben, wo offensichtlich alles lieb und süss ist. Die Tochter ist fasziniert von einer  Schulkameradin, die aus einer Künstlerfamilie mit sehr grosszügiger Moral stammt; beide befreunden sich in der Atmosphäre der Gothic Scene  und töten am Ende den Liebhaber der Künstlermutter, um ihre eigenen Werte wieder ins Lot zu bringen. Bei Die Vaterlosen (H) von Marie Kreutzner (Österreich) sind es die Konsequenzen aus der Hippiebewegung der 60-70iger Jahre auf das Seelenleben der Kinder, die im Mittelpunkt stehen. Verdrängte Erinnerungen und die Leidenschaft, mit der der Vater seine eigenen Ideen und Neigungen durchgezogen hat, machen es den Kindern schwer. Diese versuchen  nach dem Tod des Vaters eine Annäherung, um alte Narben aufzuarbeiten.

Gewalt des Schicksals

Die Gewalt des Schicksals, wenn man das Beste für seine Kinder will und doch alles schief geht, ist metaphorisch umgesetzt am Ende von  Ksiestwo (Héritage) (OW) von Andrej Baranski (Polen): der  junge Mann, versehentliches Opfer eines Schusses, sieht sterbend im Traum seinen Vater, der einen Sack Korn einen steilen steinigen Berg hinaufträgt. Nach einer Legende soll derjenige, der damit oben ankommt, das Weltende herbei führen und damit die Erlösung. Aber der Sack ist zu schwer. Der Vater setzt ihn kurz ab, dabei zerschlitzt ein Stein den Boden, und als der Vater ihn wieder auf die Schultern nimmt, verliert sich das Korn zwischen den Steinen.

Schwierige Partnerbeziehungen

Von schwierigen Partnerbeziehungen handeln Filme wie Wangliang de lixiang (Wangliang's Ideal) (FU) von Xiongjie Gao (China). Er erzählt die Geschichte eines Paares, dessen Partner schlecht zusammen passen: ein Metzger, der sehr in seine Frau verliebt ist, während diese lieber studieren möchte.  Die Geschichte endet denkbar tragisch. Genauso tragisch endet auch Værelse 304 (Zimmer 304) (OW) von Brigitte Stærmose (Dänemark/Kroatien). Der Chef eines Luxushotels und seine Personalchefin haben ein Verhältnis, beide schwanken zwischen ihrer Liebesgeschichte und ihrer Ehe. Kurz bevor sie ihm sagen will, dass sie ihren Mann schliesslich doch verlässt, will er sich umbringen und tötet stattdessen versehentlich eine Angestellte. Die Off-Stimme am Anfang des Films sagt: "Wir sollten uns alle lieben". In Somewhere tonight von Michael Di Jiacomo (Niederlande/USA) (Ausser Konkurrenz) versuchen zwei schon reifere kontaktängstliche Menschen über das Telefon eine Beziehung zu knüpfen. Aber nur das Wagnis einer echten Begegnung führt aus der Einsamkeit. Der Collaborator von Martin Donova (Canada/USA) (OW) schwankt zwischen zwei Frauen und wird erst durch ein ungewöhnliches Ereignis dazu gezwungen, die Dinge anders zu sehen und sein Leben neu zu beurteilen.

Die ökumenischen Preisträger

Wie wird man erwachsen? So könnte die Frage lauten, auf welche die beiden Filme antworten, die von der ökumenischen Jury prämiert wurden. Die Unsichtbare von Christian Schwochow (Deutschland) (OW) ist eine junge Theaterdarstellerin (gespielt von Stine Fischer Christensen, ausgezeichnet als beste Schauspielerin), die unter dem Druck gross wurde, immer schön lieb zu sein zu ihrer behinderten Schwester, die alle Liebe und Fürsorglichkeit der Mutter auf sich bündelt. Ein Regisseur spürt die Wunde in ihr und bringt sie dazu, die Rolle des "lieben Mädchens" hinter sich zu lassen und die aufgestauten Frustrationen anzunehmen. Indem sie all diese negativen Emotionen in sich zulässt, reift sie zu einer authentischen  Person. Sie ist jetzt imstande, sowohl die Hauptrolle hervorragend zu spielen, als auch ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen. Die Titelfigur in Roméo Onze von Ivan Grbovic (Canada) (OW) ist ein gehbehinderter Junge, der versucht, seine Beziehungsprobleme in der Cyberwelt zu überwinden. Hier erfindet er sich eine neue Identität. Doch der Versuch, diese in der realen Welt umzusetzen, scheitert kläglich. Als er sich dazu aufrafft, mit "echten" Jugendlichen zu reden und auf sie zuzugehen, wird das Bild unscharf  der Zuschauer kann auf eine mögliche Zukunft für diesen Romeo hoffen.