Das 53. Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm vom 18.-24.10.2010 ist mit einem neuen Zuschauerrekord zu Ende gegangen. 35‘000 Besucher sahen 346 Filme in 12 Kinosälen, - durchschnittlich gingen also fast 6‘000 Besucher pro Tag in die DOK-Kinos. Damit konnte das letztjährige Rekordergebnis sogar noch übertroffen werden. Und Festivaldirektor Claas Danielsen konnte sich insbesondere darüber freuen, dass das ausserordentlich junge Publikum auch komplexe Filme hoch konzentriert angesehen und dann lebhaft diskutiert hat. „Damit hat es sich genau jene Filme angesehen, welche die TV-Programmverantwortlichen, wenn überhaupt, erst im nächtlichen Abseits senden“, hielt er in einer Schlussbilanz fest. Er kann sich aber auch darüber freuen, dass all die neuen Angebote, die er in den letzten sechs Jahren rund um das Festival aufgebaut hat, jetzt optimal ineinander greifen und DOK Leipzig in der Branche wieder zu einem der führenden internationalen Dokumentarfilmfestivals gemacht haben
DOK Industry – eines der wichtigsten Branchentreffen
Mit 1‘421 akkreditierten Fachbesuchern vermeldet das Festival einen weiteren Rekord. Ein Zeichen dafür, dass die DOK Industry–Branchenangebote für Filmemacher, Redakteure, Dokumentarfilmproduzenten und –einkäufer aus aller Welt immer wichtiger werden. So wurden auch in diesem Jahr der digitale DOK-Markt des Festivals sehr intensiv genutzt. Insgesamt 4‘617 mal riefen Fachbesucher die Filme auf. Für die Pitching-Veranstaltung der Documentary Campus Masterschool waren TV-Redakteure der weltweit wichtigsten TV-Stationen angereist, um sehr spannende und innovative dokumentarische Filmprojekte für ein internationales Publikum zu entdecken. Unter den hochkarätig besetzten Panels ist vor allem dasjenige zur Zukunft der deutschen Filmförderung zu nennen, das spannend und kontrovers diskutiert wurde. Es war die AG DOK, die zusammen mit DOK Leipzig namhafte Vertreter deutscher Film- und Medienförderungen eingeladen haben, um im Rahmen der GERMAN DAY über das gegenwärtig sehr virulente Thema zu diskutieren.
Kaukasische Lektionen
Ein von Barbara Wurm kuratiertes Sonderprogramm zur Diskussion des Dokumentarfilms in der Kaukasus-Region erscheint uns besonders verdienstvoll und erwähnenswert. Rund zwanzig Filme aus Armenien, Aserbeidschan und Georgien mit je spezifischem Focus auf lokale Konfliktherde, einem Politthriller im Internationalen Programm (Something About Georgia von Nina Kirtadze, Georgien/Frankreich 2009), ein Exildrama im Cottbus-Special (Women From Georgia von Levan Koguashvili, USA/Georgien 2009), boten Gelegenheit, sich mit der Entwicklung einer Region auseinanderzusetzen, die auf das Zauberwort „Kaukasus“ hört und seit dem Zerfall der UdSSR vor zwanzig Jahren geprägt ist von einem anhaltenden Prozess der Zerbröselung uns Zersetzung, der Auflösung und des steten wie unüberschaubaren Neuanfangs. In einem solch fragilen Raum-Zeit-Gefüge hat der Dokumentarfilm eines ganz besondere Funktion. Zu sehen waren als Eröffnungsfilm u.a. Border von Harutyun Khachatryan (auch bekannt als Direktor des Filmfestival „Golden Apricot von Yerevan) und A Story of People in War and Peace von Vardan Hovhannisyan (Armenien 2007), der 2007 am Golden Apricot Film Festival Yerevan von der Ökumenischen Jury mit ihrem Preis ausgezeichnet wurde.
Internationaler Wettbewerb – Preis der Ökumenischen Jury
Bei aller Würdigung der zahlreichen Branchenangeboten und Sonderprogramm soll natürlich der Kern des DOKFestivals nicht ausser Acht gelassen werden, der sich u.a. im Internationalen Programm in den Jurys für den Internationalen Wettbewerb für Dokumentarfilme (über 45‘), der Deutschen Jury für Dokumentarfilm (bis 45‘) und der Internationalen Jury für Nachwuchs-Dokumentarfilm manifestiert. Zudem gab es das von einer eigenen Jury beurteilte internationale und deutsche Programm für Animationsfilme.
Was soll ein Dokumentarfilm? Wann wird er seinem Auftrag gerecht und wer definiert diesen überhaupt? Darf, muss es eine Haltung geben? Es war auffällig, wie rasch man bei Diskussionen der Wettbewerbsfilme in Leipzig 2010 auf diese grundsätzlichen Fragen kam und es sprach für die Qualität des Jahrgangs bzw. der Auswahl, dass man diese Fragen auch besprechen musste. Unterschiedlicher als in diesem Ensemble von Filmen konnten die Ansätze kaum sein.
Dem Himmel ganz nah von Titus Faschina (Deutschland/Rumänien 2010) – eine durchaus beeindruckende Pastorale, einer der in diesem Genre so beliebten Schäferfilme, der aber mitunter sich von den eigenen Bildern überwältigen lässt und Elend mit Idyll vermischt, befördert durch brillante Schwarz-Weißfotografie und einen kitschigen Soundtrack.
48 von Susanna de Sousa Dias (Portugal 2009) – formal der eindringlichste und konsequenteste Film. Ein Protokoll der portugiesischen Salazar Diktatur, montiert aus gesprochenen Erinnerungen und Fotografien der Sprechenden vor ihrem Martyrium. Wenn je die Rede vom Film, der im Kopf abläuft seine Berechtigung hatte, dann hier. Der Film war eine zu große Zumutung für das Publikum und für die Jurys.
Das Gegenstück dazu war Gaza on Air von Samir Abdallah (Ägypten/Palästina/Frankreich 2009). Die Absicht der schwer erträglichen Bilder des Leids im Gaza-Streifen in den Wochen israelischer Angriffe ist gut nachvollziehbar, der Ansatz der Konfrontation ist es weniger, er wird keine Bewegung in eine Debatte bringen, die auf Versöhnung ausgerichtet sein muss. Ebenfalls ohne nennenswerte Resonanz blieb Eric Pauwels Versuch, in dem monumentalen Dreaming Films (Belgien 2010) die Geschichte des Dokumentarfilms in einem großen Bogen zwischen Cinema Direct und den poetischen Reflexionen eines Joris Ivens aufzufächern. Ein 8½ des Dokumentarfilms ist daraus geworden, eine Suche nach den Geistern, die Pauwels zu seinen großen Arbeiten inspiriert haben.
Auf Publikumsnähe setzen sichtbar Steam of Life von Joonas Berghäll & Mika Hotakainen (Finnland/Schweden 2010) und Vodka Factory von Jerzy Sladkowski (Schweden 2010) – und gewinnen damit Preise. Bei der Sauna-Saga aus Finnland kann da nicht viel schief gehen, ist doch die Pointe jedem schnell verständlich: so nackt und schweißnass können auch Männer von Gefühlen sprechen, und ob nun Tränen oder Schweißperlen über die bärtigen Wangen laufen, ist dann nicht mehr so wichtig. Ein netter Film, der, so hörte man, in Finnland durchaus Diskussionen auslöste und uns zeigt, das dort für eine Sauna wirklich überall Platz ist. Vodka Factory, der große Sieger des Jahrgangs 2010, wirkt dagegen gewollt, ja, mitunter manipulativ, begleitet seine Protagonistin eher voyueristisch als interessiert. Hier wittert jemand die Story, ein offenes Interesse an den beobachteten Menschen bleibt dabei auf der Strecke.
North of Calabria von Marcin Sauter (Polen 2009) ist in Ästhetik, Tempo und Dramatik eher zurückhaltend. Beiläufig wird die Vorbereitung eines Festes in einem kleine Städtchen geschildert, entlang einzelner Personen, die mehr oder weniger starke Erwartungen an die Feierlichkeiten haben. Die poetisch-ironischen Aufzeichnungen erinnern im Ton an Filme von Otar Iosseliani. Der italienische „Protagonist“ wirkt in dieser Konstellation als Katalysator. Die Bedeutung des Sozialen, der Traditionen und ihrer spielerischen Verschiebungen werden in North of Calabria als solche spürbar, wir werden Zeuge der Entwicklung des Humanen aus dem Alltäglichen. Das gelingt dem Regisseur Marcin Sauter so überzeugend, dass die Ökumenische Jury ihm den Preis für den besten Dokumentarfilm zuerkannte.
Unbedingt erwähnt werden soll hier noch Goodnight Nobody (von Jacqueline Zünd, Schweiz/Deutschand 2010), einem Film, der Menschen zeigt, die nicht schlafen müssen. Oder nicht schlafen können. Schnell zieht einen die Frage in den Bann, was man denn selbst machen würde, hätte man die Zeit und wäre man über die Schlaflosigkeit denn auch so traurig wie die Schlaflosen – und bleibt hellwach in seinem Kinosessel. Zünd scheut sich nicht, die Portraits im Stile eines modernen Independent Kino zu inszenieren (die Faszination der Nacht), aber immer mit großem Respekt vor ihren Figuren.
Neuer Preis „Leipziger Ring“ der Stiftung Friedliche Revolution
Mit dem „Leipziger Ring“ vergab auch die Stiftung „Friedliche Revolution“ (www.stiftung-fr.de) in Kooperation mit dem DOKFestival einen Filmpreis, der mit € 5000 dotiert ist. Die Stiftung wurde erst kürzlich anlässlich des 20. Jahrestages der grossen Montagsdemonstrationen ins Leben gerufen und will die vier grundlegenden Wertemuster der Menschen, die 1989 in den Kirchen und auf den Strassen für den friedlichen Wandel eingetreten sind, in die heutige Zeit überführen: „Keine Gewalt“, „Schwerter zu Pflugscharen“, „Wir sind das Volk“, „Offen für alle“. Sinngemäss war für den Filmpreis gemäss offiziellem Auslobungstext ein künstlerischer Dokumentarfilm gesucht, der das bürgerschaftliche Engagement von Menschen in aller Welt und ihr gewaltloses Ringen um Demokratie, Menschenrechte und die Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen beispielhaft dokumentiert. Es lag an der Festivalleitung, aus allen eingereichten Dokumentarfilmen von mindestens 25 Minuten Länge deren zehn für den Filmpreis zu nominieren. Die thematische Brandbreite reichte vom russisch-georgischen Konflikt (Something about Georgia von Nino Kirtadze) über das Aufbegehren des iranischen Volkes (Twenty Days that Shook Tehran von Ali Razi von) bis hin zum Mord an Menschenrechtsaktivisten in Russland (Love Me Please von Valeriy Balayan). Zur Notwendigkeit gesellschaftlichen Engagements „hatten viele Filme einen starken Bezug“ kommentierte Rainer Vor, der Vorstandsvorsitzende der Stiftung, die Auswahl und nannte als Beispiel u.a. den Film Nach der Revolution von Dörte Franke und Marc Bauder (Deutschland 2010), der die Zeit der Runden Tische zwischen der 89er Herbstrevolution und der Wiedervereinigung behandelt und dafür ostdeutsche Bürgerrechtler interviewt.
Die dreiköpfige Jury, der neben Gerlinde Frey-Vor als Vertreterin der Stiftung ad personam mit Jakob Hoffmann (INTERFILM) und Thomas Bohne (SIGNIS) auch zwei Vertreter der diesjährigen Oekumenischen Jury angehörten, kürte als Preisträger die neuseeländische Produktion There Once Was an Island: Te Henua e Nnoho von Briar March, in dem es um die Folgen des Klimawandels geht. Durch die Erderwärmung und den damit verbundenen bedrohlichen Anstieg des Meerwasserspiegels ist ein kleiner Atoll im Pazifik (auf dem es weder Autos noch Strom gibt) samt seinen 400 Bewohnern unmittelbar betroffen und bedroht. Unter anderem zeige der Film auch „wie vorbildlich in dieser Situation das Handeln der Inselbewohner für demokratisches Miteinander im Geist von Menschenwürde und gegenseitiger Achtung ist“, hält die Jury in ihrer Begründung fest. An der würdevollen Preisverleihung mit Vorführung des preisgekrönten Films in der Nicolaikirche, die im Beisein der Preisträgerin stattfinden konnte, sprach u.a. auch Bernhard Jung, der Oberbürgermeister der Stadt Leipzig in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung. Zugegen war mit Stephen Brown auch ein Vertreter von WACC Europa, welche die Preisverleihung unterstützt hatte.
Erstmals ein ökumenisches „Get Together“
Auch die Präsenz der Ökumenischen Jury ist mit der Wende von 1989 verbunden. Es war die damalige Festivalleitung, die auf SIGNIS und INTERFILM zu kam und sie angesichts der schwierigen Umbruchsituation um Unterstützung des Festivals bat. So kam es, dass bereits 1990 erstmals eine Ökumenische Jury akkreditiert wurde. Allerdings brauchte es (aus welchen Gründen auch immer) längere Zeit, bis ihre Präsenz auch ein Echo in den lokalen Kirchen auslöste. Jetzt ist es erstmals auf Einladung des Stadtökumenkreises von Leipzig zu einem ökumenischen „Get Together“ im Festivalzentrum bzw. Zündkerzenraum im Museum der bildenden Künste gekommen, zu welchem Superintendent Martin Henker und Festivaldirektor Claas Danielsen gut siebzig Besucher begrüssen konnten und Jakob Hoffmann (INTERFILM) als Jurypräsident die Gelegenheit hatte, mit dem in dieser Sache engagierten Leipziger Pfarrer Thomas Bohne und Samuel Petit (beide SIGNIS) und Eva Furrer-Haller INTERFILM) die diesjährige ökumenische Jury vorzustellen. Thomas Bohne war es denn auch, der eine Gruppe filminteressierter Jugendlicher vorstellte, die als informelle ökumenische Jugendjury das Festivalprogramm verfolgen wollten.