Festivalbericht Nyon 2014
Wie bereits kurz zuvor das Internationale Film Festival in Fribourg (FIFF) konnte jetzt auch die 45. Ausgabe des Internationalen Filmfestivals Nyon, das vom 25. April bis 3. Mai 2014 gleichzeitig die 20. Ausgabe als Festival Visions du Réel feierte, mit über 33‘000 Besuchern (plus 17%) einen deutlichen Zuschauerzuwachs verzeichnen, was das Festival neben dem wichtigen und starken Interesse der Filmbranche auch als Publikumsfestival auszeichnet, wie Festivalpräsident Claude Ruey in seiner Bilanz unterstrich.
Visions du Réel, das einzige Dokumentarfilmfestival der Schweiz, macht eine erfolgreiche Entwicklung durch und hat einen hervorragenden Ruf weit über die Landesgrenzen hinaus. Es ist eines der international bekanntesten Festivals im Bereich der Dokumentarfilmproduktion und kann sogar zu deren vier wichtigsten gezählt werden. Das ursprünglich aus einem in Rolle am „Lac Léman“ organisierten Amateurfilmfestival hervorgegangene „Internationale Dokumentarfilmfestival Nyon“ wurde 1969 gegründet und über viele Jahre von Moritz und Erika de Hadeln geleitet. 1995 wurde es als Festival Visions du Réel neu strukturiert und Jean Perret mit der Direktion betraut, der ihm zusammen mit Gaby Bussmann neue erfolgreiche Impulse verlieh. Im Rahmen einer kleinen Geburtstagsfeier wurden sie zusammen mit den jeweiligen Präsidenten des Festivals geehrt. Anzumerken ist, dass es schon immer auch das Interesse der Filmbeauftragten der Kirchen in der Schweiz fand und von 1978-1995 das Wettbewerbsprogramm für lange Film auch von einer Ökumenischen Jury beurteilt wurde; nach einem längeren Unterbruch erst seit zehn Jahren wieder auf Einladung von SIGNIS und INTERFILM auch von einer Interreligiösen Jury, bestehend aus Mitgliedern der abrahamitischen Religionen. Ihr Preis von CHF 5‘000 ist zur Zeit gestiftet von der Katholischen Kirche Schweiz und Médias-Pro, dem Medien-Departement der Konferenz der Reformierten Kirchen der französischen Schweiz (CER).
Preise der Interreligiösen Jury
Die Jury musste sich zwischen 19 langen Dokumentarfilmen in der Sektion internationaler Wettbewerb entscheiden. Überzeugt hat sie die russisch-abchasische Liebesgeschichte unter dem Titel Domino Effekt: Die Opernsängerin Natasha gibt ihre Karriere und Familie in Russland auf, um mit Rafael zusammenzuleben, der Sportminister von Abchasien ist. Doch die auf Betreiben Russlands von Georgien abgespaltene Region leidet immer noch unter dem seit den 1990er Jahren schwelenden Kaukasuskonflikt. Für die Interreligiöse Jury spiegelt sich die hindernisreiche Liebe «in den sozialen und politischen Spannungen des Landes. Das Ringen von Natasha und Rafael um den Aufbau des Landes und ihre Beziehung verlangt nach einem Dialog ihrer Kulturen.» Eine Lobende Erwähnung erhielt mexikanische Regisseur Hatuey Viveros Lavielle für Café (Cantos de humo). Die Interreligiöse Jury schreibt in ihrer Begründung: «‹Café› lädt dazu ein, in das Alltagsleben einer Náhua-Familie einzutauchen und zeigt mit grosser Nähe zu den Protagonisten deren Einsatz für Gerechtigkeit und menschliche Würde.»
Café (Cantos de humo)
Lateinamerika schwingt obenaus
Die 45. Ausgabe des Festivals präsentierte in über elf Sektionen (Wettbewerb für lange, für mittlere und für kurze Filme, „État d’esprit“, „Hélvetiques“, „Regard Neuf“, „Grand Angle“, „Premier Pas“, Ateliers Ross McElwee und Pierre-Yves Vanderweerd, Focus Tunesien, und schliesslich der Richard Dindo gewidmeten Retrospektive, im Zusammenhang mit der erstmaligen Verleihung des „Goldenen Sesterz Maître du Réel“) über 180 Filme aus 51 Ländern, die von der Kritik und den Jurys positiv aufgenommen wurden. «Die Liste der Preisträger 2014 illustriert die internationale Offenheit des Festivals sowie die umfangreiche Recherchearbeit des Auswahlkomitees, welches das ganze Jahr über rund um den Globus reist», erklärte Festivaldirektor Luciano Barisone. Mit Lateinamerika, dem Mittleren Osten und Osteuropa stechen drei geografische Regionen bei den diesjährigen Preisträgern heraus: Allein sechs Preise gingen an Filme aus Lateinamerika, darunter der „Goldene Sesterz La Poste“ für den besten Langfilm im internationalen Wettbewerb für den Film Café (Cantos de humo) von Hatuay Viveros Lavielle (Mexico), zwei Preise an Filme aus dem Mittleren Osten, darunter der „Goldene Sesterz George Foundation“ im internationalen Wettbewerb für mittellange Filme an Mashti Esmaeil von Mahdi Zamanpoor (Iran) und drei Preise an Filme aus Osteuropa, darunter der „Goldene Sesterz der Mobiliar“ für den besten Kurzfilm im internationalen Wettbewerb mit dem Film Autofocus von Boris Poljak (Kroatien) und der Preis der Interreligiösen Jury an den in Abchasien situierten Film Domino Effekt von Elwira Niewira und Piotr Rosolowski.
Domino Effect
«Mit dem Focus Tunesien am Festival waren wir uns der produktiven und künstlerischen Vitalität des Filmschaffens aus dem Süden bereits bewusst», erklärte Luciano Barisone, und fügte hinzu: «Die von den Jurys ausgezeichneten Filme bestätigen, dass in diesen Ländern des Südens eine neue produktive und kreative Filmemachergeneration am Werk ist. Aber nicht nur dort, sondern auch in Osteuropa.» Im Rahmen der Sektion Focus Tunesien hat das Filmprojekt The Factory And Me des tunesischen Filmemachers Sarra Labidi den mit CHF 10‘000 dotierte Preis „Visions Sud-Est“ gewonnen, welcher der Förderung eines sich in der Entwicklung befindlichen Dokumentarfilms zukommt.
Blickpunkt Afrika
Abgesehen vom „Focus Tunesien“ bleiben zwei in Afrika situierten Filme im Gedächtnis, obwohl vom Preissegen nicht bedacht: Shado’man von Boris Gerrets (Niederlande//Frankreich) begleitet nachts in der lärmenden Stadt Freetown in Sierra Leone vorurteilslos eine Gruppe heimatloser und körperbehinderter junger Menschen, und im Mittelpunkt des Films Life in Progress von Irene Loebell und Peter Guyer (Schweiz(Südafrika) stehen drei junge Leute aus zerrütteten Familien in einem Township bei Johannesburg, die sich in der vom Choreographen Jerry betreuten Tanzgruppe Taxido begegnen und dort Förderung und Lebensunterhalt finden. „Eine figurenbezogene Momentaufnahme einer neuen südafrikanischen Generation, die die Apartheid nicht kannte und voller Leben und Hoffnungen steckt und weiterhin um Zukunftsperspektiven kämpfen muss“ (Katalog).
Shado'man
Erfolgreiche Schweizer Filme
Unter den Preisträgern befinden auch vier Schweizer Filme, darunter zwei Koproduktionen. So hat der Film Thuletuvalu von Matthias von Gunten, der mit eindrücklichen Bildern aus dem grönländischen Thule und im Kontrast dazu aus dem polynesischen Inselstaat Tuvalu den Anstieg des Meeresspiegels und seine Folgen belegt, den „Silbernen Sesterz SRG SSR“ für den besten Schweizer Film aller Sektionen gewonnen. Dem Film Je suis FEMEN Jvon Alain Margot, deren anwesenden Protagonistinnen ein besonderes Presseecho fanden, wurde der Preis der SSA/Suissimage-Jury für den innovativsten mittellangen oder abendfüllenden Schweizer Film zugesprochen. Er wird von der Filmcoopi demnächst in die Schweizer Kinos gebracht. El Tiempo Nublado der paraguayischen Filmemacherin Arami Ullon als eine majoritäre Schweizer Koproduktion, der auch von einer Unterstützung der Katholischen Kirche im Kt. Zürich profitierte, gewann den Sesterce d’argent Canton de Vaud in der Sektion Regard Neuf für den besten Langfilm. Der Verleih Cineworx wird den Film mit der Geschichte über eine früh an Epilepsie und Parkinson erkrankte alleinstehende Mutter im kommenden Winter in die Deutschschweizer Kinos bringen.
Thuletuvalu
Stärkung der Kulturvermittlung an Jugendliche
«Dieses Jahr haben wir in zwei Bereichen zugelegt: sowohl bei den Teilnehmern an den Schulvorführungen (+15%) wie auch bei den Lehrpersonen, die an Seminaren zur Förderung der Kinokultur in der Schule teilgenommen haben», freute sich Philippe Clivaz, Generalsekretär des Festivals, bei der Pressekonferenz zum Abschluss des Festivals. Der Wettbewerb „Jeunes Réalisateurs du Réel“ (für 12- bis 18-Jährige), dieses Jahr erstmals ausgetragen, hat ebenfalls ein grosses Echo ausgelöst, wie auch der Jugend-Blog auf der Festival-Website: «Dieses starke Interesse der Jugendlichen für die Realisierung von Filmen und die Filmkritik zeigt, dass wir mit unserer Intuition recht hatten, als wir entschieden haben, eine solche, für die Schweiz neue Vermittlungsinitiative zu lancieren», fügt Philippe Clivaz hinzu. Mit diesen verschiedenen Aktionen kommt klar zum Ausdruck, wie vielfältig die Kulturvermittlung an Jugendliche ausgestaltet sein kann.
Die Liebe als thematischer Schwerpunkt des Festivals
Als thematischen Schwerpunkt des Festivals hatte Festivaldirektor Luciano die Zelebrierung der Liebe in all ihren Facetten angekündigt. Tatsächlich gab es einige Filme, die dieser Ankündigung in jeder Hinsicht explizit gerecht wurden, angefangen beim streckenweise nicht nur humorvoll, sondern auch absurd komödiantisch wirkenden Eröffnungsfilm Love&Engineering von Tonislav Hristov (Finnland/Deutschland/Bulgarien), in dessen Mittelpunkt Versuche mit IT-Ingenieuren stehen, bis hin zu den manchmal fast peinlichen Szenen und Diskussionen über Liebeskummer im Abschlussfilm Conte du mile end von Jean-François Lesage (Kanada). Abgesehen davon, dass das Thema vielfältig in den vielen Lebensgeschichten angesprochen wurde, gab dazwischen u.a. der Wettbewerbsbeitrag Sleepless in New York von Christian Frei (Schweiz) zu reden, welcher dem unerschütterlichen Bedürfnis nach Liebe und den Folgen eines fast traumatischen Liebeskummers dreier Protagonisten in New York nachgeht. Der Regisseur tut dies mit grossem Respekt, aber angesichts der von den Zuschauenden mitgebrachten Erfahrungen, wo in diesem Bereich jeder sein eigener Spezialist ist, blieb am Ende ein weites Diskussionsfeld offen.
Sleepless in New York