Kleine Betrachtung zum 24. Internationalen Filmfestival für Kinder und junges Publikum SCHLINGEL


Chemnitz hat es nicht leicht gehabt im vergangenen Jahr, wie es angesichts der Fernsehbilder gewaltbereiter Neonazis andererseits auch schwerfiel, die Weltoffenheit der Stadt zu sehen. Dem entgegen steht das Internationale Filmfestival für Kinder und junges Publikum SCHLINGEL, das in diesem Herbst bereits zum vierundzwanzigsten Mal stattfand und mit 233 Produktionen aus 52 Ländern rund fünfundzwanzigtausend Besucher in die Kinos lockte.

128 Filme maßen sich im Wettbewerb, die Ökumenische Jury sah davon sechzehn, wobei wir uns – um das gleich vorneweg zuschicken – durchaus einen noch weiteren Blick auf die Welt gewünscht hätten. In den Filmen, die wir sahen, blieb die Mehrzahl der Helden weiß; people of colour tauchten allenfalls als Problemfälle, weniger als Identifikationsfiguren auf. Mag sein, dass Deutschland im Ausland als Einwanderungsland gilt; in den Filmbildern ist das als Selbstverständlichkeit noch keineswegs angekommen.


Was bedauerlich ist, denn der Blick über den eigenen Tellerrand bereichert ungemein, obwohl er stellenweise unverständlich blieb wie im Film des Kirgisen Mirlan Abdykalykov Barfuß zu den Sternen, dessen vielschichtige Bezüge auf die Symbolik seines Landes sich dem uneingeweihten Betrachter nur bedingt erschlossen. Doch zeigte sich auch hier, was beinahe jeden Film wie ein klagender Basso continuo durchzog: Kinder, seien sie arm oder reich, weiß oder schwarz, ob sie in Kirgistan, Frankreich, Norwegen oder Deutschland leben, wollen vor allen Dingen eins: Sie möchten geliebt werden von ihren Eltern. Und sie lieben ihre Eltern - bedingungslos, mitunter bis zur Selbstaufopferung. Kinder kochen und putzen und versorgen ihre jüngere Geschwister, während die Väter ihren Rausch ausschlafen und sich die Mütter längst davon geschlichen haben (The Runaways von Richard Heap und VS von Ed Lilly, beide aus Großbritannien, oder eben Barfuß zu den Sternen). Sehen sie die Würde ihre Eltern bedroht, lügen sie notfalls, selbst wenn es sie in arge Schwierigkeiten stürzt (Lügen haben kurze Beine von Julien Rappenau aus Frankreich). Den Wunsch nach Liebe und Annahme teilen Kinder (wie vermutlich auch Erwachsene) sich weltweit. Dass sich davon allgemein verständlich erzählen lässt, ohne auf kulturelle Eigenheiten zu verzichten, bewies Bori, der mehrfach ausgezeichnete Film des Südkoreaners Jinyu Kim.


Bori wächst in einer glücklichen Familie auf und fühlt sich trotzdem ausgeschlossen, denn anders als die Eltern und der jüngere Bruder kann Bori hören. Nach einem Tauchunfall gelingt Bori die Täuschung: Ihre Umgebung glaubt nun, sie sei ebenfalls ertaubt. Sich selbst kann Bori jedoch nicht betrügen. Erst als sie sich in ihrer Andersartigkeit annimmt und die bedingungslose Liebe ihrer Familie schlichtweg glaubt, fällt die Grenze, die sie bisher als so schmerzhaft trennend empfunden hat.

Bori entzückte auch uns, wirft der Film doch einen erfrischend neuen Blick auf das umstrittene Thema Inklusion, indem er die Frage, wer hier eigentlich behindert ist, beinahe schelmisch kurzerhand umdreht: Gleichheit garantiert noch lange keine Annahme, körperliche Unversehrtheit schafft nicht automatisch Verbundenheit. Lieber dazugehören als hören, denkt Bori. Dass am Ende beides geht, ist wunderbar und eine Erleichterung.

Die Stadt Chemnitz vergab ihren mit 5.000 Euro dotierten Preis an Bori und lag damit beglückend nah am Puls seines Publikums, das seinen Preis ebenfalls Bori verlieh. Wie schön, möchte man da ausrufen, denn womöglich stimmt, was Michael Sagurna, Präsident des Medienrates der SLM (Sächsische Landesmedienanstalt), über diesen Preis sagt, wenn er ihn für den bedeutsamsten des Festival hält, erzähle er doch von dem, was Kino in erster Linie möchte: Es bewegt, es berührt und entlässt uns mitunter sogar verändert aus dem Dunkeln, in jedem Fall aber bereichert mit Anregungen, über die anschließend gesprochen werden kann. „Emotion ist eben kein Emoticon, sondern ein Teil der Empathie, die uns verloren zu gehen scheint“, schreibt Sagurna in seinem Grußwort zum Schlingel. „Es ist das Gefühl für den anderen, die Achtung vor ihm und die sachliche Auseinandersetzung mit seinem Tun. Offen und vorurteilslos. Was kann man tun, dass diese Offenheit für Neues, Anderes, Fremdes erhalten bleibt und nicht unter politisch motivierten Anschauungen verschüttgeht? (…) Ins Kino gehen!“


Ins Kino gehen sollte man auch, um nicht zu vergessen. Nicht die historischen Ereignisse, die auch fürs Heute wichtige Botschaften enthalten. In Fritzi: Eine Wendewundergeschichte von Matthias Bruhn und Ralf Kukula erlebt die zwölfjährige Fritzi das Bröckeln der DDR. Der Animationsfilm eignet sich hervorragend, um über die Vorfälle im Herbst 1989 und das Leben in der DDR zu sprechen. Vor allem diejenigen, die all das nur vom Hörensagen kennen, können die Bilder zu gezielteren Nachfragen anregen, so geschah es auch unmittelbar nach der Filmvorführung: Opa, stimmt es, dass …. Habt ihr wirklich … Und so weiter und so fort. In die Versammlungen rund um die Nikolaikirche in Leipzig gerät Fritzi eher zufällig, nicht weil sie danach sucht, denn sie zeichnet sich durch eine bisweilen schwer zu glaubende Naivität aus; von der Grenze hat sie keine Ahnung. Fritzis staunend-unbefangener Blick dient hier als Erzählanlass für die geschichtlichen Vorkommnisse, die auch dreißig Jahre nach dem Mauerfall wie ein Wunder anmuten, obwohl sie sich vor allem der Tapferkeit jener Ostdeutschen verdanken, die damals auf die Straße gingen.


Angesicht der Morde in Halle an der Saale voll blinden Hasses, die fast zeitgleich zur Filmvorführung verübt wurden, drängte sich die Frage auf, wohin die Kraft dieses umwälzenden Aufbruchs verschwunden ist, der einst so unbeirrt auf seiner Gewaltlosigkeit bestand. Kino als Gesprächsanlass und Denkanstoß.

Dass Eltern in Filmen für junge Leute in gewisser Weise keine Rolle mehr spielen und man sie darum möglichst schnell von der Leinwand verbannen sollte, damit die Kinder ihre eigenen Erfahrungen sammeln können, leuchtet ein. Doch warfen die Anlässe, mit denen dies in Chemnitz in den meisten Filmen geschah, ein eher betrübliches Licht auf unsere Zeit, zumindest falls man Kino als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen begreift. Die Rollen haben sich verdreht, es sind die Eltern, die verloren gehen und Hilfe benötigen, und die Kinder, die sie trösten. Angesichts von Selbstmord (Harajuku von Eirik Svensson, Norwegen) oder Tod durch übermäßigen Alkoholkonsum (The Runaways) erscheint es beinahe harmlos, wenn Eltern schlichtweg keine Zeit für ihre Sprösslinge haben und sie zum unbekannten Großvater ins Nirgendwo abschieben, weil sie selbst zu Weihnachten noch arbeiten müssen wie im estnischen Zaubereulenwald von Anu Aun, der gleich drei Preise erhielt (Preis der Fipresci-Jury, Diamant-Preis für die beste Kinderdarstellerin, Europäischer Kinderfilmpreis der sächsischen Kunstministerin). In Auns opulentem Naturdrama mit anmutigen Tieraufnahmen, das wie ein aus dem Bilderbuch entsprungenes Märchen wirkt, versucht Eia nicht allein ein Stück unberührter Natur zu retten, sondern obendrein die zerstrittene Familie wieder zu vereinen. Was ihr am Ende gelingt und sicherlich auch darum den Applaus der internationalen Jury fand (17 Kindern aus neun verschiedenen Nationen vergaben den mit 12.500 dotierten Europäischen Kinderfilmpreis). Vilde im norwegischen Harajuku lässt indessen ihren schuldgeplagten Vater nicht so leicht davonkommen. Ob die beiden jemals zueinander finden, bleibt fraglich, zumal Vilde in ihrem Kummer über die mangelnde Liebe ihrer Eltern nicht ohne Weiteres die Rollen tauscht und zur Trösterin des Vaters mutiert; lieber träumt sie weiterhin von Harajuku, dem Glücksort im fernen Japan.


Gänzlich andere Wege geht Théo in Lügen haben kurze Beine. Théo möchte den Vater vom Griff zu Flasche heilen, notfalls greift er dafür auch zu einer Lüge: Denn es stimmt nicht, dass ihn der englische Fußballclub Arsenal für die Probemannschaft angeworben hat: Théo ist zu klein. Um seinen Vater nicht zu enttäuschen, webt er mit Hilfe eines Hackerfreundes ein engmaschiges Gespinst aus Täuschungen, das den Vater dergestalt beflügelt, dass er das Trinken vorübergehend einstellt – wie auch der kleine Ortsverein und das gesamte Dorf urplötzlich aufblühen. Doch nicht nur Théo, auch Lügen haben kurze Beine. Théos Betrug kommt ans Licht – aber auch die Liebe zu seinem Vater. Es ist jedoch ein weitaus soliderer Ausgangspunkt, um dauerhafte Veränderungen anzugehen, wenn man sich der eigenen Lebenswirklichkeit stellt. Der Jury der Sächsischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien (SLM) gefiel der Film so gut, dass sie ihm ihren Hauptpreis gab, stolze 10.000 Euro.

Uns gefiel er auch, doch beeindruckte uns letztlich kein Film so sehr wie das Spielfilmdebüt von Sarah Winkenstette: Zu weit weg.


Der elfjährige Ben will spielen, kämpfen, allen zeigen, dass er der unschlagbare allseits bewunderte Stürmer ist. Stattdessen verbannt ihn der neue Trainer auf die Ersatzbank, und wenn Ben überhaupt zum Zug beziehungsweise an den Ball kommt, spielt er Abwehr. Ben, der durch den Tagebau sein Dorf verliert und umziehen muss, erfährt, dass er ersetzbar ist und trotz aller Technik keine Nähe herstellen kann, weil er sie nicht in sich trägt; da nützt auch die beste Internetverbindung via Skype nichts. Tariq, der Flüchtlingsjunge aus Aleppo, ebenso unbehaust wie Ben, zeigt Ben dagegen gänzlich uneigennützig seinen legendären Move, mit dem er den Ball zielsicher ins Tor tänzelt; Tariq teilt, auch wenn er kaum etwas zum Teilen hat.

Es sind entwürdigende Erfahrungen für Ben, doch sein Trainer sieht mehr. Und weiter. Er weiß: Ein Team gewinnt nur, wenn jeder sich als Teil des Ganzen begreift und bereit ist, den Ball auch an die anderen abzugeben.


„Wenn du als Freund zu weit weg bist, wirst du eben mein Bruder“, sagt Tariq am Ende zu Ben und schließt Blutsbruderschaft mit ihm. Denn ob wir einander nah sind oder fern und zu weit weg, entscheidet nicht allein die Geographie, Grenzen entstehen in den Köpfen. Winkenstettes Film mit den feinfühligen vielschichtigen Dialogen von Susanne Finken, die so leichtfüßig dahinperlen, dass sich ihre Tiefe erst auf einen zweiten Blick erschließt, erzählt davon beredt. Das sah das Goethe Institut ähnlich und vergab seinen Preis ebenfalls an Zu weit weg. Damit wird der Film der Weydemann Bros. aus Köln in mindestens fünf Sprachen untertitelt und weltweit zu sehen sein. Wir wünschen dem Film viel Erfolg, ist er doch obendrein ein wunderbarer und wichtiger Beitrag zur Flüchtlingsdebatte. Denn ähnlich wie der südkoreanische Bori dreht er die herkömmlichen Herangehensweisen und Denkmuster um, indem er danach fragt, ob wir bei aller Willkommenskultur denn selbst schon angekommen sind.

Für 2025 bewirbt sich Chemnitz um den Titel der europäischen Kulturhauptstadt. Man kann der Stadt nur wünschen, dass es klappt. Der Schlingel, der auch in seinem vierundzwanzigsten Jahr ungebrochen energiegeladen durch die Kinosäle stürmte, als würden Schlingel nie erwachsen werden, ist in jedem Fall ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg dorthin.