Kontroversen der Ökumenischen Jury am 38. Internationalen Filmfestival in Karlovy Vary


Zum zehnten Mal vergab eine internationale ökumenische Jury am internationalen Filmfestival von Karlovy Vary ihren Preis. Während neun Tagen konnten im böhmischen Kurort knapp über 300 Filme angeschaut werden. Für die Verleihung des ökumenischen Preises konzentrierte sich die Jury auf die 16 Spielfilme des offiziellen Wettbewerbes und bezog einen Dokumentarfilm in ihre Beratungen mit ein.

Angesichts der Querelen um Festivalpreise werden kirchliche Jurys oft - allerdings auch etwas mitleidig - beneidet um ihre harten Kriterien. Aber stehen diese so unumstösslich fest? Wenn Christen davon ausgehen, dass sie ihren Glauben nicht einfach haben, sondern sich ihre Hoffnungen im Alltag und praktisch bewähren müssen, so sind sie auf eine wache Auseinandersetzung mit aktuellen Erfahrungen angewiesen. An Filmen als authentischen Lebenszeugnissen können Christen ihre Wahrnehmung schulen. Eine ökumenische Jury hält deshalb Ausschau nach Filmen, die den Zuschauenden die Augen für ein glaubwürdiges Leben in den jeweiligen Kontexten öffnen. Mitglieder einer ökumenischen Jury messen die Filme an den Erfahrungswerten ihres Glaubens und halten diesen offen für den Dialog mit den in den Filmen dargestellten aktuellen Lebenserfahrungen. In dieser Spannung entstehen Kontroversen und für den Glauben der Beteiligten hilfreiche Lernprozesse.

Ihren Preis vergab die ökumenische Jury einstimmig an den Film Babusja von Lidia Bobrova. Die russische Regisseurin hält ihren Zeitgenossen einen kritischen Spiegel vor. Die Mitglieder einer Familie sind so mit der Aufgabe beschäftigt, sich in der neuen Gesellschaft einzurichten, dass sich innerhalb ihrer Familie kein Platz für ihre alte Tante finden lässt. Die Stationen dieser Leidensgeschichte erträgt die Babuschka fast stumm und in gefasster Würde. In ihrem Gesicht scheint die Fähigkeit einer (russischen) Passion auf, welche die Verletzungen einer entsolidarisierten und zerstreuten Gesellschaft austrägt. So kann auf der untersten Stufe, als Babuschka vorübergehend ein Asyl bei einer Flüchtlingsfamilie gefunden hat, ein kleines Wunder geschehen. Das von den Gräueln des Tschetschenienkrieges traumatisierte Kind der Flüchtlingsfamilie legt seine Stummheit ab und vermag das Verschwinden der Babuschka mitzuteilen. Dieses Verdienst kommt auch dem verhaltenen Film zu, der in einer volksfrommen und doch genauen Fabel Zeugnis ablegt von einer Hoffnung auf Gemeinschaft und Solidarität zwischen den Generationen. Diese Hoffnung kann insofern als religiös verstanden werden, als sie sich aus der erfolgsorientierten Beschäftigung der Beteiligten mit dem eigenen Glück nicht rechtfertigen lässt.


Nicht immer gehen religiöse Sprache und aktuelle Erfahrung eine solch authentische Verbindung ein, wie sie von der ökumenischen Jury im russischen Film Babusja entdeckt und ausgezeichnet wurde. In seinem Film Jesus, Du weißt untersucht der österreichische Dokumentarist Ulrich Seidl die Gebetspraxis von sechs Gläubigen. Er ritzt dabei ein doppeltes Tabu: Er zeigt Menschen bei einer in  der modernen Gesellschaft als privat geltenden Tätigkeit: dem Gebet. Und er lässt die Porträtierten im Zwiegespräch mit einem göttlichen und damit allwissenden Jesus intimste Erfahrungen besprechen. Auf den ersten Blick kann der Film als eine erbarmungslose Bloßstellung der Porträtierten und eine lieblose Kritik an einer überholten religiösen Mentalität gelesen werden. Aus diesen Gründen lehnte es die Mehrheit der ökumenischen Jury ab, den Film mit einer besonderen Empfehlung auszuzeichnen. Anders die für die Dokumentarfilme zuständige offizielle Jury: Sie erkannte die Qualitäten dieses Films und verlieh ihm ihren Hauptpreis.


Auch aus religiöser Perspektive scheint sich eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Film zu lohnen. Seidl hat den umstrittenen Film seinem Vater gewidmet. Und wie in seinen bisherigen Filmen schafft er den Porträtierten kleine Bühnen der Rechtfertigung. Das Vertrauen, das er ihnen entgegen bringt, kokettiert nicht mit dem Intimen, sondern ermutigt die Selbstdarsteller zu klarsichtigen Konfessionen. In ihnen offenbaren die Porträtierten existentielle Grunderfahrungen, sie bitten um die Erfüllung ihres Wunsches, geliebt und anerkannt zu werden, und klagen um die Demütigungen und Verletzungen, die sie dabei erleiden. Mit nur wenigen Bildern scheint Seidl die Mühsal des Lebens der Betenden zu bestätigen. In seiner genauen phänomenologischen Studie konzentriert er sich auf die Gebetspraxis der Porträtierten. Das persönliche Gespräch mit Jesus bietet ihnen eine Sprache, in der sie ihre schwierigen Erfahrungen mitteilen und eine andere Perspektive auf ihr Leben gewinnen können. Weil der Film die Zuschauenden an der Unausweichlichkeit der Lebensentscheidungen teilhaben lässt, verzichtet Seidl konsequent darauf, aus einer gottähnlichen und damit anmassenden Perspektive zu urteilen, ob das religiöse Zwiegespräch nur eine fromme Illusion darstellt oder eine rettende Erfahrung ermöglicht. Der Erfolg und das happy end sind - wenigstens in dieser Welt - keine Namen Gottes. So haben schliesslich auch die Zuschauenden selber zu urteilen, ob den Betenden Beten hilft.

Ganz anders, nämlich mit der frommen Einfalt einer Legende erzählt der philippinische Regisseur Maryo J. Delos Reyes die Geschichte von Magnifico. Der neunjährige Bub ist eine Lichtgestalt, durch den die biblischen Seligpreisungen im Kleinen wahr werden. Er geht die Probleme, an der seine Familie und die Dorfgemeinschaft am Rande der Grossstadt zu zerbrechen drohen, mit kindlicher Unbefangenheit und schon fast törichter Herzensgüte an. Er entzieht der Armut den Stachel der Resignation, und die Gedemütigten finden ihren Mut und ihren Gemeinsinn wieder. Magnifico ist allerdings mehr als ein eskapistisches Rührstück. Die mit den Mitteln des armen Kinos erzählte Wundergeschichte endet nicht im happy end; denn bei einer seiner guten Taten wird Magnifico auf der Schnellstrasse von einem Lastwagen überfahren. Für die Überlebenden stellt sich damit die Frage, wie sie sein messianisches Vermächtnis weiter führen können. Der Film endet mit dem Begräbnis des Buben. In der Trauerfeier lebt der Geist des Seliggepriesenen als kritische und gemeinschaftsstiftende Erinnerung weiter. Durch seine genaue Beschreibung der sozialen Wirklichkeit und seine präzise Dramaturgie lässt der Film den Betrachtern die Freiheit, ob sie sich durch das Wunder der geschenkten Liebe rühren lassen wollen.

Auch Magnifico hat die ökumenische Jury nicht mit einem Preis oder einer lobenden Erwähnung ausgezeichnet. Für die einen Mitglieder war der Film zu naiv, für andere gar emotional manipulativ. Eine dritte Gruppe hat die parabelhaften Züge des Films zwar erkannt, sah sich aber ausser stande,  in ein paar einfachen Sätzen die Juryentscheidung so zu begründen, dass sie von Filmsachverständigen nicht als peinliche Apologetik missverstanden würde. Bleiben jene, die sich der demokratischen Mehrheit einer Juryentscheidung fügen. Schliesslich bleibt es allen Jurymitgliedern offen, Zuhause über die aus ihrer Sicht interessanten und teilweise eben kontroversen theologischen Herausforderungen des aktuellen Kinos zu berichten. Auf jeden Fall bleibt die ökumenische Juryarbeit ein wichtiges Instrument, um rechtzeitig im internationalen Filmangebot einzelne Werke und allgemeine Entwicklungen aufzuspüren und sie mit kirchlichen Sachverständigen anderer Konfessionen und Länder zu besprechen. Die unterschiedlichen Einschätzungen folgen dabei nur selten entlang der konfessionellen Grenzen.