Anmerkungen zum Filmfestival Karlovy Vary 2007


Karlovy Vary (Karlsbad) in der ersten Juli-Woche: das ist ein inspirierendes Festivalerlebnis, zeitgenössische Filme in alter Pracht, und das sowohl für das Fachpublikum als auch für über 10.000 zumeist sehr junge Festival-Besucher, die für wenig Geld Weltkino sehen können und auch in recht  anspruchsvollen Filmen ausharren.

Der Wettbewerb 2007 ermöglichte eine Reise von Argentinien über Westeuropa und den Schwerpunkt Osteuropa bis nach Korea, Japan und Australien. Immer wieder wurden Familiengeschichten gezeigt, Geschichten von vom Scheitern bedrohten Familien. Und immer wieder sind es die Wirklichkeiten der postsozialistischen Staaten, die in den Filmen sicht- und fühlbar werden.

Den Hauptpreis des Festivals erhielt der Film  Mýrin (Der Tote vom Nordermoor) von Baltasar Kormakur (101 Reykjavik), ein isländischer Krimi, in dem ein kauziger Kommissar gegenwärtige und vergangene Verbrechen aufdeckt, die mit illegalen Recherchen in einer isländischen Gendatenbank in Zusammenhang stehen. Der Preis kam für viele ziemlich überraschend, denn der Film bleibt doch allzu sehr in den Grenzen seines Genres.

In dem französischen Beitrag Dialogue avec mon jardinier (Dialog mit meinem Gärtner) von Jean Becker zieht ein erfolgreicher Maler aus der Stadt zurück in die Landschaft seiner Kindheit und stellt dort seinen Schulkameraden als Gärtner ein. In langen Gesprächen zwischen den beiden geht es um Liebe und Erdverbundenheit, Stadt- und Landleben, um Tod und humane Werte. Der handwerklich gut gemachte Film steht mit seinen hervorragenden schauspielerischen Leistungen in der Tradition französischer Filme der 80er Jahre à la Rohmer. (Lobende Erwähnung der Ökumenischen Jury).


Prostye veschtschi (Simple Things) des russischen Regisseurs Alexej Popogrebskij, der schon 2003 als Co-Regisseur des Films Koktebel viel Aufmerksamkeit erregte, gewann vier Preise: den Preis der Ökumenischen Jury und den Fipresci-Preis, sowie zwei Preise der Internationalen Jury für die männlichen Darsteller. Der Arzt Maslov  (Sergej Puskepalis) lebt in einer russischen Großstadt (Drehort St. Petersburg) in prekärer finanzieller Situation. Er bekommt das gut bezahlte Angebot, einem alten Schauspieler (gespielt von dem bekannten Schauspieler Leonid Bronevoj) jeden Tag Drogen zu verabreichen. Seine Tochter geht Wege, die er missbilligt, und als seine Frau ein Kind erwartet, da kann er sich nur eine Abtreibung vorstellen, mit Hinweis auf die enge Wohnsituation. Es ist das scheinbar einfache Leben, das so einfach eben doch nicht ist und schwierige Fragen stellt. Der Protagonist steht zwischen verschiedenen Optionen, handelt einfach. Die soziale Realität wird deutlich, manchmal entlarvt auch eine Prise Humor die Absurdität der „einfachen Dinge“.  Ein überraschendes Ende lässt Hoffnung aufblitzen. Er wollte eine einfache Geschichte erzählen, so der Regisseur auf der Pressekonferenz, die die Realität eines Menschen ohne Symbolisierungen zeigt. Das ist ihm eindrücklich gelungen.

Auch der polnische Film Plac zbawidiela (Erlöserplatz) von Krysztof und Joanna Krauze zeigt eine Familie in der Krise. Vater, Mutter, zwei Kinder und die Eigentumswohnung in guter Lage ist auch schon in Bau. Aber da geht die Baufirma in Konkurs, der Bau stockt, man muss für den Übergang zu Schwiegermutter ziehen. Hier eskalieren die Konflikte, die bisher verdeckt werden konnten. Schließlich zieht er zu einer Freundin, sie stürzt immer mehr ab. Am Ende sieht sie für sich und ihre Kinder keinen Ausweg mehr. Auch hier stellen wirtschaftliche Einbrüche Beziehungen mehr als nur auf die Probe.

Auch der ausgesprochen „karg“ inszenierte Film Karger der deutschen Regisseurin Elke Hauck zeigt Menschen im Nahbereich, deren Träume zerbrochen sind: ein Metallarbeiter in Deutschlands Osten, Ehe geschieden, Job weg, was nun? Es sind Menschen, die sich als Verlierer gesellschaftlicher Entwicklungen im ehemaligen Osteuropa sehen.

Davon gibt es auch so einige in der wichtigen Nebenreihe des Festivals „East of the West“ zu sehen. Zwar hat der Westen gewonnen, der Osten ist besiegt. Aber man muss sich eben doch als der Osten des Westens begreifen. Eindrücklich der mit Schülern verwirklichte Film Klass (Lobende Erwähnung der "East Of The West"-Jury), in dem die geheimen und offenen Machtstrukturen einer Schulklasse in Estland fast dokumentarisch aufgezeigt werden. Die Konflikte zwischen Opfer, Täter, Beschützer, aufheizender Mehrheit eskalieren immer mehr, bis es zum Schluss – gut nachvollziehbar – zu einer Katastrophe kommt.

In den Nebenreihen des Festivals sind Filme des Weltkinos zu sehen, die bereits auf anderen Festivals, insbesondere Cannes, zu sehen waren. Der neue Film von Fatih Akin Auf der anderen Seite (Cannes: Preis für das beste Drehbuch und Ökumenischer Preis) zeigt, wie sich die Geschichte mehrer Personen zwischen Deutschland und der Türkei miteinander verweben. Er ist weniger radikal als Gegen die Wand, dafür subtiler. Den großen Erwartungen wird der zweite Film von Andrej Zvjagincev (The Return),  Izgnanie (Die Verbannung), leider nicht gerecht. Zu sehr wird der begabte Regisseur Opfer seiner eigenen mit Über-Symbolisierungen aufgeladenen Bilder.

Eine Entdeckung ist der russische Film Ostrov (Die Insel) von Pavil Lungin. Ein junger Matrose wird im zweiten Weltkrieg schuldig an einem Kameraden, der spurlos verschwindet. Der Matrose beginnt in einem orthodoxen Kloster ein neues Leben. In der Heizbaracke lebt er auf ganz eigene Weise. Er gewinnt den Ruf eines weisen Ratgebers, ihm werden sogar seherische Qualitäten zugeschrieben. Eines Tages kommt ein Offizier und bittet um Hilfe. Ein Film, der in recht dunklen Bildern rund um das Thema Schuld und Sühne kreist. In Russland sehr erfolgreich im Kino gelaufen spaltet er die Fachwelt zwischen Begeisterung über den spirituellen Gehalt von Bildern und Geschichte einerseits und schroffer Ablehnung andererseits.

Karlovy Vary in der ersten Juli-Woche – ein altes und doch junges (A-) Festival, das auch an einem Star-Aufgebot auf dem roten Teppich  arbeitet  (Danny de Vito und Rene Zellweger waren da), ein Festival, das solches aber eigentlich nicht nötig hat. Die Filme regen an und regen auf, die k.u.k-Atmosphäre ist Glamour drumherum genug.