Kommentare und Notizen zum Festival. Von Waltraud Verlaguet


Der Eröffnungsfilm des Festivals, Jeanne Du Barry von Maïwenn, gehört in die Reihe der französischen Geschichtsfilme (wie zuletzt Illusions perdues/Verlorene Illusionen von Xavier Gianelli), hier bereichert um einen feministischen Hauch. Ob der etwas maskenhafte Johnny Depp die beste Wahl als Ludwig der XV. war, mag dahingestellt bleiben. Die Filmemacherin, die selbst die Titelrolle spielt, inszeniert sich als intelligente, selbstbewusste und freiheitsliebende Frau, die mit Zielstrebigkeit und Humor das Herz des Königs erobert. Ob das Leben als Favoritin ein Freiheitsideal darstellt, ist selbst für diese Zeit fraglich, wie das Ende des Films zeigt. Aber ob die Liebe unter diesen Bedingungen echt sein kann, beantwortet die Filmemacherin offensichtlich mit ja. Eine etwas irritierende Off-Stimme muss die Teile der Geschichte erklären, die der Film nicht zu zeigen vermag.

Die Rekonstruktion der Atmosphäre ist für den heutigen Zuschauer überzeugend. Die Dialoge sind oft pointiert: „Das ist grotesk“. – „Nein, das ist Versailles“. Und diese Kostüme und diese Perücken... Die Töchter des Königs sind genüsslich gezeichnet in ihrer tollen, scheinfrommen Bosheit und exzentrischen Aufmachung. In einer Welt, in der die Stellung eines Menschen davon abhängt, wer wie zu jemandem spricht oder eben nicht, muss diese mit Entschiedenheit und allen Tricks der Einflussnahme erobert und verteidigt werden. Aber daran hat sich ja heute nicht viel verändert, nur dass der direkte Kontakt durch Social Networking ersetzt wurde.


Die Semaine de la Critique wurde eröffnet mit Àma Gloria von Marie Amachoukeli, deren erster abendfüllender Film, Party Girl, als Eröffnungsfilm der Sektion Un Certain Regard in Cannes 2013 die Goldene Kamera gewonnen hatte. In diesem neuen Film fängt die Kamera von Inès Tabarin mit einfühlsamer Zärtlichkeit und in Großaufnahmen das Innenleben der sechsjährigen Cloé ein (unglaublich gut gespielt von der kleinen Louise Mauroy-Panzani – ich frage mich immer, wie Kinder SO gut spielen können). Die Gefühle des Mädchens werden in kurzen, stylisierten Animationsszenen dargestellt, zwischen Erinnerungen, Träumen und Alpträumen. Als Cloés heißgeliebtes Kindermädchen, Gloria, wieder in ihre Heimat nach Kap Verde zurückkehren muss, bricht Cloés Welt zusammen. Aber die Liebe Glorias wird sie auf dem schmerzvollen Weg zur Welt der ‚Großen‘ begleiten. Sie muss lernen, ihren Status als Mittelpunkt der Welt aufzugeben und ihren Platz in der Welt der anderen zu finden.


La Quinzaine des Cinéastes (früher: Quinzaine des réalisateurs) präsentierte an diesem ersten Festivaltag die neue Ausgabe des Factory-Projekts, mit dem diese Sektion seit zehn Jahren zusammenarbeitet. Diese Initiative bringt jedes Jahr junge Filmemacher aus einem bestimmten Land mit Kollegen aus anderen Ländern zusammen, und zwar immer einen Mann mit einer Frau und umgekehrt. Die so gebildeten Paare müssen in Rekordzeit gemeinsam 15-minütige Kurzfilme schreiben und produzieren. Diese Zusammenarbeit zwischen Filmemachern aus unterschiedlichen Kulturen wird nach Aussage der Betroffenen auf sehr anregende Weise erlebt. Dieses Jahr steht der Norden Portugals im Mittelpunkt.

Zwei der Kurzfilme haben eine starke religiöse Konnotation. Der erste, Espinho (Der Splitter) von Andre Guiomar (Portugal) und Mya Kaplan (Israel), schildert die verwirrende Anziehungskraft zwischen einem Teenager auf Vatersuche und dem neuen Dorfpriester. Der zweite, Maria von Mario Macedo (Portugal) und Dornaz Hajiha (Iran), lässt ihre von diversen familiären Problemen überwältigte Heldin bei einer in warmen Tönen gefilmten Tanzparty neue Kraft schöpfen. Das Publikum tanzt eine Art Madison, auf eine Musik, deren Text ein Gebet an die Jungfrau Maria ist. Der dritte schließlich, As Gaivotas Cortam o Ceu (Die Möwen verschlingen den Himmel) von Mariana Bártolo (Portugal) und Guillermo García López (Spanien), beschreibt in wunderschönem Schwarzweiß das materielle und psychologische Elend eines durch Kreuzfahrtschiffe und deren Geld- und Touristenzustrom bedrohten Fischereihafens. Einer lesbischen Liebesszene, die wunderschön mit verschiedenen Beleuchtungen spielt, folgt übergangslos eine Nahaufnahme von Fischernetzen. Wie könnte man besser darstellen, dass die Menschen in dieser Situation ausweglos gefangen sind?


Der erste Film im internationalen Wettbewerb, Monster von Hirokazu Kore-eda, last but not least, führt den Zuschauer durch die Wendungen einer komplexen Realität, indem er die Geschichte eines scheinbar schwierigen Kindes, das anscheinend von seinem Lehrer misshandelt wird, zunächst aus der Perspektive der Mutter, dann der des Lehrers und schließlich der des jungen Heranwachsenden erzählt. Er zeigt damit einleuchtend, dass wir die „Wahrheit“ immer nur bruchstückhaft und voreingenommen wahrnehmen und damit Katastrophen auslösen, für die die Naturkatastrophe am Ende eine schöne Metapher darstellt. Als das wirkliche Monster in dieser Geschichte entpuppt sich ein Vater, der in seiner zwanghaften Vorstellung von Normalität seinen sensiblen und eben anders gearteten Sohn einfach nicht verstehen kann. Aber anders zu sein ist keine Krankheit, die man brutal heilen könnte. Trotz allem schließt der Film mit einem lichtvollen Bild der Hoffnung.