Motiv "Wasser"
Ich sehe: Weite. Eine Fläche bis zum Horizont, Kilometer tief und tausende Kilometer lang. Undefinierbare Farbe, die sich ändert, wenn Elemente wie Wind und da Licht der Sonne hinzutreten. Sich der Himmel in der Tiefe des Meeres spiegelt und das Meer zum Himmel wird.
Ich spüre: Ein unermessliches Gefühl von Freiheit und Lebenslust. Dann ändert sich die Stimmung. Das Meer kommt näher, verliert seine Unnahbarkeit, es schwappt über die Reling, über die Grenzen, die menschengemachte Räume und Wasser trennen. Es dringt ein, es steigt im Bauch des Schiffes, es zischelt durch die unteren Deckgänge, es spritzt und sprudelt, die Menschen fliehen, wohin, ins Wasser, auf das Wasser, das Wasser flutet alles, der Sprung ins Wasser ist der Sprung in einen kalten Tod, die Nussschalen der Rettungsboote sind dem tobenden Meer ausgeliefert, wie klein ist doch der Raum, den der Mensch braucht und auch hat, inmitten der geschaffenen Welt. Die einen versinken im Wasser, manch andere werden gerettet und leben weiter, leben neu.
Selten wirkt das Meer, das Wasser so beeindruckend wie auf der großen Leinwand, die selbst eine Fläche ist wie das ruhige Meer. Und ähnlich wie sich in einer Sekunde das Meer in tosendes Unwetter verwandeln kann, so erlebt auch die Leinwand neben brodelnden Wassermassen heftigste Gefühlswallungen. Und wir sitzen davor, sind dabei und doch in Sicherheit, bei dieser Leinwand, die in andere Welten führt. Selbst Unterwasserwelten in ihrer Schönheit und Unheimlichkeit zeigt, ohne dass wir dafür Sauerstoffgeräte brauchen oder den Atem anhalten müssen.
Wasser im Film kommt so häufig vor, wie Wasser zum Leben gehört. Einer der berühmtesten Filme überhaupt spielt ausschließlich im Wasser – "Titanic", vielleicht haben sie ihn aus den Eingangsbeschreibungen her erkannt. In Titanic ist, wie es sich für einen guten Hollywoodfilm gehört, vieles von dem enthalten, was Wasser und Film verbindet. Wasser in der Form des Meeres. Als Sehnsuchtsort, Raum für Reise und Abenteuer, Abfahren und ganz woanders ankommen.
Das Meer als Raum des Ausgesetzt-Seins, ein Ort der existenziellen Gefahr und der Existenzsicherung- und vergewisserung zugleich, das war in diesem Jahr in nicht wenigen nordischen Filmen des Wettbewerbs ein Thema. So in dem isländischen Film "Brim" (Die Strömung, Árni Ólafur Ásgeirsson, Island 2010), der fünf Männer und eine Frau auf ihren Trawlerfahrten auf der rauen Nordsee begleitet, denn auf kleinstem Raum eingeschlossen inmitten des Meeres kann die See kann verrückt machen und schafft zugleich Momente unbedingter Gemeinschaft – und Schönheit.
Das Meer ist die Grenze zwischen Freiheit und Gefängnis im norwegischen Film "King of Devil’s Island" (Marius Holst, Norwegen 2010) über eine grausame Erziehungsanstalt auf Bastoy, denn noch keinem ist die Flucht über das Wasser gelungen. Die einen ertrinken freiwillig, die anderen werden von Patrouillenbooten zurückgebracht, nur einer schafft es ganz am Ende – als das Wasser sich in Eis verwandelt und ihn trägt, der so stark war, Unrecht als Unrecht zu benennen, und Schuld nicht zu verschweigen.
Wasser reinigt und verändert. Als der alte Mann in dem beeindruckenden Debüt- und Wettbewerbsfilm "Volcano" (Rúnar Rúnarsson, Dänemark, Island 2011) in seinem kleinen ererbten Fischerboot fast untergeht, fängt er, nachdem er ein Zigarettenlänge lang resigniert, an zu pumpen und zu kämpfen. Durchnässt bis auf die Knochen steht er dann nackt vor dem Wohnzimmer der Familie – und sein neues Leben beginnt.
Wasser – als Beginn des Lebens, als Beginn von Liebe.
In dem schwedischen Liebesfilm "Kiss myg" (Küss mich, Alexandra-Therese Keining, Schweden 2011) braucht es den fremden Raum Wasser, in dem sich Körper anders bewegen, in dem sie vielleicht auch in ihrem Element sind, damit es zum ersten Kuss und zur ersten Vereinigung kommt, das Wasser als Möglichkeitstraum, als erotischer Raum. Unter Wasser ist möglich, was an und über der Oberfläche so schwierig ist, in "Küss mich" ist es die Liebe zwischen zwei Frauen, in anderen Filmen eröffnen Wasser- und Badeszenen, gerne auch immer wieder im leeren Schwimmbad, nächtens oder frühmorgens, Raum für das Spiel, erlaubt das Element des Wassers eine Unbeschwertheit und Leichtigkeit, die an Land oft so schwer zu erreichen ist. Und wir als Zuschauer schwimmen mit, tauchen und springen. Einen Moment können wir erspüren, was Verwandlung meint und Entäußerung. Vielleicht also Taufe?
Neben Meer und Schwimmbad ist es das Wasser von oben, das im Film regelmäßig uns beglückt. In nordischen Filmen ganz besonders, als Regen oder Schnee. Und immer wieder kommt hier das innere und äußere Erleben zusammen, strömender Regen, der wie in dem finnischen "Home Sweet Home" (Der Haussegen, Aleksi Mäkelä, Finnland 2011) über ein Bauunternehmer in der Finanzkrise die Hauptperson frieren und sein Auto in schlammiger Erde einsinken lässt, zeigt, wie es der Hauptperson auch im Inneren geht. Der tiefe weiße Schnee im norwegischen Film "Happy, Happy" (Anne Sewitsky, 2010) deckt alles an Gefühlen zu und entlädt sich in befreienden Schneewälzen und Bewerfen.
Film ohne Wasser geht kaum, denn die Kraft und Lebendigkeit von Wasser in Raum und Zeit braucht der Film und um das zu zeigen braucht es auch den Film und das Kino.
Und wo sonst als im Kino kann es so oft – ohne lebensbedrohliche Konsequenzen - eine Sintflut geben, die dann doch wieder einen für das Leben gewinnen will?!
Nur eines gibt es im nordischen Film selten: dass Wasser auch wirklich getrunken wird, dafür gibt es schließlich Wein und L’eau de Vie, den Schnaps. Und um bei den realen Dingen zu bleiben: Filmregisseure und Kameraleute nennen ein zuviel an Wasser in Form von Regen, Nebel oder Feuchtigkeit, der die Außenaufnahmen stört bzw. bestimmt, ganz einfach: God’s Gift. Ein Gottesgeschenk. Wie wahr.
Julia Helmke, für die Petrivisionen in Lübeck St. Petri am 5.11.2011