Eine kleine Kinotheologie
Ein Journalist, Michel Cazenave, der lange als Produzent bei France Culture gearbeitet hat, bekennt sich zwar nicht zum Evangelium, sieht sich aber als Beobachter der geistlichen Sphäre. Jean Collet, Filmtheoretiker, ehemaliger Journalist bei Télérama und Les Cahiers du Cinéma, macht keinen Hehl aus seinem christlichen Glauben. In diesem kleinen Band, erschienen 2014 im Verlag Cerf, führen beide ein sowohl leidenschaftliches als auch freundschaftliches Gespräch über die Frage: „Woher kommt die geistliche Kraft des Kinos?“ Der Ansatz ist interessant, wobei „geistlich“ nicht mit „religiös“ verwechselt werden sollte.
Der Wind weht, wo er will
‚Sich dem Anderen öffnen’ ist die erste Aussage, um die es geht, und sogleich kommen viele Filme auf den Tisch: Die Spielregel (La règle du jeu, 1939) von Renoir, Die barfüßige Gräfin (The Barefoot Contessa, 1954) von Joseph L. Mankiewicz, Stromboli (1950) und Reise in Italien (Viaggio in Italia, 1953) von Roberto Rossellini… - alles nicht-gläubige oder agnostische Filmemacher. John Ford, Bresson und Hitchcock werden eher als ‚christlich’ eingestuft, aber das hat keine große Bedeutung. Ihre Filme haben universelle Gültigkeit. Dasselbe gilt für Buñuel, mit seiner scharfen Kritik des Katholizismus und dessen Missstände (Viridiana, Nazarin). Sein Werk allein beweist, dass der Wind weht, wo er will. Denn das ‚Geistliche’ ist oft nicht da, wo man es vermutet. Und die Sünden der Religion anzuprangern kann durchaus dazu beitragen, die besondere Seiten der Menschlichkeit aufzuzeigen und bewusst zu machen, die repressiven Konventionen oft zum Opfer fällt.
Bei Hitchcock schlagen sich die Protagonisten redlich, auch dann, wenn der Kampf manchmal dubios erscheint. Der falsche Mann (The Wrong Man) ist das beste Beispiel des Helden à la Hitchcock. Wie es Chabrol und Rohmer in ihrem Buch Hitchcock aus dem Jahre 1957 so schön auf den Punkt bringen: „Hilf Dir und der Himmel wird Dir helfen.“
Was für Jean Collet vor allem wichtig ist, „ist der Blick, den die Filmemacher auf den verlorenen Menschen werfen“. Innere Not, Verirrungen und die Versuchung, der Verzweiflung nachzugeben, erinnern an einen Gang durch die Wüste, eine spirituelle Reise.
Respekt und Hoffnung
Respekt vor anderen erlernen, dem Leben einen Sinn geben, an die Kraft der Hoffnung glauben, dies sind die Themen, die während dieses tiefschürfenden Gesprächs aufkommen, unter Bezug auf diese Größen der Kinogeschichte, zu denen noch Murnau, Pasolini und Dreyer hinzukommen. Was uns zu denken gibt ist die Feststellung, dass ein Film dann ein großer Film ist, wenn er uns ein Jenseits des Bildes erschließt: „Die Tatsache dass das uns gegebene Bild sich nicht auf das reduzieren lässt, was wir sehen, sondern immer auch sein eigenes Jenseits mit enthält.“
Das Buch wirkt erfrischend. Es verleiht uns Lust, unter den heutigen Filmemachern diejenigen zu suchen, die uns dazu einladen, „das Unsichtbare zu entdecken und den Sinn des Sinns zu entziffern“.
Petite théologie du cinéma (Kleine Kinotheologie), von Michel Cazenave und Jean Collet, Les Éditions du Cerf 2014, 147 Seiten
ISBN 978-2-204-10078-6
Übersetzung: Waltraud Verlaguet