Festival-Filme im Überblick
Vom 8. bis zum 15. Oktober 2022 fand in Chemnitz die 27. Edition des Internationalen Filmfestivals für Kinder und junges Publikum Schlingel statt, mit einer beeindruckend breiten Filmselektion von 167 Filmen in 8 Sparten. Die ökumenische Jury konzentrierte ihre Sichtung auf deutsche und internationale Kinder-, Junior-, Jugend- und Animationsfilme. Selbst im Rahmen dieser Beschränkung standen noch 58 Filme zur Auswahl, von denen die Jury auf Grund von Vorschlägen der Festivalleitung und eigener Überlegungen schliesslich 19 Filme visionierte. Auch wenn diese Zahl für fünf Tage erheblich war, bleibt der Einblick der Ökumenischen Jury einigermassen beschränkt. Auch beim Schlingel gilt, dass ein objektiver Überblick über das gesamte Festival oder alle Filme kaum möglich ist. Dennoch möchte ich hier auf Grund des beschränkten Einblicks im Rahmen der Jury-Visionierungen einige Eindrücke und Überlegungen zusammentragen.
Herausforderungen für Kinder und Jugendliche im Spiegel der Filme
Die von der Jury visionierten Filme betreffen sehr vielfältige Problemlagen und Herausforderungen von Kindern und Jugendlichen: Einerseits sind dies altersspezifische Themen wie Entwicklung, Erwachsenwerden, Emanzipation und Anerkennung, andererseits universelle Themen wie Kinder- und Menschenrechte, ethische Fragen, Gerechtigkeit, Zusammenleben, Diskriminierung, Verfolgung, Flucht und Befreiung. Im Film spiegelt sich – auch hinsichtlich der Vielfalt der Herausforderungen – die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen.
Gerade angesichts der damit beschriebenen Vielfalt von Herausforderungen und Themen in Kinder- und Jugendfilmen ist es erstaunlich, dass einige Muster in der Darstellung der sozialen Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen immer wieder auftreten. Im Folgenden versuche ich eine knappe und etwas überspitzte Zusammenstellung dieser Muster.
In Kinder- und Jugendfilmen sind Väter zumeist abwesend und daher als relevante Bezugspersonen für Kinder und Jugendliche nicht zugänglich. Väter sind verstorben, geflohen oder verhaftet, sind ausgezogen und leben mit einer neuen Partnerin anderswo, sie arbeiten in der Ferne und kommen nur selten nach Hause (und sind dann eher mit Kollegen als mit ihren Kindern unterwegs), bisweilen ist ihre aggressive oder sogar gewalttätige Anwesenheit belastend.
Familie besteht aus Mutter und Kindern, oft nur einem Kind. Die Mutter ist durch Erwerbs-, Erziehungs- und Beziehungsarbeit vielfach gefordert. Ein an persönlichen Interessen orientiertes Privatleben ist für die Mutter meist nicht möglich – und wenn, dann tritt es in Konkurrenz zur Erziehungsaufgabe: Berufliche Verpflichtungen und individuelle Entfaltung geht zu Lasten der Kinder, und Kinder werden zur Last.
Grosseltern, insbesondere die Grossmutter, stehen für Stabilität und Verlässlichkeit. Die Grossmutter ist einfühlsam, partnerschaftlich, liberal und gern ein bisschen verrückt: Das schafft Freiräume für die Hauptfigur. Der Grossvater ist keine wirkliche Bezugsperson, aber doch eine anerkannte moralische Instanz.
Die kindliche bzw. jugendliche Hauptfigur ist im Normalfall männlich. Sie existiert vor allem im Kontext der Kleinfamilie und wird durch sie bestimmt und kontrolliert. Ausserhalb der Familie kommen nur wenige Bezugspersonen, insbesondere kaum Gleichaltrige in den Blick. Gesellschaftliche Gruppen und Institutionen ausser der Schule haben für das Leben eher marginale Bedeutung. Auf diese Weise ist die Hauptfigur oft sehr vereinzelt.
Das auf diese Weise beschriebene soziale Gefüge, in dem die Hauptfiguren von Kinder- und Jugendfilm verortet werden, kann insgesamt als dritte Herausforderung beschrieben werden. Familie ist damit nicht in erster Linie eine Ressource, sondern eine erschwerende Randbedingung oder selbst die eigentliche Herausforderung, mit dem die Hauptfigur des Films konfrontiert ist.
Angesichts dieser etwas überspitzten Zusammenstellung von Mustern in der Darstellung der Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen im aktuellen Kinder- und Jugendfilm wäre zu fragen, ob diese Muster aktuelle Lebenswelten tatsächlich zutreffend beschreiben, ob sie den Vorstellungen von Drehbuchautor:innen entspringen oder ob sie nur dramaturgische Kniffe sind, um die Hauptfigur in eine gewissermassen ausserordentliche Situation zu versetzen, damit sich das filmisch erzählte Abenteuer entwickeln kann.
Kinder- und Jugendfilm als Kategorie
Die von der Jury besuchten Filmvorstellungen waren während der Vormittage durchgehend sehr gut besucht: Der Schlingel versteht es offenbar, einen Festivalbesuch mit der Schulklasse an vielen Schulen in Chemnitz als attraktive Ergänzung des Unterrichts zu positionieren. Die Vorstellungen ab Mittag waren dagegen durchgehend sehr viel weniger stark nachgefragt. Hier wäre noch viel Entwicklungspotential für das Festival in der Zusammenarbeit mit Betreuungs- und Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche.
Die Erfahrungen von Kinobesuchen mit einer oft grösseren Zahl ganzer Schulklassen waren ambivalent. Diese Bemerkung eines Erwachsenen ist an einem Filmfestival für Kinder und junges Publikum möglicherweise völlig deplatziert oder zumindest erheblich erklärungsbedürftig, aber sie führt zu sehr grundlegenden Fragen: Wer sind die Zielgruppen des Festivals? Was ist Kinder- und Jugendfilm? Und: Wie, von wem und auf welchen Grundlagen sind Kinder- und Jugendfilme zu jurieren?
Dabei macht es einen ganz erheblichen Unterschied, ob Kinder- und Jugendfilme verstanden werden als Filme, in denen Kinder und Jugendliche die Hauptfiguren sind, oder als Filme, in denen Kinder und Jugendliche die Zielgruppe sind (wie auch immer), oder als Filme, die Rücksicht auf kognitive und film-rezeptive Fähigkeiten, Interessen, Herausforderungen und Entwicklungsaufgaben von Kindern einer entsprechenden Altersgruppe nehmen, oder als Filme, "die Kindern gezeigt werden können" (Bettina Henzler).
Viele Filme stiessen bei Kindern und Jugendlichen auf ein gebanntes Publikum, das mitfieberte, mitlitt, mitlachte und den Film nicht nur am Ende mit einem grosszügigen Applaus bedachte, sondern sich bereits während des Films mit Protest, Szenenapplaus oder Jubel meldete. Bei einigen Filmen wurde aber deutlich, dass ein nennenswerter Teil der anwesenden Kinder und Jugendlichen nicht wirklich in der Lage waren, inhaltlich zu folgen oder auch nur für die Zeit von 90 Minuten still zu sitzen.
Begründete formale und inhaltliche Beurteilungskriterien bietet die Expertise des Deutschen Kinder- und Jugendfilmzentrum KJF. In dieser Expertise wird auf der Grundlage von Erkenntnissen der Wahrnehmungspsychologie, der Mediensozialisation und der Entwicklungspsychologie ein Kriterienraster entwickelt, auf dessen Grundlage Alterseignungen transparent beurteilt werden können. Dabei nennt das KJF elf Beurteilungskriterien, die mit Bezug auf die je vorhandenen entwicklungsspezifischen Fähigkeiten von Kindern in den verschiedenen Altersgruppen ausformuliert werden.
So sorgfältig, nachvollziehbar und transparent die in der KJF-Expertise ausgesprochenen Kriterien auch sind, besteht die Gefahr, dass die sehr detaillierten Kriterien zu eher konventionellen Beurteilungen dessen führen, was ein "Kinderfilm" sein sollte. Bettina Henzler kritisiert die nicht nur in dieser Expertise, sondern allgemein erkennbare Normativität der Kategorie "Kinderfilm", mit der das breite bildende Potential von Film zu Unrecht ausgeklammert wird, "beispielsweise nicht-narrative Genres wie Experimental- oder Dokumentarfilme, Filme aus anderen Zeiten, mit ungewohnten ästhetischen Formen, Filme, die rätselhaft bleiben und nicht in einfache Botschaften übersetzbar sind". Bettina Henzler plädiert mit Blick auf den weiten Horizont dessen, was Film bieten kann, auf eine Unterscheidung zwischen Kinderfilm und "Filmen, die Kindern gezeigt werden können." Mit diesem aus der Perspektive der Filmbildung entwickelten Ansatz könnte sich der filmische Horizont für Kinder und Jugendliche noch erheblich erweitern.
Die Ökumenische Jury am Schlingel 2022 hat sich in ihren Diskussionen – ohne expliziten Bezug auf die KJF-Expertise oder Bettina Henzlers Aufsatz – immer wieder bemüht, die gesichteten Filme im Hinblick auf die Kinder und Jugendliche, ihre Lebenswelten, Fragen und Herausforderungen zu bedenken und – im Einklang mit den Kriterien für Ökumenische Jurys – besonders Filme zu würdigen, die sich auseinandersetzen mit Fragen des menschenwürdigen und friedlichen Zusammenlebens und der Gestaltung der Zukunft von Kindern und Jugendlichen.
Die Preisträger
Nachdem die Preisverleihung der Kurzfilme bereits in der "Langen Nacht der kurzen Filme" am Mittwoch, 12. Oktober 2022, stattgefunden hatte, wurden an der Preisverleihung vom 15. Oktober 2022 insgesamt 19 Preise und drei Lobende Erwähnungen an 16 Filme vergeben. Mehrfach preisgekrönt wurden die folgenden Filme:
RINOCERONTE / RHINO von Arturo Castro Godoy (Argentinien, 2021) erhielt den Preis der Stadt Chemnitz, den Juniorfilmpreis des Club of Festivals, den Preis der Fédération Internationale de la Presse Cinématographique (FIPRESCI) und eine Lobende Erwähnung der Ökumenischen Jury.
DIE ODYSSEE / LA TRAVERSÉE / THE CROSSING von Florence Miailhe (Frankreich / Deutschland / Tschechische Republik, 2021) erhielt den Förderpreis der DEFA-Stiftung, den Preis der European Children's Film Association (ECFA) und den Preis der Ökumenischen Jury.
DR. BIRDS RAT FÜR GESCHEITERTE POETEN / DR. BIRD'S ADVICE FOR SAD POETS von Yaniv Raz (USA, 2021) erhielt den Preis der Fair Play Jury und eine Lobende Erwähnung der Schlingel-Jugendjury.
Die Ökumenische Jury fand sich mit ihren Entscheidungen in guter Gesellschaft, wenn sie genau die beiden Filme auswählte, die im Jahr 2022 an der Spitze der Bewertung standen. Allerdings ist auffällig, dass die zwei bestbewerteten Filme nur von Erwachsenen, aber keiner einzigen Kinder- und Jugendjury erwähnt wurden, während der von zwei verschiedenen Jugendjurys auserkorene Film von keiner der zahlreichen Erwachsenen-Jurys erwähnt wurde: Auch unter den weiteren preisgekrönten Filmen gab es 2022 keine Schnittmenge von Filmen, die sowohl von Kinder- und Jugendjurys als auch Erwachsenen-Jurys als Preisträger auserkoren wurden.
Literaturhinweise
Deutsches Kinder- und Jugendfilmzentrum (Hrsg.) (2019): Pädagogische Empfehlung für Kinderfilme. Eine Expertise des Deutschen Kinder- und Jugendfilmzentrums, Remscheid, www.kjf.de/uploads/file/expertise_altersempfehlung.pdf
Henzler, Bettina (2018): Die Kategorie "Kinderfilm", in: Kinder und Jugend Filmportal, www.kinder-jugend-filmportal.de/was_ist_kinderfilm/die-kategorie-kinderfilm.html.
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