Gesichter Europas

INTERFILM-Seminar zum nordosteuropäischen Film in Riga


Demonstranten stellen sich den russischen Truppen entgegen, eine Kugel trifft einen Kameramann. „Filmt mich,“ sagt der Sterbende. Riga 1991, das lettische Parlament diskutiert die Erklärung der Unabhängigkeit des Landes. Im April 1999 sind, an der Rückwand einer Kirche, nur noch Reste der Barrikaden von damals zu sehen. Der Film aber hat den dramatischen Moment festgehalten, der für die Letten das Ende der „Okkupationszeit“ markiert – die Jahre der erst sowjetischen, dann deutschen, dann wiederum sowjetischen Besetzung seit Beginn des zweiten Weltkriegs.

Juris Podnieks, der bei einem Unfall tödlich verunglückte lettische Dokumentarist, hat die Szene des sterbenden Kameramanns in seinen Film „Kreuzwege“ (Krustacels) montiert, der am Anfang eines kirchlichen Seminars zum baltischen und skandinavischen Film stand. Organisiert von Interfilm, der ökumenischen Filmorganisation, unter Mitwirkung des Fachreferats Film und AV-Medien und unterstützt unter anderem von WACC, fand diese Veranstaltung Anfang April in Riga statt. In „Homeland“ artikuliert Podnieks eine der zentralen Fragen des Seminars – die Suche nach einer nationalen, baltischen Identität und ihre Einbettung in den europäischen Kontext, die sich historisch als Verwicklung in die deutsche, russische und schwedische Kolonial- und Kriegsgeschichte liest – eine Geschichte, die als Christianisierung des Baltikums durch den Deutschen Orden zu Anfang des 13. Jahrhunderts beginnt.

Das Seminar in Riga (7.-11. April 1999) war bereits das dritte in einer Reihe, die Interfilm den regionalen Ausprägungen des europäischen Films und der Frage nach der Gestalt gewidmet hat, die Kirche und Religion in ihm gefunden haben. „Gesichter Europas – Europas Gesicht“ lautet der Doppeltitel dieser Reihe, die 1997 in Bad Segeberg begonnen und 1998 in Nîmes fortgesetzt wurde. Er verrät, daß es dabei weniger um Probleme des europäischen Politmanagements als um die Dimension der gegenseitigen Wahrnehmung, um Anerkennung, um ein An-Sehen im buchstäblichen Sinn geht.

Das verlangt mehr als den Austausch von Höflichkeiten. Der „Kampf um Anerkennung“ muß gelegentlich die Regeln des zivilen Umgangs ignorieren – wie in „Das Fest“ von Thomas Vinterberg, in Riga Ausgangspunkt einer Podiumsdiskussion zwischen lettischen Theologen und Interfilm-Mitgliedern. Dieser dänische Film erzählt von den Konflikten, die die Enthüllung einer tabuisierten Wahrheit in einer Geburtstagsgesellschaft auslöst – die Wahrheit über den sexuellen Mißbrauch zweier Kinder durch ihren Vater, Gastgeber und Jubilar des Festes. Im Namen seiner Zwillingsschwester, die Monate zuvor in den Selbstmord geflohen ist, verschafft der inzwischen längst erwachsene Sohn dieser qualvollen Geschichte Gehör – auch wenn eine Versöhnung mit dem einstigen Peiniger unmöglich, ja nicht einmal wünschbar erscheint. Der unheilbare Riß, den Vinterbergs Film offenbart, läßt keine moralische Lösung zu. Und stellt, wie sich zeigte, eine vergebungswillige Theologie vor eine unbehagliche Herausforderung.

Was „Das Fest“ im Rahmen einer scheinbar privaten Familiengeschichte thematisiert, gilt auch für die kollektive Erinnerung der europäischen Nationen – zumal jener, die jahrhundertelang Objekt, meist Opfer, der Großmächte des Kontinents waren. Interfilm-Präsident Hans Werner Dannowski hob in diesem Sinne als Fazit der Tagung hervor, daß der Beitrag der baltischen Länder zum europäischen Film in der Vergegenwärtigung des Leidens zu suchen sei. Filme sind schließlich nicht dazu da, Geschichten (nur) aus der Perspektive des glücklichen Endes, des Überwundenseins von Schmerz, Gewalt und Demütigung zu erzählen. Noch wenn sie Verstummen und Erstarrung zeigen, wie „Das Haus“ des Litauers Šarunas Bartas, erzählen Filme weiter. Als ob sie von Erinnerungen heimgesucht würden.