Die 51. Nordischen Filmtage in Lübeck
"Das Orangenmädchen" eröffnet das Festival
(Eva Dahr, Norwegen 2009)
Die 51. Nordischen Filmtage in Lübeck wurden am 04.11.2009 zum ersten Mal in einem eigenen Festivaltheater, dem „Kolloseum“ eröffnet. Das Festival startete mit der Vorführung von Eva Dahrs DAS ORANGENMÄDCHEN, einer Verfilmung des gleichnamigen Romans von Jostein Gaarder: ein Film über Liebe und Vergänglichkeit, eine Gratwanderung zwischen Romantik und Kitsch mit starker Farbsymbolik – reines Weiß im norwegischen Bergland, warme Farben in Spanien und immer wieder etwas Orangefarbenes in der Bildmitte.
Die Rahmengeschichte ist schnell erzählt: Der junge Georg bekommt zu seinem 16. Geburtstag von seiner Mutter 3 Briefe seines vor über 10 Jahren verstorbenen Vaters Jan-Olaf. Am selben Tag reist er in die Berge um einen seltenen Kometen zu sehen. Auf seiner Reise liest er die Briefe seines Vaters, der ihm schildert, wie er als junger Student der Liebe seines Lebens, dem Orangenmädchen, begegnete. Gleichzeitig trifft auch Georg auf ein Mädchen, das ihm auf dem Weg zur Skihütte eine Orange anbietet.
Es geht in diesem Film um den Wert des Einzelnen, des Individuellen. Als Jan Olaf das Orangenmädchen fragt, warum sie denn so viele Orangen gekauft hat, bloß um sie zu malen, sie hätte doch auch eine Orange mehrfach malen können, antwortet das Mädchen ihm, dass jede Orange einzigartig ist. So einzigartig wie die Orange ist alles andere auch: die Menschen, die Augenblicke. Alles ist vergänglich, nichts ist ewig außer dem Augenblick. Besonders auffällig, dass diese Aussage in einer spanischen Kathedrale ausgesprochen wird.
Der Film ist existenzialistisch und hedonistisch. Man soll das Leben genießen solange es dauert. Darüber hinaus gibt es nichts. DAS ORANGENMÄDCHEN ging auf dem Festival leer aus. Dennoch ist er der einzige Film, der auch in deutschen Kinos bundesweit zu sehen ist. Der Name Jostein Gaarder verkauft sich gut und die Ästhetik des Films entspricht populären Vorstellungen.
Nordischer Patriotismus in "Max Manus"
(Joachim Rønning, Espen Sandberg, Norwegen 2008)
Wenig überzeugend war auch das Drama MAX MANUS, ein Film über den titelgebenden norwegischen Widerstandskämpfer gegen die nationalsozialistische Besatzung. Zwar bemüht sich der Film einerseits die Sinnlosigkeit des Tötens im Krieg und die traumatischen Folgen eines Untergrundkampfes in der Person des Max Manus darzustellen, aber auf der anderen Seite findet er starke patriotische Bilder, bei denen mehrfach eine aufgehende Sonne oder Sonnenstrahlen mit einem erfolgreichen Partisanenkampf in Verbindung gebracht werden. Der Film wird nicht müde, den Kampf der norwegischen Soldaten im Exil als Kampf des David gegen Goliath zu zeigen. Die Norweger haben Schlauchbote, die Nazis Kriegsschiffe, die Norweger haben Fahrräder, die Nazis haben Motorräder, die Norweger haben Pistolen, die Nazis Maschinenpistolen. Bei all den Kämpfen bleibt jede ideologische Kritik am Nationalsozialismus auf der Strecke. Die Deutschen sind in erster Linie Besatzer des Landes, die die heimischen Frauen verführen wollen.
Tiefsinniger "Liebeskummer"
(Nils Malmros, Dänemark 2009)
"Was ist der Unterschied zwischen lieben und verliebt sein?" fragt Agnete, die weibliche Hauptperson, in einem philosophischen Gespräch im frühen Verlauf der Geschichte. Eine Schlüsselfrage, auf die sie auf Aufforderung ihres Lehrers auch eine Antwort findet: "Verliebt sein ist selbstsüchtig, lieben altruistisch." In diesem Satz spiegelt sich der gesamte Verlauf des Films, der von der Sehnsucht nach dem, was man gerade nicht hat, erzählt und zugleich schildert, wie das Geliebte gerade dadurch zerstört wird, dass man versucht es zu besitzen.
LIEBESKUMMER ist vielleicht der aufwendigste Film, den man auf den nordischen Filmtagen sehen konnte. Es brauchte drei Jahre für die Aufnahmen, da der Regisseur Nils Malmros die Entwicklung der Protagonisten auch physisch zeigen wollte. Die Veränderungen an Gesicht und Körper unterstreichen die Detailgenauigkeit, mit der die Charaktere dargestellt werden. Der Film spielt im dänischen Bildungsbürgertum der 60er Jahre und erzählt von den letzten drei Schuljahren eines Jahrgangs an einer Eliteschule. Anders als viele andere Filme mit diesem Setting zeigt „Liebeskummer“ eine sehr liberale und aufgeklärte Gesellschaft, wie sie in Deutschland zu dieser Zeit undenkbar gewesen wäre. Die Eltern sprechen offen mit ihren Kindern über Politik, Literatur, Sexualität und Religion.
Hauptperson ist Jonas, aus dessen Perspektive die Geschichte entfaltet wird. Jonas ist mit Agnete zusammen, seiner ersten Freundin. Agnete pflegt eine intellektuelle und platonische Beziehung zu Toke. Der ist ein Rebell, dessen Familie längst nicht so intakt ist, wie die der anderen in seiner Klasse. Er liest Nietzsche und zeigt offene Sympathien zum Nationalsozialismus, um zu provozieren. Als Jonas Agnete einmal zur Rede stellt, was sie an ihm findet, sagt sie zu Jonas, dass sie über die schlimmen Dinge des Lebens besser mit Toke reden kann als mit jedem anderen Menschen, aber dass sie Jonas braucht, um diese Dinge zu ertragen. Zwischen Jonas und Toke entwickelt sich ein Ringen um Agnete, das das Vertrauen in den Beziehungen stark belastet. Neben diesem Hauptplot entwickelt der Film eine Reihe von Nebenhandlungen um die Eltern und Klassenkameraden. Dabei erscheinen alle Charaktere facettenreich und interessant, selbst die, die keinen großen Raum in der Spielzeit des Films einnehmen.
Der Film spielt mit zahlreichen Zitaten aus der Literatur: von Shakespeares „Hamlet“ bis hin zu J.D. Salingers "Catcher in the Rye" wird Literatur thematisiert und liefert gleichzeitig Intertexte, die der Handlung als Interpretationsschlüssel dienen können.
LIEBESKUMMER ging auf den nordischen Filmtagen leer aus. In Dänemark war er der erfolgreichste Film aus nationaler Produktion im Sommer 2009. Hauptdarstellerin Simone Tang gewann auf einem Filmfestival in Shanghai den Preis für die beste Hauptrolle. Dass der Film in Lübeck keine Auszeichnung fand, lag wohl vor allem an der starken Konkurrenz.
Trailer auf Youtube: http://www.youtube.com/watch?v=BKYnIqOF8h4
"Begegnungen" mit New Age
(Saara Cantell, Finnland 2009)
Der Film gewann den Preis der baltischen Filmjury und nicht zu unrecht. Wenn es allein um die Machart geht, dann ist dieser Film sicherlich das Werk, das auf den nordischen Filmtagen hervorstach. 81 Minuten mit 7 Schnitten, dazu eine sorgfältig durchdachte Filmsprache.
Der Film ist ein Episodenfilm, dessen Fäden alle in einem Krankenhaus zusammenlaufen. Beeindruckend ist z.B. eine 10-minütige Szene mit einer Frau und einem Kind, die wechselnd in einem Treppenhaus und zwei Zimmern einer Wohnung spielt. Die Machart ist stimmig, wenn sie im Zusammenhang mit einem zentralen Gespräch am Ende des Films betrachtet wird: Da geht es um die Momente der Harmonie, die im Alltag trotz aller Konflikte und aller unerfüllten Träume da ist. Diese Momente dauern oft nur einen Herzschlag lang und sind vorbei, bevor man sie wirklich bemerkt. Das Vorüberziehen des harmonischen Augenblicks kann gerade durch die anhaltenden Kameraaufnahmen in den Szenen eindrucksvoll dargestellt werden. Tatsächlich gibt es in jeder der acht Szenen einen Moment der Harmonie.
Metaphorisch visualisiert wird die Harmonie durch ein Amulett, das mit vier Steinen die klassischen vier Elemente symbolisiert: Wasser, Feuer, Erde, Luft. Interessanterweise lässt sich der Film so interpretieren, dass fast jeder der sieben Frauen in den Episoden ein Element zugewiesen werden kann. Da ist die "Wasser-Mutter" Anu, die sehr viel weint über ihre unglückliche Ehe und deren ehemaliger Verlobter einst auf einer Bootsfahrt spurlos verschwand. Die rothaarige Meri ist eine Feuer-Frau, sie hat einen Geliebten – Anus Mann – sie bittet den alleingelassenen Jungen im Treppenhaus, in ihre Wohnung, damit er sich aufwärmen kann und macht ihm Toastbrot. Die Erd-Oma, Martta, versucht als Wurzel der Familie für ihre Enkelin und den oft alleingelassenen Urenkel da zu sein, obwohl sie selber sterbenskrank ist. Von ihrer Krankheit lässt sie aber ihre Verwandten nichts wissen. Nora ist ein Luft-Mädchen – Anus Tochter – die ständig Ballettübungen vollführt, dabei durch die Räume schwebt und sogar Federn am Pulli trägt.
Das Amulett wandert am Ende des Films in die Hände der einen Person, die in Harmonie mit allen Elementen lebt: die somalische Krankenschwester Fardusa. Sie stillt den Sturm rassistischer Beschimpfungen eines Altnazi-Patienten mit einem afrikanischen Wiegenlied, kontert die Mobbing-Versuche ihrer Kolleginnen mit hingebungsvoller und gelassener Arbeitsmoral und lebt in einer intakten Großfamilie.
In diesem ganzen esoterischen Geflecht aus Beziehungen gibt es dann auch einen „Jesusmoment“. In einem Augenblick der Harmonie hilft ein krimineller Drogenjunkie Anu – der Wasser-Mutter – indem er ihr Auto aufbricht, in dem sie den Schlüssel liegen gelassen hat. Während er mit dem Brecheisen an ihrer Autotür zu Gange ist, erzählt sie ihm ihre traurige Lebensgeschichte. Schließlich verlangt der Junkie Geld für seinen Dienst und sagt dazu leicht drohend: „Ich hab nicht oft diese Jesusmomente!“, er meint dies selber sehr sarkastisch, weiß aber nicht, wie wahr das ist, was er sagt, denn das Gespräch verändert Anu und am Ende sieht man sie in Harmonie mit ihrem Element beim Schwimmen im Pool das Leben genießen.
"Eine vernünftige Lösung" und viele Deutungen
(Jörgen Bergmark, Schweden 2009)
Wenn die erste Einstellung des Films ein Kreuz zeigt und die erste Szene in einer Kirche spielt, wenn dann im Verlauf des Films 10 Regeln aufgestellt werden und gegen Ende auch noch ein Mensch mit ausgebreiteten Armen seinem Tod entgegensieht, dann will der Film ganz sicher eine theologische Aussage machen. Welche allerdings, darüber war die Interfilm-Jury uneins. In jedem Fall ist der Film dazu geeignet auf provokante Art und Weise Gesprächsstoff zu liefern. EINE VERNÜNFTIGE LÖSUNG gewann den Hauptpreis der nordischen Filmtage, und es ist bezeichnend für die Vieldeutigkeit dieses Werkes, dass die NDR-Jury den Film noch einmal ganz anders deutete, als es die Mitglieder der Interfilm-Jury taten.
Der Film ist ein Beziehungsdrama. Erland ist mit Maj verheiratet. Sven-Erik ist mit Karin verheiratet. Karin und Erland haben eine Affäre miteinander. Brisant wird diese Affäre noch zusätzlich dadurch, dass Erland und Maj Eheseminare in ihrer Kirchengemeinde geben. Erland überredet Karin dazu, ehrlich mit der Affäre umzugehen, worauf beide ihre Ehepartner mit der Affäre konfrontieren. Die Paare sind sich nicht unbekannt, und als die Krise offenbar wird, fordert Erland eine „vernünftige Lösung“. Die soll dadurch erreicht werden, dass die vier zusammen in eine Wohnung ziehen und das Problem ausdiskutieren. Für das Zusammenleben in der Wohngemeinschaft werden Regeln aufgestellt. Karin und Erland sollen ihre Affäre weiter ausleben dürfen, solange die Sache nicht geklärt ist, sie sollen aber dafür einen eigenen Raum haben, so dass die betrogenen Ehepartner dies nicht mitbekommen müssen. Der Titel „Eine vernünftige Lösung“ meint Lösung nicht nur im Sinne einer Konfliktlösung, sondern auch im Sinne einer Ablösung, einer Trennung. Aber wer muss sich von wem trennen und warum?
Die emotionale und räumliche Nähe, der die beiden Paare in ihrer Wohngemeinschaft ausgeliefert sind, macht den Film so spannungsgeladen wie unerträglich. Es wird schnell deutlich, dass es vor allem der wortgewandte Erland ist, der von der gesamten Situation profitiert. So spricht er in einer der Gesprächsrunden an, dass er Schuldgefühle habe, die ihn belasten, und fordert die anderen dazu auf, ihm dabei zu helfen diese zu überwinden. Sven-Erik hingegen ist überhaupt nicht in der Lage, Gefühle in Worte zu fassen; in ihm brodelt ein unartikuliertes Gefühlschaos, dass erst zum Ausbruch kommt, als er Erland eines Nachts auffordert: "Schlag mich." Erland tut Sven-Erik diesen Gefallen und fordert ihn umgekehrt auf, zurückzuschlagen, aber Sven-Erik schlägt nicht zurück sondern wiederholt nur unaufhörlich seine Forderung: "Schlag mich!" Auch in dieser Szene klingt biblischer Stoff an, da Sven Erik buchstäblich "die andere Wange" hinhält.
Im Verlauf der Dialoge zwischen den vier Protagonisten stellen sich Glaubensfragen: Ist die Liebe eine Offenbarung Gottes, auch wenn es die Liebe zweier Ehebrecher ist? Wo ist Gott in dieser Krisen-Situation, schaut er nur zu und vergisst einzugreifen, während ein Mensch in zwei Teile geschnitten wird? Unausgesprochen schwebt dabei auch die Frage im Raum, ob sich Beziehungen überhaupt mit Vernunft lösen lassen und ob man sie diskutieren kann. Die Antworten sind stark von der Deutung abhängig.
EINE VERNÜNFTIGE LÖSUNG ist ein packendes Beziehungsdrama, das seine Zuschauerinnen und Zuschauer nicht so schnell wieder loslässt.
Trailer auf Youtube:
http://www.youtube.com/watch?v=DdMbRH5touk
http://www.youtube.com/watch?v=3SIWAZByQck
Grandios glanzloses "Vegas"
(Gunnar Vikene, Norwegen 2009)
Drei Kinder aus der norwegischen Stadt Bergen kommen in ein Pflegeheim. Marianne, Thomas und Terje. Jedes der Kinder hat seine Geschichte, die der Film in kurzen aber schockierenden Szenen einleitend erzählt. Der vielleicht 17-jährige Thomas leidet unter der häuslichen Gewalt in seiner Familie. Die 16-jährige Marianne scheint nur zwei Sprachen zu sprechen: Sex und Gewalt, was unausgesprochen nahelegt, dass sie mit beidem schon sehr früh Erfahrungen machen musste. Dem jüngeren Terje verweigert sein Vater nach dem Tod der Mutter jeglichen Kontakt, weil er ihm die Schuld für den Tod seiner Frau gibt.
Die drei finden zueinander und bilden eine Ersatzfamilie. Obwohl die Rollenverteilung der Dreiergruppe stark an die klassische Struktur Vater-Mutter-Kind erinnert, beschreiben die drei ihr Verhältnis zueinander im Film anders: Da alle mindestens einen Teil ihrer Eltern verloren haben, kann niemand wissen, von wem er abstammt. Deswegen besteht die reale Möglichkeit, dass sie alle Geschwister sind und es nur nicht wissen. Geschwisterlichkeit wird angesichts des totalen Versagens der elterlichen Generation zum Bekenntnis der Jugendlichen. Dabei sind es stets die Erwachsenen, die diesem Bekenntnis im Weg stehen.
In der Diskussion der Interfilm-Jury über VEGAS wurde lange über einen dunklen Fleck im Gesicht von Thomas geredet: Eine Pigmentstörung oder Spuren von Schlägen? Man erfährt es nicht. Er trägt dieses Mal den ganzen Film, der einen Zeitraum von etwa einem halben Jahr abhandelt. Besonders schön, wenn auch wahrscheinlich nicht von den Machern intendiert, erschien dabei der Gedanke, dass es sich um das Mal des Kain handeln könnte, Kain, der doch eigentlich seines Bruders Hüter sein sollte. Dieses Gebot "seines Bruders Hüter zu sein" bildet den Kern der Hoffnung, die im Angesicht aller Hindernisse in VEGAS nicht besonders groß erscheint. Aber sie ist da; gegen alle Gewalt, alle Enttäuschung, alle Regeln kann sie dennoch bestehen.
Die schauspielerische Leistung der jugendlichen Hauptdarsteller in VEGAS ist enorm. Waisentrauer, die Folgen von sexuellem Missbrauch und häuslicher Gewalt sind große schauspie-lerische Herausforderungen, aber den dreien gelingen so überzeugende Szenen, dass sie dem Zuschauer Gänsehaut bereiten.
Der Titel VEGAS meint Las Vegas. Las Vegas steht für einen bunten, fröhlichen Traum, für eine Illusion, in der alles möglich ist. Marianne erzählt einmal, dass ihre Mutter in Las Vegas arbeitet. Marianne weiß auch, wie man das große Geld dort machen kann. Alles, was man bräuchte, wäre eine Fahrkarte...
Trailer auf Youtube:
http://www.youtube.com/watch?v=pDA7s47O-Ew
"Post für Pastor Jakob" kommt gut an
(Klaus Härö, Finnland 2009)
"Was bleibt übrig, wenn man alles verloren hat, was vorher wichtig im Leben war?" Mit diesem Satz beschrieb der Regisseur Klaus Härö bei der Preisverleihung in Lübeck die Fragestellung seines Films. Ein herausragender Film auf dem Festival, der einzige, der gleich zwei Preise gewann, den Preis der Interfilm-Jury und den Publikumspreis, und der krönende Abschluss einer langen Geschichte, die der Regisseur vor der Filmvorführung für das Publikum selber erzählte:
Klaus Härö befand sich gerade im Leerlauf. Er fühlte sich nutzlos, hatte wenig zu tun. Da erreichte ihn eine E-Mail von einem J.M. Makkonen. Ohne Inhalt, nur ein Drehbuch im Anhang. Härö wollte die Mail ignorieren, er hatte sich seinen Stoff immer sehr sorgfältig ausgesucht, mochte nicht mit irgendjemanden zusammenarbeiten, den er gar nicht kannte. Aber weil er die Zeit gerade hatte, dachte er sich, dass ein Blick in das Drehbuch ja nicht schaden könnte. Er fing an zu lesen, war fasziniert und wollte am Ende des Drehbuchs den Stoff bearbeiten und verfilmen. Er entschloss sich, den Drehbuchautor per Telefon zu kontaktieren, ihn aber, bevor er auf sein Interesse an einem Film zu sprechen käme, gehörig zurechtzuweisen, dass man auf diese Art und Weise im Filmgeschäft nicht einfach Kontakt mit einem Regisseur aufnehmen könne. Bei seinem Anruf überraschte ihn aber sein Gegenüber am Telefon: kein Janek, sondern eine Jana meldete sich am Apparat. Klaus Härös Zurechtweisung fiel sofort deutlich sanfter aus. Frau Makkonen war Teilnehmerin in einem Kurs für Drehbuchschreiben und die Außenseiterin des Kurses. Sie war Mitte 40 und alle anderen etwa 20 Jahre jünger als sie. Niemand mochte ihre Drehbücher. Die Mail an Härö hatte sie nur des Kurses wegen geschickt, mit einer Antwort hatte sie nicht gerechnet. Härö bekam die Erlaubnis, ihr Skript zu überarbeiten und einen Produzenten zu finden. Er bekam schließlich ein Budget von 500.000 Euro für einen Fernsehfilm. Erst während der Dreharbeiten sollte es dann doch ein Kinofilm werden. In Finnland ist der Film bereits ein großer Erfolg. Die Kinos zeigen ihn schon viele Monate. Es ist der Film, der in Finnland für die Oskar-Nominierungen an den Start geht.
POST FÜR PASTOR JAKOB erzählt von Leila, einer Mörderin, die, zu lebenslanger Haft verurteilt, zu Beginn der Erzählung überraschend begnadigt wird. Ihr Gefängnisseelsorger gibt ihr die Adresse eines Pastors, für den sie arbeiten soll. Pastor Jakob ist blind und lebt einsam in seinem Pfarrhaus, bekommt aber regelmäßig Post. In den Briefen teilen Menschen dem Geistlichen ihre Sorgen und Gebetsanliegen mit, auf die der Pastor mit Gebet und auch Gegenantwort seelsorgerlich reagiert. Der alte Mann benötigt dafür eine Person, die für ihn liest und schreibt. Doch eines Tages bleibt die Post aus und Pastor Jakob verliert scheinbar alles, was seinem Leben Sinn und Aufgabe gegeben hat.
Der Film kreist um die Frage, wer wen braucht, und er beantwortet diese überraschend tiefsinnig, denn es bleibt längst nicht bei der naheliegenden Antwort, dass die Mörderin den geistlichen Beistand des Pastors braucht. Auch der Pastor bedarf der Mörderin im spirituellen Sinn. Die entscheidende theologische Aussage des Films formuliert Pastor Jakob gegen Ende, als er mit Blick auf die von ihm gesammelte Post zu Leila sagt: "Alle diese Briefe: Ich habe immer gedacht, ich tue das für Gott, aber heute denke ich, dass es vielmehr Gottes Weg war, durch diese Briefe mit mir in Verbindung zu bleiben." Diese Ambivalenz von Benötigt-Werden und Benötigen zeigt der Film auch im Bild von Jakobs Bett, unter dem die gesammelte Post an ihn liegt. Unter dem Bett bewahrt man normalerweise das auf, was einem besonders wertvoll ist, etwas, das man schützen will. Die Masse der Briefe unter dem Bett von Pastor Jakob stützt aber zugleich sein Bett und trägt ihn.
Der Film ist in seiner absolut einfachen Machart sehr finnisch. Klaus Härö sagte im Publikumsgespräch, dass er es als seine Aufgabe als Regisseur sieht, die Dinge auf ein Minimum zu reduzieren und nicht mehr zu sagen als unbedingt nötig ist. Minimal ist das schauspielerische Aufgebot, mit dem der Film auskommt: Zwei Hauptrollen: Leila und Jakob, die zu zweit beinahe den ganzen Film füllen. Dazu eine Nebenrolle: Der Postbote. Und schließlich eine Handvoll Statisten. Es gibt auch nur drei wesentliche Orte, an denen der Film spielt: das Pfarrhaus, den Pfarrgarten und die Kirche. In diesem sehr schlichten Rahmen entwickelt der Film über 70 Minuten eine intensive und bewegende Geschichte, was vor allem auf das herausragende Spiel von Kaarina Hazard und Heikki Nousiainnen zurückzuführen ist.
Besonders bemerkenswert für die Interfilm-Jury war die Verknüpfung von lutherischer und orthodoxer Tradition in der Person des Pastors. Jakob, der ein lutherischer Pastor ist, übt sich in der Einsamkeit in Kontemplation. Er ist zwar blind, hat aber in seinem Haus mehrere Ikonen stehen. Auch eine Szene, in der der Pastor das Abendmahl zu sich nimmt, lässt sowohl die lutherische Deutung des Abendmahls als auch ein orthodoxes Verständnis zu. Klaus Härö gab im Gespräch nach der Preisverleihung dieser Beobachtung recht, obwohl er selbst den Film nicht daraufhin angelegt hatte. POST FÜR PASTOR JAKOB ist auch in dieser Verbindung von lutherischer und orthodoxer Tradition sehr finnisch, da Finnland neben Lettland eines von zwei Ländern in der Welt ist, in dem beide Konfessionen stark vertreten sind. In diesem Sinne ist der Film auch ein Beitrag zur Ökumene.
Trailer auf Youtube:
http://www.youtube.com/watch?v=g_gWe4TcIM8
Filmübersicht zum Festival:
http://www.luebeck.de/filmtage/filmdb/de/movie/list/2009/index.html