Seit 1995 Jean Perret und Gabriele Bussmann in Nyon anstelle des vorherigen Internationalen Dokumentarfilmfestivals das Festival „Visions du Réel“ konzipiert und eingerichtet haben, plädieren sie Jahr für Jahr neu für einen unverkrampften Blick auf die unterschiedlichen Wirklichkeiten dieser Welt. Aber aus 1600 Werken jene 160 ausfindig zu machen, welche die dem „Visions du Réel“ am Herzen liegende Vielfalt der Genres, Handschriften und Standpunkte zum Ausdruck bringen, ist ein fast anmassender Anspruch. Wie weit er eingelöst wird, kann auch der fleissigste Festivalbesucher nur relativ beurteilen, denn im allerbesten Fall gelingt es ihm während der Festivalwoche bloss ein Viertel der programmierten Filme zu sehen. „Die Selektion 2008 ist das Ergebnis einer Reflexion über die Entwicklung der filmischen und, allgemeiner, audiovisuellen Kreativität“, schreibt Jean Perret im Vorwort des über fünfhundertseitigen Katalogs. „Die Arbeit setzt gewisse Überzeugungen voraus: Dass das Cinéma du réel uns Geschichten erzählt, die unsere Identität stärken und unsere Fantasiewelt befruchten und dass die Entdeckung von singulären Schaffensweisen und der Fortbestand von wichtigen Werken Begeisterung wecken.“
In Nyon hängt die Wahl der Filme nicht vom Thema ab, sondern von der Persönlichkeit, der Handschrift und der Radikalität des Standpunktes, wobei sich Visions du Réel entschlossen einsetzt für ein „Kino mit dem andern und nicht über ihn“. Als Beispiele dafür, wie Filmemacher mit den Menschen leben, die sie filmen, können vielleicht besonders gelten: „Kinder wie die Zeit vergeht“ von Thomas Heise (Deutschland 2007) und „La Mère“ von Antoine Cattin und Pavel Kostomarov (Schweiz/Frankreich/Russland 2007), der in der Sektion „Regards Neufs“ zu sehen war und von der Jury „Cinema Suisse“ mit dem Preis der „George Foundation für den besten Newcomer Film ausgezeichnet wurde. Mit leisem Humor und Zärtlichkeit porträtiert der Film eine Mutter, die gegen die russische Misere kämpfend, für ihre Familie, ihre zahlreichen eigenen Kinder und andere Schützlinge sorgt.
Doc Alliance
Die Tatsache, dass diese beiden Filme letzten Herbst bereits am Internationalen Festival für Dokumentar- und Animationsfilm in Leipzig zu sehen waren, wo Thomas Heises Film mit einer Silbernen Taube ausgezeichnet wurde und „La Mère“ den Preis des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) gewann, möge deutlich machen, dass sich Nyon mit seinem Konzept „Visions du Réel“ nicht grundsätzlich abhebt von anderen Dokumentarfilmfestivals. Es hat sich neuerdings sogar mit „seelenverwandten“ Festivals zu einer „Doc Alliance“ zusammen geschlossen, um auf dem unübersichtlichen Dokumentarfilm- und Fernsehmarkt Synergien im Produktions- und Filmförderungsbereich zu entwickeln. Dazu gehören neben Nyon das Internationale Dokumentarfilmfestival im tschechischen Jihlava, der „Planète Doc Review“ in Warschau, das Kopenhagener „CPH: Dox“-Festival und das Internationale Dokumentar- und Animationsfilmfestival DOK Leipzig. Jedes der beteiligten Festivals wählt einen abendfüllenden Film Dokumentarfilm aus, der, mit dem Stempel „Doc Alliance“ versehen, an verschiedenen Stellen in den Programmen der Partnerfestivals platziert wird. Die Tournee hat in Nyon begonnen, wo zwei der drei Filme prämiert wurden. Nun geht es weiter nach Warschau, Jihlava, Leipzig und Kopenhagen, wo im Dezember der „Grand Prix Doc Alliance“ verliehen wird. (Für mehr Informationen siehe film-dienst 9/2008 S.14f.)
Sieben Sektionen und sieben Juries
Mittelpunkt des Programms war auch dieses Jahr der internationale Wettbewerb mit insgesamt 22 Filmen, die ihre erste Aufführung jeweils in dem zum Kino umfunktionierten Gemeindesaal (Salle communale ) hatten. Daneben aber fanden die im lokalen Kino Capitol und im Kirchgemeindesaal „Colombière“ gezeigten Filme in den anderen Sektionen „Regards neufs“, „Tendances“, „Helvétiques“, „Ficitions du Réel“, „Investigations“ und die neue Sektion „First Steps“ mit Schulfilmen oder unabhängigen ersten Kurzfilmen, eine mindestens so grosse, wenn oft nicht sogar grössere Aufmerksamkeit des Publikums. Die Tatsache, dass für den Film über Nicolas Bouvier von Gael Métroz annähernd hundert Besucher buchstäblich im Regen stehen blieben, machte das Bedürfnis nach einem grösseren Vorführsaal überdeutlich.
Die Internationale Jury vergab den von der Schweizerischen Post mit Fr. 20'000 dotierten Preis an den britischen Film „The Lie of the Land“ von Molly Dineen, in dem sich die Regisseurin ausgehend von der umstrittenen Fuchsjagd mit dem Zustand der englischen Landwirtschaft befasst und Überlegungen zum Konsumverhalten und der Zukunft der Agrikultur anstellt. Den Preis der SRG SSR idée suisse erhielt „Nuit de Chine“ von Ju An-Qi (Frankreich/Italien/China). Weitere Preis wurden von der Jury „Regards Neufs“ verliehen, der Jury du Public, der Jury du Jeune Public, der Jury Prix du Cinéma Suisse und der Jury „Regards sur le Crime“.
Interreligiöse Filmpreise
Eine Interreligiöse Jury am Visions du Réel ist erst seit 2005 akkreditiert, weil die von 1978-1993 am Internationalen Dokumentarfilmfestival gepflegte Tradition einer Oekumenischen Jury zunächst nicht weitergeführt wurde. Das Interesse am Dokumentarfilm und einer Präsenz in Nyon blieb bei den Vertretern der kirchlichen Filmarbeit in der Schweiz und ihren internationalen Partnerorganisationen SIGNIS und INTERFILM allerdings erhalten und schliesslich einigte man sich angesichts des breit gefächerten filmischen Blicks des Festivals auf die Einrichtung einer interreligiösen Jury. Sie bestand während drei Jahren aus Vertretern von SIGNIS, INTERFILM, der John Templeton Stiftung und abwechslungsweise einem jüdischen oder muslimischen Mitglied und sie vergab einen von der Katholischen Kirche Schweiz und der Templeton Stiftung mit Fr. 5'000 dotierten Preis an einen Film aus dem internationalen Wettbewerb. Im Sinne eines auf drei Jahre limitierten Projekts vergab sie zudem einen mit weiteren Fr. 5'000 dotierten Spezialpreis der John Templetonstiftung an einen Film aus allen Sektionen zum Thema „Wissenschaft und Religion“.
Nachdem sich die Templetonstiftung aus verschiedenen Gründen entschieden hatte, das Engagement im Dokumentarfilmbereich im Rahmen dieses Projekts nicht mehr weiterzuführen, gelang es, die protestantischen Kirchen der Westschweiz (Conference des Eglises Romandes/CER) und die Reformierten Medien Zürich dafür zu gewinnen, einen Teil der verlorenen finanziellen Mittel aufzubringen, so dass auch dieses Jahr zusammen mit der Unterstützung der Katholischen Kirche der Schweiz ein Preisgeld von Fr. 5'000 für einen Film aus dem Wettbewerb zur Verfügung stand. Neu bestand die Jury, nominiert von SIGNIS und INTERFILM, mit Viviane Borderie (Cannes), Serge Molla (Lausanne), Gisela Blau (Zürich) und Elâ Gurmen (Istanbul aus je einem katholischen, protestantischen, jüdischen und muslimischen Mitglied. Sie verfügten nicht nur über die nötige filmische Fachkompetenz, sondern brachten auch eine starke Teamfähigkeit mit und das Interesse am interreligiösen Dialog mit und eine grosse Bereitschaft zur Zusammenarbeit.
Der Preis ging an den polnischen Film „The Existence“ von Marcin Korzalka, der am Beispiel der Entscheidung eines achtzigjährigen Schauspielers, seinen Körper der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen, Fragen rund um Tod und Leben thematisiert. Er erhielt interessanterweise auch einen von der „Hotelvereinigung der Côte“ gestifteten Preis der von Gymnasiasten der Region besetzten Jury des jungen Publikums, die vor allem von der filmästhetischen Qualität des Films berührt war. Die interreligiöse Jury war darüber hinaus über die feinfühligen Behandlung des heiklen und weithin tabuisierten Themas angetan. Eine Lobende Erwähnung vergab die interreligiöse Jury an den Film „Entre Ours et Loup (24H dans la ville de N.)“ von Denis Sneguirev (Frankreich/Russland), der auch die Publikumsjury überzeugte und ihn mit dem Publikumspreis (Fr. 10'000) der Stadt Nyon auszeichnete. Sie honorierte damit den Mut und das Engagement des Regisseurs, der den Prozess gegen den Menschenrechtskämpfer und Leiter der Vereinigung für die russisch-tschetschenische Freundschaft Stanislas Dmitrievski in Nischni Nowgorod (das alte Gorki) verfolgt, der wegen „Anstiftung zum Völkerhass“ angeklagt wurde, weil er Friedensaufrufe der tschetschenischen Führer veröffentlicht hatte.
Sondervorführungen, Ateliers und Parallelveranstaltungen
Die zahlreichen Sondervorführungen, Ateliers und Parallelveranstaltungen alle zu würdigen, die viele Besucher angelockt haben, ist schlicht unmöglich. Der wachsende Zuspruch, den der „Doc Outlook-International Market“ geniesst, kann freilich nicht unterschlagen werden. Über 700 Berufsleute haben den Markt mit 220 Filmen aus 29 Ländern besucht. Dank dem digitalen „on demand-System“ (VOD) und seinen 3'000 Visionierungen wird eine Steigerung von 50 Prozent ausgewiesen. Auch die Ateliers mit dem französischen Kritiker, Essayisten und Cinéasten Jean-Louis Comoll und dem Deutschen Volker Koepp, dem aufmerksamen Chronisten der Regionen in Osteuropa und als grossartigen Zeichner der „condition humaine“ charakterisierten zweimaligen Gewinner des Grand Prix in Nyon, verdienen genannt zu werden. Volker Koepp hat mit seinen Filmen für eine kurze Zeit insbesondere zahlreiche Filmkritiker und Filmemacher aus der deutschen Schweiz an den Genfersee gelockt, und er hat auch den zum ersten Mal verliehenen „Prix d’Honneur Montres Universal Genève“ entgegengenommen. In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings wie überall die Frage, welche Art des Auftritts die unerlässlichen Sponsoren in Anspruch nehmen sollen, und dann auch jene, ob das grosse Interesse an den attraktiven Parallelangeboten nicht doch zu einer zu grossen und bedauerlichen Schmälerung der Auseinandersetzung mit den Filmen im offiziellen Wettbewerb (z.B. auch im Rahmen des „Forums“) führt.
Die 15. Ausgabe von Visions du Réel findet vom 23. bis 30. April 2009 statt. Zusammen mit den 25 Ausgaben, die das Dokumentarfilmfestival von 1969-1993 mit Erika und Moritz de Hadeln erlebt hat, kann das Festival dann theoretisch seinen 40. Geburtstag feiern.