Am Locarno Film Festival hat der libanesische Filmemacher Abbas Fahdel zusammen mit seiner Frau Nour Ballouk den Preis der Ökumenischen Jury gewonnen. Kann Kunst die Welt retten? Mit dieser Frage beschäftigen sich nicht nur die Preisträger, sondern auch der ukrainische Film «The Hamlet Syndrome». Und auch der katholische Horrorfilm «Serviam – Ich will dienen» ist mehr als nur eine Anklage. Wer mit einem religiösen Blick durch die Filme von Locarno spaziert, sieht viel mehr als Gewalt und Zerstörung.
Mit einer Meditation über das Leben im Libanon erschliesst sich in «Tales of the Purple House» (OT: Hikayat elbeit elorjowani) eine neue Welt. Der Regisseur Abbas Fahdel filmt seinen Alltag im violetten Haus, wo er zusammen mit der Malerin Nour Ballouk lebt. Der Garten des Hauses ist wunderschön und gleicht einem Garten Eden. Im Wissen um die Flüchtlingskrise im Libanon – mehr als eine Million Syrer leben im Land – und um die desolate politische und wirtschaftliche Lage inszeniert der Film einen Blick auf die Welt, in der die Zeit verlangsamt wird, manchmal sogar stillsteht.
Abbas Fahdel sagt zu seinem Werk: «Kann Schönheit die Welt retten? Kann uns die Kunst vor der Realität retten? ‹Tales of the Purple House› versucht diese Fragen zu beantworten, indem er verschiedene Dinge zusammenbringt: Ästhetik und Politik, Intimes und Universelle. Der Film bringt den starken Glauben an die rettende Kraft der Bilder zum Ausdruck. Sie sind eine bildliche Arche Noah in Zeiten der Sintflut.» Während sich die Welt im Niedergang befindet, gibt es weiterhin die Poesie der Bilder, die im Film von Abbas Fahdel die Bilder vom Haus und von der Natur im Libanon sind.
Aber auch viele Bildzitate reichern das Werk an: Es sind Fotos vom Borbardement des Hauses von Nour Ballouk, das sie als junge Frau nur knapp überlebt hat. Ihre Bilder wurden zerstört. Aber bis heute malt sie weiter ihre wunderbaren Bilder von Bäumen, Blumen, Selbstporträts. Abbas Fahdel verwendet Filmzitate um Stimmungen zu erzeugen. Er zeigt Bilder von den Folgen der Explosion im Hafen von Beirut, die viele Menschenopfer forderte. Aber auch persönliche Begegnungen mit syrischen Flüchtlingen, die bis heute in Zeltstätten leben. – Sehr erstaunlich ist die Tatsache, dass in diesem Dorf die Kirche und die Moschee in guter Nachbarschaft beieinanderstehen. Der Bürgerkrieg im Libanon konnte dieses Dorf nicht spalten. Der Zusammenhalt in der Gemeinde ist weiterhin stark.
Über drei Stunden dauert die Meditation über das purpurne Haus mit seinen Kunstwerken, seinem Alltagsleben in der Corona-Pandemie und seinem beruhigenden Garten, in dem manchmal auch ein Spatz sein Leben lassen muss, wenn die Katzen hungrig sind. Falls die Sintflut kommen sollte, wäre hier der richtige Ort zum Überleben. Im Kino gibt es also eine Zeit und einen Ort, der sich wie eine Arche Noah anfühlt. Dieser Glaube an die Poesie als Retterin in der Not wurde von der kirchlichen Jury am Locarno Film Festival mit dem ökumenischen Preis ausgezeichnet.
«Sein oder nicht sein» – Ukraine trifft auf Hamlet
Der berühmteste Satz aus den Werken von William Shakespeare bildet den Ausgangspunkt für die neuste Produktion einer ukrainischen Theatertruppe. «To be or not to be». Es sind fünf junge Menschen, die in «The Hamlet Syndrome» auf je eigene Weise vom Krieg mit Russland traumatisiert sind. Wohlgemerkt ein Krieg, der seit 2014 stattfindet. Von den Menschen, die im Dienst an der Front Schreckliches erlebt haben, über den schwulen Mann, der im eigenen Land steter Gewalt ausgesetzt ist, bis zur Feministin, die sich der Vaterlands-Ideologie nicht unterordnen will: breit ist das Spektrum der Traumata und Verletzungen. Sie erscheinen auf der Theaterbühne als Improvisationen. Eingeschoben in die dokumentarischen Szenen sind Gespräche mit den Eltern dieser jungen Menschen. Es sind Gespräche der Trauer, der Versöhnung und Ermutigung. Hier wird sichtbar, dass nicht nur die jungen Leute durch den Krieg belastet sind, sondern auch all deren Familien.
Für die Ukraine geht es um die Frage: «Sein oder nicht sein». Der springende Punkt des Films besteht darin, dass er bereit im Jahr 2021 entstand und erst in der Phase der Postproduktion, also beim finalen Schnitt, die Invasion von Russland am 24. Februar dieses Jahres in die Filmproduktion hereinbrach. Das wird mit einer Schrifttafel aufgefangen. Frappierend ist jedoch, dass sich die Ukraine und Russland bereits seit Jahren in einem Krieg befinden und die junge Generation davon Zeugnis ablegt.
An der Premiere des Films in der Semaine de la Critique in Locarno meldete sich eine der Hauptdarstellerinnen zu Wort: «Heute ist es für uns 1000-mal schlimmer als zur Zeit des Filmdrehs.» Wer sich nicht scheut, die Folgen des Krieges in der jungen Generation der Ukraine zu sehen und zu erleben, möge sich «The Hamlet Syndrome» von Elwira Niewiera und Piotr Rosolowski anschauen. Er ist ein Zeugnis, dass Kunst eine Widerstandskraft darstellt, die alles überschreitet, was Menschen mit ihren Taten anrichten können. Es bleibt das Hamlet-Syndrom, dem die Protagonisten und Darstellerinnen nicht entkommen können. Die ganze ukrainische Gesellschaft ist darin gefangen. Und ganz Westeuropa mit ihr.
Gewalt und Zerstörung aufarbeiten
Im internationalen Wettbewerb von Locarno waren vor allem auch Filme zu sehen, die sich mit Gewalt und Zerstörung auseinandersetzen. Im mexikanischen Film «Tengo sueños eléctricos» ist es die sechzehnjährige Eva, die sich der Gewalt ihres geliebten Vaters nicht entziehen kann. Die Gewaltverstrickung und das Erwachsenwerden von Eva sind eng ineinander verstrickt. Gibt es ein Entkommen aus dieser animalischen Aggression, die in Menschen angelegt ist? Das Spiel der Hauptdarsteller ist dermassen intensiv, dass die Schauspieler gleichzeitig den weiblichen und männlichen Preis für die beste Schauspielleistung erhalten haben. Zudem gibt es den Preis für die beste Regie an Valentina Maurel. Neben diesen drei Leoparden hat auch die ökumenische Jury den Film mit einer lobenden Erwähnung ausgezeichnet: «Der Film begleitet den Weg eines jungen Mädchens in einem familiären Umfeld, das geprägt ist von Brüchen, Gewalt, aber auch von Liebe», begründet die Jury ihre lobende Erwähnung des Filmes.
Aus der Slowakei präsentierte die junge Regisseurin Tereza Novotová eine Hexengeschichte aus moderner Perspektive. «Svetlonoc» (Nightsiren) ist ein Film von Frauen gegen die Gewalt an Frauen. Sie greifen dafür in die archaischen Schichten des Hexenglaubens und kombinieren diese mit der Geschichte eines Schwesternpaars, das für sich in Anspruch nimmt, ihr eigenes Leben zu führen, jenseits von toxischer Männlichkeit und Gewalt. Trotz schockierende Gewaltszenen ist der Film ein Versuch, die magische Wärme der Schwesternliebe zu inszenieren. Sie überwindet alles. «Svetlonoc» gewann einen goldenen Leoparden für den besten Film in den «Cineasti del presente», dem zweiten Wettbewerb des Festivals für junge Filmschaffende.
Der goldene Leopard im Hauptwettbewerb geht an den Film «Regra 34» (Rule 34) aus Brasilien. Die Regisseurin Julia Murat setzt sich hier mit dem Thema von Gewalt und Erotik auseinander.
Dienen als spiritueller Missbrauch
Erst vor rund drei Jahren wurde im deutschsprachigen Raum Europas die Diskussion über den spirituellen Missbrauch lanciert. Wichtig war dabei das Engagement von Doris Reisinger Wagner. Dass es nun einen Film im Wettbewerb von Locarno gab, der unter dem Titel «Serviam – Ich will dienen» läuft, ist also nicht erstaunlich. Die Österreicherin Ruth Mader inszeniert die Geschichte von einem Mädchen-Internat in der Nähe von Wien in den 1980er-Jahren als Thriller mit Anleihen aus dem Horrorfilm, vor allem was die Tonspur angeht.
Die streng gegliederten und komponierten Bilder entsprechen der strengen Ordnung im Internat, das unter der Leitung der jungen Nonne steht (konsequent und fruchterregend gespielt von Maria Dragus). Aus theologischer Sicht stehen aber nicht die filmischen Mittel im Fokus dieses Films. Er ist vielmehr eine Analyse der systematischen Bedingungen von spirituellem Missbrauch. Was die Ordensfrau mit den besonders willigen Schülerinnen macht, ist eine klassische Überhöhung des katholischen Frauenbildes als unterwürfig dienendes Wesen. Hierin fühlt sich Martha als religiöse Musterschülerin besonders begabt. Der spirituelle Missbrauch durch die Nonne hat tragische Folgen.
Douglas Sirk interessiert sich für Jesuiten
Die grosse Retrospektive widmete Locarno in diesem Jahr dem deutsch-amerikanischen Hollywood-Regisseur Douglas Sirk. Er ist bekannt für seine hinreissenden Melodramen der 1950er-Jahre im Cinemascope-Format, in denen gespaltene Persönlichkeiten versuchen, aus der Enge der gesellschaftlichen Konvention auszubrechen, aber schlussendlich doch in den Hafen der Ehe zurückkehren. So zum Beispiel meisterhaft inszeniert in «Imitation of Life» (1958). Sirk interessiert sich jedoch auch für katholische Themen. So sind zwei seiner Filme im Kloster angesiedelt. «The First Legion» aus dem Jahre 1950 spielt in einem Haus der US-amerikanischen Jesuiten. In «Thunder on the Hill» von 1951 ist die Handlung in einem Nonnenkloster angesiedelt. Vor allem «The First Legion» ist ein Zeugnis davon, dass sich Douglas Sirk auch mit dem Spannungsverhältnis von Vernunft und Glauben im Film auseinandergesetzt hat; natürlich auch unter melodramatischen Vorzeichen.