Oberhausen zum Fünfzigsten. Ein Festivalbericht von Alexander Deeg



Es gibt Jubilare, denen sieht man ihr Alter nicht an. Das Oberhausener Kurzfilmfestival ist so einer. Zum Fünfzigsten steckt es voller Ideen und Kreativität. Noch immer gilt: Ein Kurzfilm in Oberhausen muss nicht einfach nur „gut gemacht“, sondern immer auch neu sein, muss „alternative Varianten zur bestehenden Wirklichkeit“ liefern – so Lars Henrik Gass, der das Oberhausener Festival seit 1997 leitet. Und so sah man auch in diesem Jahr in Oberhausen Bilder, die man noch nicht gesehen hat: filmische Experimente jenseits der Genres und Konventionen, der Mode und des Jargon, mal mehr und auch mal weniger gelungen. Man sah Filme aus etwa 40 Ländern, Dokumentationen, Spielfilme und Animationen, Beiträge von 30 Sekunden bis zu annähernd 40 Minuten Länge. Und man sah den Bundeskanzler – bereits am Abend der Eröffnung. Gerhard Schröder hatte sich auf den Weg in den 117 m hohen, optisch und akustisch beeindruckenden Oberhausener „Gasometer“ gemacht, um seine Wertschätzung dem Kurzfilm gegenüber zum Ausdruck zu bringen und mit den geladenen Gästen zurück zu blicken auf 50 Jahre Oberhausen und damit auf 50 Jahre cineastische Innovation.

 

50 Jahre Innovation

Das Innovative in Oberhausen war lange Jahre primär das Politische. Unter dem Motto 'Wege zum Nachbarn' bot das Festival vor allem osteuropäischen Filmen eine Leinwand im Westen, ermöglichte den Austausch über die Mauer hinweg, ließ für wenige Tage Wirklichkeit werden, worauf das geteilte Europa noch bis zum 9. November 1989 oder gar 1. Mai 2004 warten musste. 1972 feierten die Kurzfilmtage frenetischer als jeden Film die Ablehnung des Misstrauensvotums gegen Willy Brandt im Deutschen Bundestag und die Bestätigung seiner Ostpolitik – eine Politik, die in Oberhausen schon seit den 50er Jahren Tradition hatte.

Nicht nur mit dem Weg zum Nachbarn im Osten verbindet sich der Name „Oberhausen“; mindestens ebenso deutlich ist er auch mit dem Jungen Deutschen Film verknüpft, wie ihn das „Oberhausener Manifest“ ankündigt: „Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen“, hieß es da am 28.2.1968 unter anderem.

All das hätte es ohne Hilmar Hoffmann nicht gegeben. 1954 gründete er die Westdeutschen Kulturfilmtage – und war auch diesmal, beim fünfzigsten Festival, von Anfang bis zum Ende dabei. In den 50er Jahren betonte er vor allem die „volksbildnerische Funktion“ des Festivals; heute blickt er mit Wohlwollen auf die vielen Experimente und die neue Ästhetik der Kurzfilme.

 

68 Filme im Wettbewerb

Seit Hilmar Hoffmanns Anfang im Jahr 1954 hat sich nicht nur die Ästhetik verändert. Auch quantitativ ist Oberhausen zu einem anderen Festival geworden. 45 Einzelfilme aus drei Ländern waren es, die 1954 gezeigt wurden. Heute hatte die Auswahlkommission mehr als 5000 Einsendungen aus annähernd 90 Ländern zu sichten. 68 Filme aus 36 Ländern schafften es in den Internationalen Wettbewerb. Verschiedenstes kam auf der Leinwand der Oberhausener Lichtburg zusammen – und harmonierte nicht schlecht. Es gab nicht den neuen Trend, die neue Bewegung. Im Gegenteil: das Spannungsfeld, in dem sich Kurzfilme in Oberhausen verorteten, war riesengroß. Etwa zwischen den Polen eines lauten, schrillen, schnellen Kurzfilms, dessen Ästhetik der des Musikvideos nahe kommt. Marsa Abu Galawa, ein Werk von Gerard Holthuis, zwölfeinhalb Minuten aus den Niederlanden war so ein Film. Die treibende Musik des Ägypters Abdel Basset Hamouda gibt den Rhythmus der Bilder vor und lässt die Aufnahmen aus der Tiefe des Roten Meeres zu einer Collage der Farben und kaum noch erkennbaren Formen verschwimmen. Daneben zeigte Oberhausen leise Filme, die von der Kraft ihrer langen Einstellungen und ihrer filmischen Symbolsprache leben. Beide Filme, die sich den Großen Preis der Stadt Oberhausen teilten, waren solche: Od – El camino (Od – Die Straße, Kolumbien 2003), ein Video von Martín Mejía, ist von Edward Muncks und Caravaggios Bilderwelt inspiriert und führt in dichten und ruhigen Einstellungen, die wie Gemälde die Leinwand füllen, die Gedanken und Gefühle eines Vaters vor Augen, dessen einziger Sohn an einer Krankheit leidet. La Tresse de ma mère (Der Zopf meiner Mutter, Frankreich 2003) von Iris Sara Schiller zeigt 13 Minuten lang vor allem Haare: Haare einer alten Mutter und ihrer Tochter. Lange Haare, die zu einem Zopf geflochten und wieder gelöst werden und so die Ambivalenz der Mutter-Tochter-Beziehung sichtbar werden lassen.

 

40 Jahre kirchliche Begleitung

50 Jahre Oberhausen – dieses Jubiläum blieb nicht allein. Seit 40 Jahren ist INTERFILM mit einer Jury auf dem Festival vertreten; bereits ein Jahr vorher war eine katholische Jury vor Ort. Seit 2000 arbeitet eine ökumenische Jury aus der katholischen Kirche und INTERFILM zusammen. Grund genug für einen Jubiläumsempfang und eine 90-minütige Retrospektive auf kirchliche Preisträger aus 40 Jahren, die deutlich machte, wie unterschiedlich Filme sein können, die mit einem kirchlichen Preis ausgezeichnet werden.

Unterschiedlich wie die drei Filme, die von der diesjährigen ökumenischen Jury bedacht wurden. Nach langen, engagierten und gleichzeitig humorvollen und sensiblen Diskussionen einigten sich die (leider nur) eine Frau und vier Männer der diesjährigen Jury darauf, einem Dokumentarfilm den diesjährigen Preis der Ökumenischen Jury zu verleihen und zwei Spielfilme lobend zu erwähnen.

 

Ein Preisträger, zwei Lobende Erwähnungen

Der Preisträger Britanya stammt von der 1959 geborenen niederländischen Regisseurin und Dozentin Marjoleine Boonstra (NL, 2003, 35’). Er führt Menschen mitten in Europa vor Augen, Menschen auf der Flucht. Ihr Ziel: Britanya, England. Nun aber hängen sie fest in der Nähe des Eurotunnels und versuchen, unerkannt auf einem Lastwagen ans ersehnte Ziel zu gelangen. Der Film zeigt eindrucksvolle Bilder von Zäunen und Mauern, beleuchteten Schiffen auf dem Weg nach England, denen die Kamera hinterher sieht, vor allem aber Bilder von Männern und Frauen. Lange ruht die Kamera auf ihren Gesichtern. Die Regisseurin hält sich zurück. Deutet nicht, kommentiert nicht. Sie lässt die gezeigten Menschen reden, in ihrem Tempo, ihrem Rhythmus. Als Betrachter muss ich mir Zeit nehmen und werde konfrontiert mit dem Angesicht der Flüchtlinge. Britanya inszeniert so, was Emmanuel Lévinas in vielen seiner Texte beschrieb: Das Angesicht des Anderen fordert mich heraus, lässt mich nicht in Ruhe, führt mich zum Nachdenken, zur Empathie, zur Stellungnahme – ein herausragender Film zu dem viel bearbeiteten Thema der Migration.

Herausragend war auch WASP von Andrea Arnold (Die Wespe, GB 2003). Arnold, die bereits 2002 mit einem Film in Oberhausen vertreten war, inszeniert einen dramaturgisch klaren Film. In der Hauptrolle: eine junge Frau, Mutter von vier Kindern, arm, allein erziehend. Der Film charakterisiert die Lebensverhältnisse der jungen Frau in wenigen, eindrucksvollen Szenen – etwa der Szene in der Küche, durch deren schmutziges Fenster man einen Eindruck von der heruntergekommenen Vorortsiedlung erhält, in der die Familie lebt. Als die hungrige Tochter um die Ecke in die Küche blickt, sucht die Mutter nach Essbarem, findet nur verschimmeltes Brot und gibt der Tochter schließlich eine fast leere Packung Zucker in die Hand und die Aufforderung mit: „Iss nicht zuviel davon!“ Als die Mutter David wieder trifft, einen Freund aus Jugendtagen, verleugnet sie ihre Kinder und lässt diese auf der Straße stehen – der dramatische Konflikt, der WASP 23 Minuten lang in Bewegung bringt. Dabei vermeidet WASP den Kitsch – sowohl in der Narration als auch in der im DOGMA-Stil geführten Kamera. Faszinierend auch die schauspielerische Leistung der erwachsenen Hauptdarsteller, besonders aber der Kinder.

Nur vier Minuten lang ist der Schweizer Film Les Tartines (Die Schnittchen) von Anthony Vouardoux und Tania Zambrano-Ovalle. Es geht um Liebe und Sex – und darum, wie man von beidem reden kann. Es geht auch ums Essen, um Schnittchen mit Butter, deren Zubereitung man auf der Leinwand selten so unaufgeregt erotisch gesehen hat wie in dem vierminütigen Streifen, der zweiten lobenden Erwähnung unserer Ökumenischen Jury und einem der wenigen Filme des Festivals, die das, was man gelingendes Leben nennen könnte, zeigen – ohne die Gefahr kitschig oder banal zu werden.

 

Ein Wunsch

Während des Festivals konnten sich Schülerinnen und Schüler Videokameras ausleihen und die Passanten in der Oberhausener Fußgängerzone nach ihren Eindrücken befragen – und vor allem nach ihren Wünschen für die Zukunft der Kurzfilmtage. Als mir das Mikrofon vors Gesicht gehalten wurde, sagte ich den dämlichen Satz in die Kamera: „Ich wünsche Oberhausen, dass es so bleibt, wie’s ist.“ – Wer weiß: vielleicht ist der Allerweltssatz im Blick auf Oberhausen gar nicht so dämlich. Ein Oberhausen, das bleibt, was es ist, wird sich ständig verändern, nicht einfach nur „gut“ sein, sondern vor allem innovativ. Wie diesmal zum Fünfzigsten.