Laudatio und Predigt zur Preisverleihung


Der 1. Europäische John Templeton Filmpreis 1997 ging an "De Verstekeling" (Der blinde Passagier/The Stowaway) von Ben van Lieshout (Niederlande 1997) und wurde am 22. Februar 1998 in einem Gottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin verliehen. Der Preis war mit CHF 3.500 dotiert, gestiftet von der JohnTempleton Foundation (1997).

Laudatio

Ein Film, der zwei der gesellschaftlichen Belange von heute vereint, nämlich Ökologie und Flüchtlinge, wurde zum Sieger des ersten Europäischen John Templeton Filmpreises gewählt. Es handelt sich um den von Ben van Lieshout gedrehten Film „The Stowaway“ (Originaltitel „De Verstekeling“) auf deutsch etwa „Der blinde Passagier“, der von der niederländischen Gesellschaft Egmond Film und Fernsehen (Amsterdam) produziert worden ist.

Der Film „The Stowaway“ trägt das Schlagwort: „Alle, die nicht an Träume glauben, sind keine Realisten“, und wer den Film sieht, sollte nicht überrascht sein, Wunder zu erleben! Der Film beginnt im ehemaligen Fischerdorf Mujnak in Karakalpakstan, einer Republik in Usbekistan. Mit dem zurückgehenden Wasser des Aralsees ist auch das Familieneinkommen aus der Fischerei zusammengeschrumpft. Orazbai, der Sohn einer der ehemaligen Fischerfamilien, träumt von einem anderen Leben und versteckt sich als blinder Passagier auf einem Boot, das nicht, wie erwartet, in New York, sondern in Rotterdam ankommt. Dort findet er Unterkunft und beginnt eine Beziehung zu einer Frau mit ihrem kleinen Sohn. Durch den Sohn beginnt er, die Sprache zu lernen. Es gelingt ihm nicht, Arbeit zu finden, und schliesslich wird er von der Fremdenpolizei aufgegriffen und in sein Dorf zurückgeschickt. Wieder zuhause erkennt er, dass seine Zukunft in seinem eigenen Land und nicht in seinen Träumen liegt. Und wie ein Wunder kehrt das Wasser in den Aralsee zurück.

Der Film hat am Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg 1997 den Preis der Internationalen Jury und den Preis der Ökumenischen Jury gewonnen. Die Ökumenische Jury begründete den Preis mit den Worten: „Mit Magie und feinem Humor erzählt der Film die Geschichte einer Auswanderung und einer glücklichen Rückkehr. Der Regisseur zeigt uns beindruckende und metaphorische Bilder, die aller Resignation und Hoffnungslosigkeit trotzen.“

Jury: Robin Gurney, Hans Hodel, Karsten Visarius

 

Predigt zur Preisverleihung

von Hans Werner Dannowski, Hannover

während der Internationalen Filmfestspiele Berlin

Sonntag Estomihi, 22. Februar 1998, in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche

 

1.„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht,
so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.

2. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis
und hätte den Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht,
so wäre ich nichts.

3 Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und liesse meinen Leib verbrennen
und hätte die Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze.

4. Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht
die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf,

5. sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre,
sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu,

6. sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit;

7. sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.

8. Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird
und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird.

9. Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser prophetisches Reden ist Stückwerk.

10. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.

11. Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind;
als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.

12. Wir schauen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild;
dann aber von Angesicht zu Angesicht.
Jetzt erkenne ich stückweise;
Dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.

13. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;
aber die Liebe ist die grösste unter ihnen.

1.Korinther 13, 1-13

 

Liebe Gemeinde!

 

Eine Wegweisung ist dieses berühmte 13.Kapitel des 1. Korintherbriefes, dieses „hohe Lied der Liebe“. Jüdisch gesprochen: Eine Halacha. „Und ich will euch einen noch besseren Weg zeigen“, schreibt Paulus an die korinthische Gemeinde und leitet damit dieses Kapitel ein. Eine bewegte Gemeinde war das damals in Korinth, eine lebendige Kirche allzumal. Eine charismatische Gemeinde, mit Geisterfahrung, Ekstase und Zungenrede, die sich leicht nach der Melodie ausrichtet „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“. Paulus verwirft das alles gar nicht, schreibt hinterher ein langes Kapitel über die Zungenrede, diese Glossolalie der direkten Offenbarung. Aber er stellt diese Fülle der Geistesgaben, wie das bei einer Halacha üblich ist, in eine Rang- und Reihenfolge. Oder anders gesagt: er nimmt die Christen von damals und von heute mit auf den Weg Jesu. „Sehet, wir gehen hinauf nach Jerusalem“. Der Weg nach Jerusalem aber ist der Weg über Jericho, da, wo die Blinden am Wege sind und die Bettler vor der Kirchentür. Sesshaft und saturiert wird da keiner auf diesem Weg, das schlechte Gewissen der eigenen Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit wird der tägliche Begleiter sein. Genau für diesen Weg aber ist das 13. Kapitel des 1.Korintherbriefes geschrieben. „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die grösste unter ihnen“.

Obwohl, wie die historische Ursprungssituation andeutet, die Liebe im paulinischen Sinne eher in der Stärke des ethischen Handelns als in der Stärke des Gefühls und der Innerlichkeit zu Hause ist, lassen Sie mich bitte in der Auslegung dieses Textes bei der persönlichen Liebeserfahrung beginnen.

Was geschieht eigentlich, wenn ich mich verliebe? Ich vermute, es ist keine und keiner von uns so weit von dieser Erfahrung entfernt, dass sie oder er sich nicht noch daran erinnert. Wenn ich mich in einen Menschen verliebe, dann ist das eine unerhörte Erweiterung meiner Möglichkeiten. Nicht nur, dass ich wie auf Wolken schwebe, ich könnte die ganze Welt umarmen. Ich bin zu Dingen fähig, zu Verrücktheiten, zu Anstrengungen, denen ich mich nie sonst unterziehen würde. Mein Ich, das sich als Zentrum meines Bewusstseins ja nur durch Abgrenzung von aller übrigen Welt gewonnen hat, sprengt sich auf einmal auf. Neue, bisher ungeahnte Perspektiven fliessen mir einfach zu. Der geliebte Mensch wird zum Tor, durch das die vom Ich bisher ausgesperrte Welt in mich einzufliessen beginnt. In einem geradezu mystischen Gefühl der Einheit wird die Selbsterfahrung bis an die Grenzen der Welt ausgeweitet. Die Liebe wird zum Weg über alles hinaus, was ich bisher kenne. Die Liebe „erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles“, wie es Paulus sagt.  „Die Liebe hört niemals auf“, das werde ich in solchen Augenblicken immer sagen. I love you for ever. “Entgrenzung”: das ist die Eigenart der Liebe. Sie bringt mich in Bewegung auf ein neues Ich  hin, und das macht sie zum Grössten und zum Schönsten, was es auf dieser Erde, nein, was es im Himmel und auf Erden gibt.

Das Schönste und Grösste, liebe Gemeinde, ist immer auch das Gefährdetste. Die Zahl der Liebesdramen ist unendlich, das Umschlagen von Liebe in Hass geht bis zum Totschlag. Am schlimmsten vielleicht und am stärksten in der Zunahme begriffen: Menschen, die nicht zu lieben wagen, weil sie die Enttäuschung fürchten. Denn es gibt auf dem Weg der Liebe eine Weggabelung, die man erkennen muss, sonst kommt man in die Wüste. Entgrenzung, dieses bleibende Merkmal der Liebe, hat eine Tendenz zur Verschmelzung, zum Aufgehen in eine grössere Einheit, die mich mit umfasst. In der Verschmelzung aber gebe ich mich auf, bin ich nicht mehr Ich. Das heisst, wenn die Schleier der Widerfahrnis von Liebe fallen, stosse ich auf ein Du, das neben seiner Grösse und Schönheit auch seine Erbärmlichkeit hat wie ich selbst, nur an anderer Stelle. Und das ist dann der kritische Punkt: Ob ich meine Erfahrung von Entgrenzung als Illusion widerrufe, oder ob ich sie festhalte und in mein bewusstes, auch in Krisen zu bewährendes Handeln zu übernehmen weiss. Das heisst: nicht nur die Zärtlichkeit, auch der Ärger und die Wut meiner Frau oder meines Partners haben mir etwas zu sagen. Holt mich ein Stück heraus aus meiner Abgrenzung und Befindlichkeit. Müsste ich nicht doch auf dieses oder jenes viel mehr achten?! Entgrenzung bleibt die Devise gerade auch dieses aktiven Verständnisses von Liebe. Um den Bereich der Intimität nun endgültig zu verlassen: Der Bettler, der mich auf dem Bahnhof Zoo anschnorrt und dem es so aus der Nase läuft, dass es mich ekelt, hat mir etwas zu sagen. Der muslimische Fundamentalist, den ich nicht verstehe, stellt mir Fragen, auf die ich mich einlassen muss.

Die Entgrenzung des christlichen Liebsverständnisses geht bis zur Feindesliebe, und nicht von ungefähr wird derbarmherzige Samariter im Gleichnis zum Urbild dessen, was Liebe und Barmherzigkeit ist. Es stimmt wohl doch ein Stückweit, dass das biblische Liebesverständnis von aussen nach innen geht. Im zupackenden Handeln, im Tragen und Ertragen, in der Sinnlichkeit von Umarmungen und Tröstungen kommt die Liebe zur Welt. Alles andere sind dann doch vielleicht nur die Projektionen, die in Enttäuschung enden.

Ja, liebe Gemeinde, der Mensch in Bewegung, die Entgrenzung der Welt und  des Menschen auf ein Neues hin. „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht...“ Die Liebe mit dem langen Atem, die sich nicht erbittern lässt, das Böse nicht anrechnet, sondern glatt vergisst, die sich an der Wahrheit, wo immer sie auftritt, freut... So total wird die  Liebe als Entgrenzung beschrieben, dass man sich in der Geschichte der Auslegung dieses Kapitels immer wieder gefragt hat, ob man so umfassend, so radikal überhaupt von der menschlichen Liebe reden kann. Vielleicht ist hier imGrunde von der Liebe Gottes die Rede? Gott liebt dich, so umfassend, so total. Er trägt und erträgt dich, er entgrenzt sich, so paradox das auch klingen mag, nimmt den Menschen hinein in seinen Horizont. Das ist sicher wahr und richtig, aber wenn Paulus das hier sagen wollte, dass Gotte Liebe ist, dann hätte er es gesagt. Oder die Version, die Karl Barth uns beigebracht hat: Überall, wo Liebe steht, Jesus Christus einzusetzen: nur dann werde es ganz und recht. Diese seine Liebe, die so langmütig ist und freundlich und uns Böse gut sein lässt vor dem ewigen Vater. Ja, das ist richtig. Aber ist es nicht eigentlich nur ein Zurückschecken vor der Grösse der Zumutung dieser Liebe, ein manchmal fast infantiles Sichhineinkuscheln in das  Widerfahrnis von Liebe? Nein, von der Herausforderung des Menschen zur Liebe durch Gottes Offenbarung ist hier die Rede. „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht...“ Es ist schön zu lieben, sage ich dann. Es ist die absolute Grösse des Menschen, lieben zu können und zu dürfen, daran und nur daran wird er gemessen. Was wäre das, wenn sich die christlichen Gemeinden und Kirchen darauf verstünden, dieses als die eigentliche Zielangabe ihres Weges anzusehen. Und so sind mit diesem 13. Kapitel des 1.Korintherbriefes einige heilsame Stolpersteine als Fragen auf den Weg gelegt. Nicht die Frage: Werde ich geliebt? Steht obenan. Sondern: Lieben Sie eigentlich? Lieben Sie Gott? Liebe ich ihn so, dass ich mich nicht abschirme gegen ihn, mich von ihm anrühren lasse in allen schönen und schweren Erfahrungen meines Lebens? Lieben Sie Christus? Lieben Sie ihn so, dass Sie hineinwachsen in sein Reden und Tun und er in Ihnen Gestalt gewinnt? Lieben Sie die Menschen, die Schöpfung, die Gottes Schöpfung ist, die Sonne und den Regen? Fällt es ihnen wie ein Schmerz in die Seele, wenn Sie sehen, wie Menschen ihre Würde, ihr Menschsein wegwerfen, verachten, mit Füssen treten? Ein Stückwerk sicher das alles, unsere Liebe. Aber „wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete“ und hätte dieses nicht, die Liebe – ja, was denn?

Die Konkretion und Anschaubarkeit dieser Liebe, liebe Gemeinde, fällt mir heute leicht. Wir werden nämlich nachher im Rahmen der Abkündigungen einen Film prämieren, und dieser Film ist wie eine Wegbeschreibung der Erfahrung von Liebe hin zu ihrer aktiven Mitgestaltung. Ein englischer Christ mit dem Namen John Templeton hat einen europäischen Filmpreis gestiftet, der in diesem Jahr zum ersten Mal vergeben wird. Es soll, nach dem Stiftungszweck, ein Film sein, der dem „religious progress“, ich übersetze frei: der der religiösen Bewusstseinerweiterung, der der Entgrenzung dient. Die Konferenz Europäischer Kirchen in Genf und die ökumenische Filmorganisation INTERFILM haben mit iener Jury für das vergangene Jahr dem niederländischen Film „De Verstekling“ („Der blinde Passagier“) von Ben van Lieshout diesen Preis zuerkannt, und der Regisseur dieses Films ist heute unter uns in dieser Kirche.

Es ist ein Film von einem jungen Mann, Orazbai, der in den Weiten Russlands, am Aralsee, in einem Land mit dem Zungenbrechernamen Karakalpakstan lebt. Der Aralsee ist ausgetrocknet und versteppt, die Schiffe liegen auf dem Sand. Der Vater, der Fischer ist, bewacht sein Boot, als würde es noch einmal wieder fahren können. Für die junge Generation, bei allem Erfindungsreichtum, aller Tatkraft, eine ausweglose Situation. Orazbai träumt von New York, eines Tages ist er auf und davon. Aber statt in New York landet  er in Rotterdam. Die Familie eines Seemanns nimmt ihn auf. Der Mann ist häufig fort, in der Familie kriselt es. Orazbai wird zum zweiten Vater des Jungen, und eines Tages nimmt ihn die Frau mit ihr Bett. Eine Atmosphäre der Zärtlichkeit und des Verstehens dieser drei breitet sich aus. Bis dann eines Tages die Fremdenpolizei in die Wohnung kommt. Und dann ist Orazbai wieder am Aralsee. Die Hochzeit der Schwester wird gefeiert, und der Vater führt ihm das Mädchen zu, das für ihn ausgewählt ist. Noch einmal kommen ihm die Träume jener anderen Welt. Aber dann sitzt er mit seiner Braut auf einem kleinen Hügel, die versteppte Landschaft und das Dorf im Sand sind unter ihnen. „Was hat sich geändert“, sagt sie vorsichtig. „Du hast mit eigenen Augen gesehen, wie Andere leben“. Es ist nicht so verschieden, hier, meint er darauf. Und es kann eigentlich nicht schlimmer werden. Wer weiss? Antwortet sie darauf, leise lächelnd. Und man weiss, die beiden werden es packen. Aus der Erfahrung von Liebe und Zuneigung ist die Bewährung von Liebe geworden, auch in der schlimmsten Situation, die man sich denken kann.

Ein Weggeleit ist dieses 13. Kapitel des 1.Korintherbriefes, hatte ich am Anfang gesagt. Eine Halacha. Eine Unterweisung auf einem Weg, auf dem wir alle gehen. Die Liebe ist die Erfahrung von Entgrenzung. Wir gehören alle zusammen, am Aralsee und in Rotterdam, woher wir auch kommen und wer wir sind. Kleine Schritte sind es nur auf diesem Weg der Liebe, die wir schaffen. Aber eben Schritte, Schritte in die eine, in Gottes neue Welt hinein.

Amen.