Das Festival des Zentraleuropäischen Films in Timişoara. Von Wolfgang J. Ruf


Zum ersten Mal fand das Festival des Zentraleuropäischen Films, das sich international als Central European Filmfestival (CEFF) präsentiert, vom 3. bis 9. September 2017 in Timişoara statt. Ausgepichten Cinéasten mag diese Stadt zwar als Geburtsort von Johnny Weissmüller, dem legendären Tarzan-Darsteller, bekannt sein. Vielleicht weiß man sogar, dass der ungarische Schauspieler Bela Lugosi, der mit der Darstellung des Grafen Dracula in der ersten Hollywood-Verfilmung des Romans von Bram Stoker zum Star wurde, sich nach seinem nahe gelegenen Herkunftsort nannte, dem Städtchen Lugos (rumänisch: Lugoj). Wo dieses Timişoara überhaupt liegt und welche Bedeutung es heute hat, dürfte so mancher dennoch fragen. Die 300.000-Einwohner-Stadt, die ungarisch Temesvár und deutsch Temesvar oder auch Temeschburg heisst, ist das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Banats, das am Südostrand der ungarischen Tiefebene liegt und auch eine der von der Geschichte besonders gebeutelten Regionen Europas ist.

Westlichste Grosstadt Rumäniens – Wiege des Aufstands von 1989

Heute ist man stolz, Bürger der westlichsten Großstadt Rumäniens zu sein und erinnert auch gern daran, dass Timişoara eine der ersten Städte Europas mit elektrischer Straßenbeleuchtung war. Seit der Eroberung des Banats im Jahre 1716 durch Prinz Eugen von Savoyen gehörte Timişoara, das schon im Mittelalter Sitz eines ungarischen Königs war, zuletzt aber mehr als 150 Jahre unter osmanische Herrschaft geraten war, für 200 Jahre zur österreich-ungarischen Donaumonarchie. Erst mit dem Vertrag von Trianon im Jahre 1920 fiel ein großer Teil des Banats, damit auch Timişoara, ebenso wie Siebenbürgen an Rumänien. Die Volksgruppe der Donauschwaben, die Maria Theresia einst ins Land gerufen hatte, prägte bis in die Gegenwart das kulturelle Leben. Denn in Rumänien wurden die deutschstämmigen Bürger nach dem Zweiten Weltkrieg nicht ermordet oder vertrieben, allerdings zeitweise zur Zwangsarbeit in die UdSSR verschleppt und auch in die Bărăgan-Steppe im Südosten Rumäniens verbannt. Der grosse Exodus der Rumäniendeutschen aus Siebenbürgen und dem Banat fand letztlich erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs statt.

Multi-ethnisch geprägt ist Timişoara, das einst den Ruf eines Klein-Wien hatte, nach wie vor. Stellten die Deutschen im Jahr 1930 mit 33 000 Einwohnern noch den größten Bevölkerungsanteil, vor Ungarn und Rumänen, so zählte man 2011 zwar nur noch 4 200 Deutschstämmige, weniger sogar als Serben. Dennoch gibt es neben dem rumänischen und ungarischen Staatstheater auch noch ein kleines deutsches Staatstheater. Und das seit mehr als 100 Jahren bestehende deutschsprachige Nikolaus Lenau-Gymnasium besuchen inzwischen auch rumänische und ungarische Schüler. Es kann in dieser knappen Orientierung nicht unerwähnt bleiben, dass auch der Aufstand gegen die kommunistische Diktatur Nicolae Ceaușescus von Timișoara ausging. Auslöser war der Widerstand der evangelisch-reformierten ungarischen Gemeinde gegen die Zwangsversetzung ihres Pfarrers Lászlo Tökés, der nun seit Jahren Mitglied des Europa-Parlaments ist. In der Gedenkstätte der Revolution, einem wohl bescheiden finanzierten, aber eindrucksvollen Dokumentations- und Informationszentrum, hat man für die Opfer vom Dezember 1989 eine ökumenische Kapelle eingerichtet. Denn Timişoara versteht sich auch als eine multireligiöse Stadt. Die orthodoxe Kathedrale beherrscht den Siegesplatz ebenso wie das an seinem anderen Ende stehende Opernhaus. Aber während rumänisch- und serbischstämmige Gläubige orthodox sind, zieht es die deutsch- und manche ungarnstämmigen in katholische Kirchen. Für die ungarische Minderheit ist aber auch die evangelisch-reformierte Kirche von besonderer Bedeutung.

Lediglich die jüdische Religion spielt kaum noch eine Rolle. Der jüdische Anteil der Bevölkerung, der in den 1920er Jahren doch fast zehn Prozent ausmachte, ist durch Verfolgung und Auswanderung fast völlig verschwunden. Die Synagoge in der Altstadt, eine der größten Europas, der Kaiser Franz-Joseph noch seine Aufwartung machte, wird nicht mehr für Gottesdienste genutzt, sondern dient nach der Renovierung der Philharmonische Gesellschaft Timișoara für Veranstaltungen. CEFF zeigte hier in Zusammenarbeit mit dem New York Jewish Film Centre eine Reihe mit klassischen Filmen in jiddischer Sprache. Ein solches Programm ist schon ein traditioneller Bestandteil dieses Festivals, neben filmhistorischen Retrospektiven, Filmen zu Minderheiten in Rumänien und einem Panorama neuer Filme aus aller Welt, in dem dieses Mal auch Maren Ades “Toni Erdmann” zu sehen war.

Foto: George Bufan


Initiator des Festivals: der deutsch-rumänische Filmemacher Radu Gabrea 

Dieses Festival wurde zwar nun zum ersten Mal in Timişoara veranstaltet, doch es hat eine berichtenswerte Vorgeschichte. Seit 2011 fand es regelmäßig in dem Städtchen Mediaș in Siebenbürgen statt, also auch in einer rumänischen Region, die einst zur österreichisch-ungarischen Donaumonarchie gehörte. Gegründet hat dieses Festival der Regisseur, Produzent und Autor Radu Gabrea, der zu Beginn des Jahres 2017 im Alter von 79 Jahren verstarb und dessen Werk die diesjährige Retrospektive galt. Sein Tod wurde im deutschsprachigen Bereich kaum wahrgenommen. Dabei war Gabrea, dessen erster Spielfilm “Zu klein für einen so grossen Krieg” 1970 in Locarno ausgezeichnet worden war, nach dem Verbot seines zweiten Films “Jenseits des Sandes”, der 1974 in der Quinzaine des réalisateurs in Cannes lief, ins Exil nach Deutschland, der Heimat seiner Mutter, gegangen. Zum bundesdeutschen Film hat er in den folgenden Jahren doch mit einigen Filmen beigetragen, an die sich zu erinnern lohnt: unter anderen “Fürchte dich nicht, Jakob!” (1981) nach Ion Luca Caragiale mit André Heller, eine Parabel über jüdischen Widerstand; “Ein Mann wie E.V.A.” (1984), mit Eva Mattes in einem frappierend trefflichen Porträt von Rainer Werner Fassbinder; die mehrteilige Ludwig Fels-Verfilmung “Ein Unding der Liebe” (1986) und auch der gross angelegte Berlin-Film “Rosenemil” nach einem Roman des einst vielgelesenen jüdischen Autors Georg  Herrmann, der 1941 in Auschwitz ermordet wurde.


Einige Jahre nach dem Sturz Ceauşescus ging Gabrea zurück nach Bukarest, zunächst als Präsident des Nationalen Filmbüros im rumänischen Kulturministerium, wo er die Filmförderung nach französischem Vorbild etablierte. Dann wurde er wieder als Produzent, Regisseur, Autor und auch als Dozent an der Hochschule für Theater und Film in Bukarest tätig. Mit Dokumentar- und Spielfilmen erinnerte er nun immer wieder an jüdische Traditionen in Rumänien und auch an die so gern tabuisierte rumänische Beteiligung am Holocaust, etwa in dem Spielfilm “Grubers Reise” (2008) nach Motiven von Curzio Malaparte. Besonders wichtig wurde für Gabrea die Auseinandersetzung mit dem Werk des evangelischen Pfarrers Eginald Schlattner, dessen autobiographisch akzentuierte Romane “Der geköpfte Hahn” (2007) und “Rote Handschuhe” (2010) er verfilmte. Schlattner, inzwischen 84jährig, lebt nach wie vor in einem siebenbürgischen Dorf in der Nähe von Sibiu (Hermannstadt) und war in den letzten Jahren auch als Gefängnisseelsorger für evangelische Häftlinge in rumänischen Gefängnissen tätig. Der Film “Rote Handschuhe”, der einen stalinistischen Schauprozess gegen deutschstämmige Literaturstudenten in den 1950er Jahren in Braşov (Kronstadt, damals Stalinstadt) reflektiert, war im deutschen Sprachraum merkwürdigerweise noch nicht zu sehen.

Letztendlich war es diese intensive Beschäftigung mit Fragen der Identität,  sowohl auf Grund der eigenen Biographie wie auch der Begegnung mit jüdischen Schicksalen und der deutschen Minderheit in Rumänien, die Gabrea zur Gründung dieses Festivals mit seiner spezifischen Programmatik führte. Als Gabrea im Februar 2017 starb, hatte er schon mit der Stadt Timişoara zu verhandeln begonnen. Er sah, dass sein Festival in eine grössere, mitteleuropäischere Stadt gehörte, in eine Stadt nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der Bildung. Timişoara ist eine wichtige Universitätsstadt. Aber ob es für dieses Festival nach dem Tod seines Gründers ein Weiterbestehen geben könnte, war mehr als zweifelhaft. Doch Gabreas Ehefrau, die renommierte Schauspielerin Victoria Cociaş, und seine Tochter Magdalena belehrten uns eines anderen. Das Festival fand, wie noch von Radu Gabrea geplant, in Timişoara statt und soll dort auch in den nächsten Jahren weiter über die Bühnen und Leinwände gehen.

Zentraleuropa – ein Erbe der Donaumonarchie voll aktueller Dynamik

Schon beim ersten Festival in Mediaş, im Jahr 2011, lernte man auf einem Symposion von Historikern, dass es verschiedene Sichtweisen auf Zentral- oder Mitteleuropa gibt. Während die deutsche Variante Mitteleuropa als „den unter der Führung der deutschen Kultur zur heutigen Blüte erhobenen Erdenraum im Rahmen eines Weltbildes“ sieht, wie einst der Leipziger Historiker Joseph Partsch 1904 salbungsvoll konstatierte,  so wurde aus anderer, vornehmlich Wiener Sicht, Zentraleuropa schon immer als ein im Rahmen der Habsburger Monarchie gewachsener Organismus gesehen. Letztere Variante ist selbstredend diejenige, die Gabrea für sein Festival wählte und die nun auch in Timişoara gilt. Also, Deutschland und die Schweiz fallen nicht unter diese Definition, Polen und Rumänien aber schon, weil die Region um Krakau, Siebenbürgen und das Banat zur Donaumonarchie gehörten. Diese sollte zwar nicht allzu sehr zu einer früheren EU verklärt werden, aber in ihren liberalen Phasen kann sie doch als früheres Beispiel des gedeihlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Ethnien, Kulturen, Sprachen und Religionen in Europa gelten. Wenn man so will, vereinigt dieses Festival also Filme aus den Regionen des einstigen K. u. k. Österreich-Ungarn. Das ist keineswegs so unzeitgemäß, wie man vermuten mag. Denn die Entdeckung und Erkundung der Gemeinsamkeiten und auch Unterschiede in den Traditionen dieser Länder, die jahrzehntelang durch Nationalismen, faschistische Bewegungen und schließlich den Kommunismus verschüttet wurden, ist heute von besonderer Bedeutung. Ohne die Klärung einer eigenen Identität jenseits nationalistischer Beschränkung, aber wohl doch mit einer historischen Verankerung können diese Länder, trotz ihrer aktuellen Dynamik, nicht wirklich in einem gemeinsamen Europa reussieren.

Nationale Preisträger im internationalen Wettbewerb

Neben dieser geopolitischen Beschränkung, an der die Erweiterung um die Balkanländer in diesem Jahr so viel nicht veränderte, da diese doch den Traditionen der Donaumonarchie nahe standen, wählte Gabrea eine zweite Beschränkung. Er wollte sich nicht am Gerangel selbst kleinerer Festivals um Filme und ihre Premieren beteiligen, weil er als Filmemacher zu oft erlebt hatte, wie ein Film in der Programmhuberei von Festivals leicht übersehen oder gar nicht wahrgenommen werden konnte. Er sah auch das Wirken der Auswahlkommissionen vieler Festivals kritisch, da dies doch meistens recht austauschbare Programme erbringe, also Anhäufungen mehr oder weniger interessanter Filme. Mit dem Veranstaltungsort haben diese aber nichts zu tun, abgesehen von einer Patina durch Tradition, wie in Cannes, Venedig, Berlin und noch ein paar Festivalorten. Gabrea entschied sich deshalb dafür, im Wettbewerb die Filme zu zeigen, die in ihren Ursprungsländern den nationalen Filmpreis erhalten haben. Seine Überlegung, dass eine solche Programmierung doch einen Eindruck über die Summe der einzelnen Filme hinaus vermitteln könnte, traf durchaus zu. So sehr jeder Film als einzelnes Werk gesehen werden sollte, so fügten sich doch immer wieder viele der Filme zu einer sozio-psychischen Bestandsaufnahme dieses Teils von Europa. Das war in Mediaş so, und ergab sich nun auch in Timişoara.

Österreichische Filme waren stets thematisch und stilistisch etwas ausserhalb dieses Spektrums – auch in diesem Jahr, als Barbara Eders Film “Thank You for Bombing!” über die Deformationen von Auslandsreportern in Afghanistan zwar durch seine kalkulierte Professionalität beeindruckte, aber doch kaum etwas über sein Herkunftsland mitzuteilen vermochte. Auch der griechische Film “Smac” von Elias Demetriou über die Begegnung einer Bankerin, die an Krebs erkrankt ist, mit einem im Rinnstein gelandeten Opfer der griechischen Finanzkrise und afrikanischen Wunderheilern, wirkte in seiner gelackten Ästhetik doch weit entfernt von all den anderen Filmen. Bedingt ist das wohl schon durch die unterschiedliche Geschichte dieser Länder in neuerer Zeit: Den real existierenden Sozialismus als das Leben erdrückende, aber auch in so manchen Nischen schützende Decke haben sie nicht erfahren. Aber die meisten Filme ergaben, zumal in der Zusammenschau, wieder ein faszinierendes Vexierbild, ein eindrucksvolles, manchmal auch verstörendes Panoptikum von Bildern aus einem anderen Europa.


Der neue Film von Cristi Puiu mit dem rätselhaften Titel “Sieranevada“ ist ein Musterbeispiel für den exzessiven Naturalismus des sogenannten neuen rumänischen Films und ein Beispiel für die unnachsichtige gesellschaftliche Analyse, die die inzwischen auch nicht mehr so jungen Filmemacher zu betreiben glauben. Vierzig Tage nach seinem Tod soll dem verstorbenen Familienoberhaupt, einem verdienten Arzt, gedacht werden. Doch der Pope lässt auf sich warten, und ohne ihn kann das Buffet nicht eröffnet werden. So drängen sich in einer zu kleinen Wohnung zu viele Familienmitglieder und beginnen, ihre Frustrationen in Streitereien auszutragen. Eine alte Tante bedauert den Verlust der kommunistischen Ideale, einer ihrer Enkel, auch ein Mediziner, agitiert für die gängigen Verschwörungstheorien um den 11. September 2001. Eine Drogensüchtige oder Alkoholkranke landet in einem Nebenraum. Das ist von Puiu mit seinen enorm präsenten Schauspielern virtuos in Szene gesetzt, die Kamera ist den Akteuren ständig hinterher und versucht den Zuschauer in die Szene hineinzuziehen. Doch der Reiz der Einheit von Ort und Zeit verfliegt bei drei Stunden Laufzeit doch, zumal kaum eine Handlung in dem amorphen Treiben zu erkennen ist. Es bleibt ein deprimierendes Bild einer Gesellschaft, die nicht mehr geerdet ist und bewusstlos oder verzweifelt vor sich hin taumelt.

Der bulgarische Film mit dem bezeichnenden Titel “Ohne Gott” von Ralitza Petrova setzt auf einen derart düsteren Befund einer Gesellschaft, die am Ende ist, noch einen darauf. Eine Altenpflegerin klaut ihren Patienten die Ausweise und vertickt sie, um sich ihre Drogentrips leisten zu können. Ihre Partner lassen auch mal widerspenstige Opfer ganz verschwinden. Es ist nicht nachvollziehbar, warum dieser Film gerade in Locarno mit Preisen überhäuft wurde (und auch den Preis der Ökumenischen Jury erhielt). Denn so scharfsichtig hier ein womöglich sogar authentischer Fall gesellschaftlicher Verrohung gezeigt wird, so fragwürdig ist dabei doch sein metaphorischer Anspruch. So wenig, wie man in einigen Filmen eine Krebsdiagnose sogleich als Metapher für eine gesellschaftliche Gesamtsituation zu akzeptieren bereit ist, so skeptisch wird man auch hier. Vielleicht bedient die bulgarische Filmemacherin, bewusst oder gar auch ganz unabsichtlich, so wie Puiu und so manch andere Filmemacher aus Südosteuropa, eben auch die im Westen herrschenden Klischees von jenen Ländern. Wer solche Filme vor Ort sieht, findet sie recht befremdlich, wenn er das Kino verlässt und wieder in die dortige Wirklichkeit tritt, die sich weit weniger eindimensional zeigt. 

Einen ganz anderen Weg, die Entfremdung in der heutigen Wirklichkeit zu beschreiben, wagen Agnieszka Holland und ihre Tochter Kasia Adamik als Koregisseurin mit dem Film “Spur”. Sie zeichnen eine polnische Gesellschaft im mörderischen Kampf zwischen Zivilisation und Natur. Dass eine halb im Ruhestand lebende Lehrerin in der Wildnis des Riesengebirges gegen die barbarischen Jagdbräuche kämpft, ist nur die Oberfläche dieses – auch faszinierend fotografierten – Films, denn er beunruhigt mit seinen kriminalistischen Wendungen und ihren Subtexten von Minute zu Minute. Man ist beeindruckt, weiß aber nicht so recht, ob hier das Wiedererstehen einer archaischen Gesellschaft oder eine neue Welt aus alten Bausteinen gemeint ist, ob die Verwerfungen einer postsozialistischen oder die andauernden Verhaltenszwänge einer präsozialistischen und realsozialistischen Gesellschaft gezeigt werden.

Konfrontiert mit der Schuld aus der Vergangenheit

Noch aufschlussreicher als solche filmischen Soziogramme waren die Filme, die von der jüngeren und ferneren Vergangenheit erzählen und dabei die Schuld und die Verbrechen aufdecken, die so lang tabuisiert wurden oder es noch immer werden. Das war ein Hauptmotiv der meisten Filme des Wettbewerbs dieses Jahr in Timişoara. Da findet eine serbische Frau zufällig in einer Schublade ein Video, das ihren Mann bei Kriegsverbrechen zeigt (“Eine gute Frau”, von Mirjana Karjanović); ein alter Mazedonier kehrt aus dem Exil zurück und versucht, den Tod seiner Freunde aufzuklären, die zu Beginn der 1950er Jahre von Titos Kommunisten ermordet wurden (“Die goldene Fünf”, von Goran Trenchovski); eine slowakische Lehrerin in den 1980er Jahren verbindet Pädagogik und Korruption so geschickt, dass die Zivilcourage der Eltern ihrer Schüler immer wieder auf die Probe gestellt wird oder gar ganz baden geht (“Lehrerin”, von Jan Hřebejk).

Der Höhepunkt solcher Vergangenheitsbewältigung war für mich der zutiefst beunruhigende Film “Ich, Olga Hepnarová” von Petr Kazda und Tomás Weinreb, zwei jüngeren tschechischen Filmemachern. In dokumentarischen Schwarzweiß-Bildern erzählen sie ganz schnörkellos die authentische Geschichte der Titelheldin, die 1975 als letzte Frau in der CSSR hingerichtet wurde. Die 23jährige raste mit einem Lastwagen in die wartenden Menschen an einer Straßenbahnhaltestelle, um sich für ihre gesellschaftlichen Ausgrenzungen, für all die ihr widerfahrenen Demütigungen zu rächen. Ganz abgesehen davon, dass ihre Tat auch noch verblüffend an die Terrorakte von heute erinnert, trifft der Film in den Kern einer Gesellschaft, die vorgab, zuallererst für die Menschen da zu sein, und diese, wenn sie in individuelle Not gerieten, doch kaltherzig im Stich ließ. Fast noch schockierender als die Schlusssequenz, in der Olga zum Galgen geschleift wird, sind andere Szenen der gesellschaftlichen Kälte: etwa als ein Arzt die verzweifelt um Hilfe flehende Olga aus der Praxis verweist, weil sie nicht in seinem Bezirk wohnt und er nicht zuständig ist. Es ist zu verstehen, dass dieser Film mehr Irritation auslöst als bewegte Anteilnahme. Zu disparat sind seine gesellschaftlichen Koordinaten, zu wenig sortiert die moralischen Maßstäbe. Das macht ihn aber so wichtig, geradezu nach dem klärenden Gespräch verlangend.


Die internationale Jury des Festivals, der die Filmhistorikerin Ingeborg Bratoeva-Daraktchieva (Bulgarien), die Fernsehredakteurin Dite Dinesz (Rumänien), der Filmproduzent László Kántor (Ungarn), der Kritiker James Ulmer (USA), und ich angehörten, vergab sechs Preise. Der Preis für den besten Film, sozusagen der Grand Prix, ging an 1945 des Ungarn Ferenc Török, ein weiteres Beispiel der Erinnerung an tabuisierte Geschichte. Der in strengem Schwarzweiß durchstilisierte Film, der auf einer Erzählung von Gabor T. Szanto mit dem sarkastischen Titel “Heimkehr” beruht, beginnt mit ruhig ausgehaltenen Szenen, die immer mehr hektische Aktionen auslösen. Der Krieg ist vorbei, ob die Befreiung oder die Besatzung da ist, wissen manche Ungarn wohl bis heute nicht einzuschätzen. Während Russen mit ihrem Jeep durch ein ungarisches Dorf kariolen und blonde Bauernmädchen davonstieben, kommen an einem ländlichen Bahnhof zwei Männer an, die orthodoxen Juden gleichen, auch Vater und Sohn sein könnten. Sie laden Truhen mit unbekanntem, aber offensichtlich beunruhigendem Inhalt auf einen Pferdewagen und gehen neben ihm her, stumm und stetig, der nahen Ortschaft entgegen. Bei den Einwohnern, die vom Anmarsch der Fremden erfahren, bricht zunehmend Panik aus. Es kommt sogar zu einem Selbstmord. Ein Drogerie- und Parfumladen gehörte wohl einst Juden, aber daran will man sich nicht erinnern. Denn man ist wohl schuldig geworden und fürchtet nun die Aufdeckung. Der Film spielt meisterhaft mit diesen Ängsten, die mehr und mehr die unangenehme Wahrheit ans Licht bringen, und überrascht doch mit einer überraschenden Wendung, die sogar Raum für Versöhnung lässt.


 

Eine serbisch-kroatische Komödie voller absurder Wendungen

In diesem durchaus aufschlussreichen Panorama von unnachsichtiger Auseinandersetzung mit einer verdrängten Vergangenheit und aktueller Bestandsaufnahme gesellschaftlicher Verhältnisse, die oft zu deprimierend gerät, gab es kaum etwas zu lachen. Wenn ein Film der an Widersprüchen so reichen Wirklichkeit doch weniger stirnrunzelnd zu begegnen versucht, dann verrutscht er auch schnell in Belanglosigkeiten. Eine sehenswerte Ausnahme ist “Verfassung”, der neueste Film des Kroaten Rajko Grlić, eine kroatisch-slowenisch-mazedonisch-tschechische Koproduktion. Nebenbei bemerkt: Das alte Jugoslawien scheint auf der Ebene der Filmproduktion weiterzuleben oder wiederzuerstehen. Wie einst arbeitet man zusammen, auch zwischen Kroatien und Serbien; kaum ein Film, an dem nicht Produzenten und Künstler aus verschiedenen Republiken des früheren Jugoslawiens beteiligt sind.

In Grlićs virtuos zwischen Komik und Tragik ausbalanciertem Film spielt der serbische Schauspieler Nebojša Glogovac, den man auch in dem serbisch-deutschen Film “Enklave” von Goran Radovanovic als archaisch-strengen Vater in einer serbischen Siedlung im Kosovo erleben konnte, einer berührenden Milieustudie aus Sicht eines Jungen – in “Verfassung” also spielt Glogovac einen nationalistischen Geschichtsprofessor in Kroatien, der seinen alten, beidbeinig amputierten, in Ustascha-Träumen delirierenden und Pflegerinnen begrapschenden Vater versorgt. Sein Kontrahent ist ein im gleichen Haus wohnender Serbe, der sich als Kroate ausgibt und so in den Polizeidienst gelangte. Er wird von einem kroatischen Schauspieler gegeben. Der Professor ist wohl schwul und pflegt am Abend als Transvestit auszugehen. Als er dabei zusammengeschlagen wird, bietet die resolute Frau des Polizisten ihm an, seinen Vater zu versorgen. Vorausgesetzt, er hilft ihrem Mann, dem von ihm verachteten, etwas tumben Polizisten, sich auf eine anstehende Prüfung vorzubereiten, bei der die Kenntnis der kroatischen Verfassung verlangt wird.


Der zwischen komischen, sentimentalen und  auch tragischen Aspekten  changierende Film zieht alle Register dieser absurden Konstellation, die in ihrer Zuspitzung an Bora Ćosić, den aus Zagreb stammenden serbischen Schriftsteller erinnert (“Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution”). Es versteht sich, dass die komödiantische Präsenz der Schauspieler diesen Film dominiert, aber wie bei Ćosić  werden hier die politischen Behauptungen und gerade auch der allseits postulierte Nationalismus im Fokus der familiären und persönlichen Beziehungen und der alltäglichen Nöte der Lächerlichkeit preisgegeben. Von diesem Film mit seinen oft auch düsteren Bildern einer komplexen conditio humana geht am Ende doch Optimismus aus. Befremdlich, dass er bei Festivals in Montreal und im kalifornischen Santa Barbara wichtige Preise erhielt, in Europa aber noch kaum wahrgenommen wurde.

Ein Festival, das unverwechselbar ist

Das heutige Timişoara ist unübersehbar ein Ort des Aufbruchs in den neuen EU-Mitgliedsländern. Wer auf der kurzen Fahrt von der barock geprägten Altstadt mit ihren weiten, von Kirchen und Palais gesäumten Plätzen zu einer Shopping Mall, deren Größe und Angebotsvielfalt in einer vergleichbaren westeuropäischen Stadt wohl kaum anzutreffen ist, zwischen Großbaustellen und in einem Wald von Baukränen im Stau steckt, spürt intensiv den wirtschaftlichen Boom, der diese Stadt ergriffen hat. Aber ganz offensichtlich geht es der Stadt auch um die Entwicklung ihrer kulturellen Ausstrahlung. Immerhin wurde Timişoara gemeinsam mit dem fast benachbarten Novi-Sad in Serbien und der griechischen Küstenstadt Elefsina für das Jahr 2021 zur Kulturhauptstadt Europas ernannt.

Auch insofern macht es Sinn, dass man von nun an im Wettbewerbsprogramm auch Filme aus den Staaten des früheren Jugoslawien, aus Bulgarien und Griechenland, also vom Balkan, hinzunimmt. Ein Filmfestival wie CEFF könnte gerade wegen seines besonderen Profils  für die kulturpolitischen Ambitionen von Timişoara eine wichtige Rolle spielen. Auf jeden Fall wird man gut beraten sein, an der von Radu Gabrea entwickelten Konzeption prinzipiell festzuhalten. Denn gerade sie entspricht auch dem spezifischen genius loci, erdet dieses Festival kulturpolitisch nachhaltig und macht es unverwechselbar. So könnte es durchaus neben den anderen Festivalaktivitäten in Rumänien, die gelegentlich auch wie eine Kinokarawane von Stadt zu Stadt ziehen, selbst neben dem sehr viel größeren und meist beachteten Transilvania International Film Festival (TIFF), das schon seit 2001 im siebenbürgischen Cluj stattfindet, bestehen.

© Wolfgang J. Ruf – Oktober 2017