Zwei Menschen und viele Filme unter einem Dach
Das Dach seines Hauses ist undicht, aber einen Dachdecker kann er sich nicht leisten. Dennoch ist es gut genug, um einen Fremden zu beherbergen. Als der Rumäne Nelu nahe der ungarischen Grenze von einem hilfesuchenden Türken angesprochen wird, zögert er nicht lange und nimmt ihn mit zu sich nach hause. Zwar versteckt er ihn – nicht zuletzt vor seiner Frau – zunächst im Kartoffelkeller, aber er nimmt sich seiner an, so gut er kann. Auch wenn er kein Wort versteht, wenn der Türke wild gestikulierend auf ihn einredet, weiss er doch, dass dieser über die Grenze nach Ungarn möchte, und das deutsche Wort Morgen wird zum grossen Versprechen. Der Erstling von Marian Crisan überzeugte in dem starken Wettbewerb des diesjährigen Filmfestivals nicht nur die internationale Jury, die ihm ihren Spezialpreis zuerkannte, sondern auch die Ökumenische Jury. Sie verlieh ihm den mit CHF 20'000 dotierten Ökumenischen Filmpreis. Das Preisgeld ist für den Schweizer Verleih des Films bestimmt und wird gemeinsam von der römisch-katholischen und den evangelisch-reformierten Kirchen der Schweiz gestiftet. In ihrer Begründung heisst es: "Mit liebevollem Witz erzählt der Film von menschlicher Nähe und Verständigung über die Grenzen hinweg." Unter dem Präsidium der Berliner Radiopfarrerin Angelika Obert arbeiteten in der Jury Theo Peporte, Leiter der Kommunikations- und Pressestelle der katholischen Kirche in Luxemburg, die Journalistin und Drehbuchautorin Cynthia Chambers aus Los Angeles, der tschechische Pfarrer und Fernsehjournalist Michael Otrisal, die französische Theologin und Filmpublizistin Waltraud Verlaguet sowie der schweizerische katholische Filmbeauftragte Charles Martig zusammen.
Da der "Concorso internazionale" einige bemerkenswerte Film zeigte, entschied sich die Jury dazu, zusätzlich zu ihrem Preis gleich zwei lobende Erwähnungen zu verleihen. Sie zeichnete damit die beiden chinesischen Beiträge Han Jia (Winter Vacation) von Li Hongqi und Karamay von Xu Xin aus. Ersterer erzählt lakonisch humorvoll vom letzten Tag der Winterferien in einem nordchinesischen Dorf und gewann das Rennen um den Goldenen Leoparden. Letzterer ragte innerhalb des Wettbewerbs allein durch seine schiere Länge von fast 6 Stunden heraus, noch dazu stand er als Dokumentation zwischen lauter Spielfilmen. Er dokumentiert mit ausführlichen Interviews und teils schockierendem Archivmaterial eine Brandkatastrophe in der chinesischen Ölarbeiterstadt Karamay. Dort kamen 1994 knapp 300 Personen ums Leben, die meisten von ihnen Schulkinder. Der genaue Hergang und das offensichtliche behördliche Versagen ist bis heute nicht ordentlich aufgearbeitet.
Es ist ein grosses Verdienst des neuen künstlerischen Direktors Olivier Père, einen solchen Film inmitten des Hauptwettbewerbs zu platzieren. Obwohl er fast 100 Filme weniger als seine Vorgänger programmierte, führte er ein ausserordentliches Spektrum unter dem Dach des Locarneser Festivals zusammen. Dass darunter auch ein kruder Zombieporno zu sehen war, sorgte für Kopfschütteln und Spott, ging aber bald dank anderer diskussionswürdiger Filme vergessen. Allerdings kam keiner der Beiträge an die politische Wucht des chinesischen Dokumentarfilms heran. Einzelschicksale und persönliche Themen dominierten die Geschichten, die über die Leinwand flimmerten, das Politische schien zumeist ausgeklammert. Auffällig oft entwickelte sich ein Konflikt um das inzestuöse Begehren zwischen einem Elternteil und einem heranwachsenden Kind. In dem von der Jugendjury ausgezeichneten hoch stilisierten Science Fiction Womb von Benedikt Fliegauf wurde dies artifiziell dahingehend zugespitzt, dass eine Frau einen Klon ihres verstorbenen Liebhabers austrägt, gebiert und aufzieht.
Die beiden Schweizer Beiträge waren von jungen Regisseurinnen gedreht, die grosses Potenzial versprechen. Die Pubertätstragödie Songs of Love and Hate von Katalin Gödrös eröffnete den internationalen Wettbewerb mit der Geschichte einer 15jährigen, die ihre erwachende Weiblichkeit als Macht entdeckt und brutal ausspielt. Das Pflegedrama Le petit chambre von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond sorgte für einen kleinen Höhepunkt zur Halbzeit des Festivals. Hier müssen ein älterer Herr und seine Spitexpflegerin miteinander klar kommen, obwohl beide persönliche Verletzungen mit sich herumtragen.
Insgesamt verspricht die künstlerische Leitung Olivier Pères neue Impulse für Locarno. Die Piazza Grande bespielte er allerdings durchmischt und zeigte nicht nur allzu Gefälliges. Kriminalgeschichten, Film noir, zu später Stunde ebenfalls ein Zombiefilm, damit wurden nicht die grossen Massen angezogen. Auch hier programmierte der Franzose gleich zwei Schweizer Filme, die das Piazza-Feeling allerdings ordentlich befeuerten: Die äusserst unterhaltsame Dokumentation zu der Radsportlegende Hugo Koblet – Pédaleur de charme sowie die tiefgängige Komödie Sommervögel über die Liebesgeschichte zwischen einem Ex-Knacki und einer leicht geistig Behinderten. Wer nicht auf der Piazza war, kann sich auf den Herbst freuen, wenn beide Filme in der Schweiz ins Kino kommen.