Rezension der Biografie von Christian Jungen. Von Hans Hodel

Anlässlich der Berlinale 2018 wurde Christian Jungens Biografie über Moritz de Hadeln (*1940) mit dem Titel „Mister Filmfestival“ vorgestellt. Weitere Präsentationen fanden kurze Zeit danach u.a. auch anlässlich des Festivals Visions du Réel in Nyon statt, wo der Rezensent zugegen war.

Sieben Jahre lang hat der Schweizer Filmkritiker Christian Jungen, Kulturchef der „Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag“ und Redaktor der Filmzeitschrift „Frame“ unermüdlich und gründlich für diese Biografie recherchiert. Dafür hat er 15 000 persönliche Dokumente des einstigen Festivalleiters gesichtet und über 200 Stunden Interviews mit ihm und seiner Frau Erika (ohne die eigentlich nichts ging) geführt, sowie über weitere 100 Stunden dauernde Gespräche mit Zeitzeugen und Wegbegleitern. Es ist ein Opus von fast 500 Seiten entstanden, informativ und flüssig wie unterhaltsam geschrieben und zu lesen – an einigen Stellen hätte man gerne noch mehr Details erfahren. Man spürt das vitale Interesse des Autors, die spannungsvollen Herausforderungen zu erforschen, denen sich der kosmopolitisch veranlagte de Hadeln als Festivaldirektor in immer neuen Konstellationen stellte; Nicht eine Hagiographie liegt vor, sondern ein wichtiges Stück Film-, Kultur- und Zeitgeschichte.  
Der 1940 in Exeter geborene und in Italien, der Schweiz und Frankreich aufgewachsene Moritz de Hadeln, ein Engländer mit Schweizer Pass und Wohnsitz am Genfer See, war von 1980-2001 Direktor der Berlinale. Zuvor wirkte er zusammen mit seiner Frau Erika von 1969-1989 resp. 1993 als Leiter des Dokumentarfilmfestivals in Nyon und, parallel dazu, von 1972-1977 als Direktor des Filmfestivals Locarno; nach der Berlinale war er für kurze zwei Jahre Festivaldirektor in Venedig (Das Wunder vom Lido. S. 421) und schliesslich wagte er die Leitung eines zum Scheitern verurteilten Experiments für ein neues Festival in Montréal (Mission Impossible, S. 451).


Was in der Publikation für die Adressaten dieser Besprechung nur zwischen den Zeilen zu lesen ist: Als Festivaldirektor in Locarno gehört Moritz de Hadeln zu den Initiatoren und Wegbegleitern der von INTERFILM und SIGNIS (damals OCIC) getragenen Ökumenischen Jury, zunächst in Locarno (1973), dann auch am Dokumentarfilmfestival Nyon (1978) und schliesslich auch an der Berlinale (1992). Der Rezensent begegnete Moritz de Hadeln und seiner Frau Erika erstmals 1987 in Nyon, wobei er nicht nur über Moritz als Gastgeber staunte (im Nachgang zur Preisverleihung servierte er der überschaubaren Gästeschar Käse-Raclette), sondern vor allem über das Programm, das auch eine innovative Retrospektive des Filmschaffens in den baltischen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen bot – die ökumenische Jury zeichnete damals (S.106)  Herz Franks Dokumentarfilm „Das letzte Gericht“ (Lettland 1987) aus. Und er erinnert sich immer noch an die nachfolgenden Retrospektiven über das armenische (1988) und rumänische (1990) Filmschaffen, die anschliessend an der Berlinale zu sehen waren.

Wie Nyon zum Mekka des Dokumentarfilms geworden ist und wie die de Hadelns trotz der hochstehenden Qualität ihres Programms angesichts verschiedener Umstände schliesslich an den fehlenden Subventionen scheiterten, schildert Christian Jungen nach einem Einblick in de Hadelns Jugend und Abenteuer als Fotograf und Filmemacher (S. 72-113). Dass er familiäre und private Aspekte als Teil des Festivalbetriebes immer wieder einbezieht, gibt dieser symbiotischen Lebens- und Filmgeschichte eine sympathisch berührende Note.  

Locarno als Brücke zwischen Nyon und Berlin 

Das Engagement für Nyon (heute das Festival Visions du Réel) bildet eine kreative Klammer zwischen Locarno und Berlin. Zwar charakterisiert Moritz de Hadeln selber die Zeit in Locarno wegen verschiedener massiver Probleme, die er zu bewältigen hatte, als eine „unglückliche“ Episode. Er beendete sie Ende 1977 mit seinem Rücktritt. In der Tat hatte er von allem Anfang aufgrund der Geschichte des 1946 gegründeten Festivals mit unterschiedlichen und gegensätzlichen Erwartungen zu kämpfen. Politik und (katholische) Kirche „geisselten das Festival als Eldorado für Kommunismus und Sozialisten, weil zahlreiche Filme aus osteuropäischen Ländern und aus linken Staaten Lateinamerikas zu sehen waren“ (S. 117).

Aber auch die Schweizer Filmbranche war sich uneinig über die Ausrichtung des Festivals. In  der Presse der deutschen Schweiz wurde de Hadelns Ernennung zwar begrüsst; für die Tessiner dagegen galt er als „l’uomo di Berna“. Für den heutigen Festivalpräsidenten Marco Solari spielte Moritz de Hadeln eine „riesengrosse“ Rolle, weil er es mit seiner weltoffenen und weitsichtigen Programmierung schaffte, verheissungsvolle Regisseure wie Andrej Tarkowskij mit seinem Film „Andrej Rubljow (1972), Mike Leigh (1972), Pier Paolo Pasolini (1973), Istvan Szabo (1974) und Derek Jarman (1976) nach Locarno zu holen, so dass das Festival unter seiner Leitung nach Jahren der Krise international stärker wahrgenommen wurde. Dass 1973 der Goldene Leopard an Krzysztof Zanussi für seinen Film „Iluminacja“ ging, brachte Polen in Verlegenheit; insbesondere waren die zuständigen Behörden über den Preis der Ökumenischen Jury irritiert und Zanussi, der nicht einmal wusste, dass sein Film in Locarno im Wettbewerb lief, sollte erklären, dass er diesen Preis nicht möge.

Gesuchte wie ungelegene Skandale wie derjenige um den in Springerstiefeln, Lederjacke und abgewetzten Jeans anreisenden Rainer W.Fassbinder und eines aus dem Grand Hotel verschwundenen Gobelins brachten de Hadeln freilich nicht aus der Ruhe. Etwas anders verhielt es sich im Fall des Films „Storie scellerate“ von Sergio Citti, gegen dessen Aufführung der Bischof von Lugano protestierte (S. 182). Schon bevor er nach Locarno kam, war das Festival u.a. auch für die katholische Kirche und einige ihrer Geistlichen in Locarno ein rotes Tuch, wie er sagt. Da waren für ihn die guten Kontakte, die er in Nyon mit Filmverantwortlichen der katholischen und protestantischen Kirche in der deutschen und französischsprachigen Schweiz pflegte, sehr hilfreich (S.180, 185), und diese führten 1973, wie oben erwähnt, zur Einsetzung der ersten ökumenischen Jury. Während es Moritz de Hadeln gelang, das Fenster nach Osten offen zu halten, blieben die Kontakte zu Hollywood  schwierig. Umso mehr spielte der anfangs der 70er Jahre in Blüte stehende Schweizer Film eine wichtige Rolle. Jungen focussiert dessen Präsenz in einem besonderen Kapitel auf Daniel Schmid und Alain Tanner, deren Filme auf der Piazza gezeigt wurden. 

Brücken bauen zwischen Ost und West

Die Zeit nach dem Rücktritt als Festivaldirektor von Locarno sei (aus verschiedenen Gründen) „eine der schwierigsten Perioden seines Lebens“ gewesen, sagt Moritz de Hadeln. Er war zwar nach wie vor Direktor des Dokumentarfilmfestivals Nyon, stand aber ansonsten vor manchen Zukunftsfragen. Umso überraschender kam die Anfrage aus Berlin, ob er die Nachfolge von Wolf Donner als Direktor der Berlinale anzutreten bereit wäre. Die Kapitel über den Verlauf dieser Berufung lesen sich vierzig Jahre später und nach der Berufung des Italieners Carlo Chatrian zum Nachfolger von Dieter Kosslick besonders spannend.

Über 200 Seiten, fast die Hälfte des Buches, widmet Jungen dem Wirken von Moritz de Hadeln als Berlinale-Direktor von 1980-2001, der sich aufgrund seiner Kompetenz und gegen alle Feinseligkeiten eines Teils der deutschen Filmkritik 22 Jahre lang halten konnte, und dies, obwohl er angeblich nie Teil der Berliner Gesellschaft und populär geworden ist, sich nicht anbiederte und in seiner Programmpolitik unbestechlich blieb.


Der Klappentext fasst Jungens Blick hinter die Kulissen der Filmfestspiele treffend zusammen: „(Er)schildert, wie Moritz de Hadeln gegen Zensur und Boykotte kämpfte und sich gegen Einmischungen von Politikern ins Programm wehrte. Er zeigt auf, wie de Hadeln sein diplomatisches Geschick zur Zeit des Kalten Krieges zugutekam, als er Filme aus den sozialistischen Staaten und China in den Westen brachte und sie bekannt machte. Er berichtet von den Macken der Stars, Eklats in den Jurys und der Rivalität unter den Festivals, lässt de Hadeln erzählen von besonderen Begegnungen mit Stars wie Gina Lollobrigida, James Steward oder Billy Wilder, und wie er mit den Hollywood-Studios über Film-Premieren verhandelte.“ Pikantes Detail: nachdem 1982 mit dem neu geschaffenen Ehrenbären für James Steward zwölf Jahre später auch Gregory Peck diese Auszeichnung erhalten sollte, interessierte sich auch Billy Wilder dafür und meldete gleichzeitig den Wunsch an, wie Peck in einer Kempinski-Suite zu logieren… 

Spannender sind die Berichte über die Beziehungen zur DDR und die Jahre von Glasnost und Perestroika. Schon während Nyon und Locarno bzw. der kalten 70er-Jahre hatte de Hadeln Kontakt zum Filmschaffen in der DDR; für den neutralen Schweizer war dieser noch etwas einfacher zu praktizieren als in der Position des Berlinale-Direktors, deshalb hängte er gelegentlich in seinem Büro eine Schweizer Fahne an die Wand, wenn er den DDR-Senator für kulturelle Angelegenheiten empfing. Im Kapitel über die Tresorfilme aus der UdSSR erfahren wir u.a., wie es im Juni 1986 dazu kam, dass Moritz de Hadeln anstelle des Variety-Reporters Ron Holloway den Slawisten und Filmhistoriker Hans-Joachim Schlegel als Delegierten für Osteuropa in sein Team aufnahm (S. 306f.) und wie die Telexgeräte heiss liefen, als es 1987 um die Programmierung von „Thema“ von Gleb Panfilow, „Gramvolle Gefühllosigkeit“ von Alexandr Sokurow und „Abschied von Matjora“ von Elem Klimow ging. Und dann brachte er 1988 auch „Die Kommissarin“ von Alexander Askoldovin in den Wettbewerb, der zwanzig Jahre lang tot geschwiegen worden war.

An dieser Stelle (S. 339) ist eine kleine Korrektur nötig: Es gab damals an der Berlinale noch keine Ökumenische Jury von OCIC und INTERFILM, obwohl Moritz de Hadeln darauf hin gearbeitet hatte. Diese wurde schliesslich  erst 1992 eingerichtet. Richtig müsste es heissen, dass der Film, neben dem Silbernen Bären und dem Fipresci-Preis der internationalen Filmkritik, den Otto-Dibelius-Filmpreis der INTERFILM-Jury sowie den Preis des internationalen katholischen Filmbüros (OCIC) erhielt. Analog dazu muss auch der Hinweis auf S. 404 bezüglich „Je vous salue, Marie“ von Godard korrigiert werden. Er erhielt nicht einen ökumenischen Preis, sondern ebenfalls den Otto Dibelius-Filmpreis der INTERFILM-Jury – nicht unumstritten, wie Julia Helmke in ihrer Doktorarbeit „Kirche, Film und Festival“ von 2005 darlegt. 

Nicht nur INTERFILM-Mitgliedern und jenen unter ihnen, die in Nyon, Locarno und Berlin in einer Jury waren, empfehle ich die Lektüre dieser bewegenden Biografie über Mr. Filmfestival nachdrücklich; als Reflexion über den internationalen Stellenwert des Films in Zeiten kultureller und politischer Umbrüche ist  sie für alle Filmliebhaber und Festivalbesucher eine höchst anregende Lektüre.  

Christian Jungen, Moritz de Hadeln - Mister Filmfestival, rüffer&rub Sachbuchverlag Zürich 2018, 478 S. – CHF 34,50.00, € 29.80 – ISBN 978-3-907625-98-9. Bestellmöglichkeiten auch via www.ruefferundrub.ch; Mail: info@ruefferundrub.ch; Phone: 0041-(0)44 381 77 30.