Cannes des Ostens

Auf und neben dem grünen Teppich in Karlovy Vary von Monica Lienin, Mitglied der Ökumenischen Jury

Die Bäderstadt Karlovy Vary – auch als Karlsbad bekannt – zieht jeweils Anfang Juli Kinobegeisterte für neun Tage mit seinem Internationalen Filmfestival in Bann: Schauspieler, Regisseure, Produzenten, Journalisten, Fotografen, Jurys – darunter auch die Ökumenische Jury – und ausschliesslich junge, tschechische Filmfans geben sich vor und neben dem Teppich ein Stelldichein.

Zwar ist in Karlovy Vary nahe der deutsch-tschechischen Grenze der bekannte rote Teppich grün, doch tut das der darüber defilierenden Filmprominenz keinen Abbruch. Zur Eröffnung des Festivals reiste Robert De Niro an, der für seine Verdienste um das Weltkino geehrt wurde und seinen neusten Film "What Just Happend" (USA 2008, Regie: Barry Levinson) präsentierte. Der in der Tradition der klassischen Hollywoodsatire stehende Film, in dem De Niro einen alternden Filmproduzenten mimt, mochte nicht ganz überzeugen. Dafür erfreute De Niro als eigenwilliger Saxophonist in Scorseses Klassiker "New York, New York" (USA 1977) umso mehr. Zu einer Master Class lud der britische Schauspieler Christopher Lee, der durch seine Darstellung des Grafen Dracula in "Dracula" (GB 1958) Weltruhm erlangte und einem jüngeren Publikum durch seine Rolle als Zauberer Saruman in der "Lord of the Rings"-Trilogie (USA/NZ 2001–2003) bekannt ist. Der 86-Jährige wurde am Ende des Festivals mit dem Preis des Festivalpräsidenten ausgezeichnet. Auch der deutsche Schauspieler Armin Mueller-Stahl war anwesend und eröffnete am Festival eine Ausstellung eigener Malereien und Grafiken. Mueller-Stahl hat in zahllosen internationalen Produktionen wie dem Episodenfilm "Night on Earth" (USA 1991) mitgewirkt, ist aber auch dem deutschsprachigen Fernsehpublikum beispielsweise als Thomas Mann in der Fernsehtrilogie "Die Manns – Ein Jahrhundertroman" (D 2001) treu geblieben.

Individuelle Entwicklung – Von der Nacht ins Sonnenlicht

Von Russland, China über Indonesien, die USA bis hin zu west- und osteuropäischen Ländern waren aus aller Welt Filme im Internationalen Wettbewerb vertreten. Es handelte sich dabei um sechs Weltpremieren, sieben internationale und eine europäische Premiere. Neben der Grossen Jury, hat auch die Ökumenische Jury aus diesem Filmfundus ihren Gewinner erkoren. Auf der Suche nach einem roten Faden in den Wettbewerbsfilmen hat in den verschiedenen Beiträgen mehrfach die Frage nach dem Sein und den Entwicklungsmöglichkeiten der Individuen im Zentrum gestanden. Gerade der tschechische Beitrag "Deti noci" ("Night Owls", Regie: Michaela Pavlátová) brachte diesen Umstand stark zum Ausdruck, wobei die lichttechnische Umsetzung besondere Erwähnung verdient. Ofka, eine junge, künstlerisch talentierte Frau, weiss nicht so recht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Sie arbeitet Nachtschicht in einem Lebensmittelladen mitten in Prag und entdeckt, wie ihr Freund sie mit ihrer besten Freundin betrügt. Ihre Aggressionen über diesen Verrat und die allgemeine Orientierungslosigkeit lässt sie an einem langjährigen Freund aus, der heimlich in sie verliebt ist, und sie in ihren künstlerischen Fähigkeiten zu unterstützen sucht. Erst als sie bei der Arbeit überfallen und bedroht wird, beginnt Ofka ansatzweise ihr Leben zu ändern. Sie fängt nachts hinter der Ladentheke wieder an zu skizzieren, tritt langsam aus dem Dunkeln der Nacht und lässt auch das Tageslicht wieder in ihrem Leben Einzug halten; in einer der letzten Einstellungen lässt sie sich gar zu einem hoffnungsvollen Lächeln im grellen Sonnenlicht hinreissen.

Das Foto – am Anfang und Ende eines Lebensabschnitts

Auch in "The Photograph" (Indonesien 2007, Regie: Nan Triveni Achnas), dem Preisträger der Ökumenischen Jury, spielte der individuelle Lebensweg der beiden Protagonisten eine zentrale Rolle: Sita lebt in einer indonesischen Stadt der Gegenwart. Ihr Kind hat sie bei ihrer kranken Mutter auf dem Land zurückgelassen, um als Prostituierte den Lebensunterhalt verdienen zu können. Als sie eine günstige Unterkunft sucht, findet sie einen Schlafplatz im Estrich eines Fotolabors. Der Besitzer, ein kranker Fotograf, lässt die junge Frau nur widerwillig einziehen. Da Sita die Miete schon bald nicht mehr bezahlen kann, bietet sie dem Fotografen ihre Hilfe im Haushalt an. Beim Putzen stösst sie immer wieder auf neue Fotografien der Vergangenheit, nimmt an den Geschichten der Fotografien der Gegenwart teil und hilft dem altersschwachen Mann bei der Suche nach einem Nachfolgers. Exemplarisch für die schicksalhafte Begegnung zwischen Sita und dem kranken Fotografen steht am Ende des Films ein neues Bild in der Ahnengalerie des Fotografen. Nur dank seiner alten Fotografien, die die Wahrheiten und Lügen seines Lebens enthüllen und dank dem Kontakt mit Sita gelingt es ihm am Ende seines Lebens seine tragische Vergangenheit zu enthüllen. Die Ökumenische Jury würdigte den "hervorragend fotografierten Film" mit der Begründung, dass Schuld eingestanden werden könne und das füreinander Sorgen eine zentrale Rolle gewinne. "The Photograph" wurde auch von der Grossen Festivaljury unter der Leitung von Regisseur Ivan Passer mit dem Jury-Spezial-Preis (20´000 USD) ausgezeichnet.

Von Beziehungsfilmen über einen Kriegsfilm bis hin zu schwarzhumorigen Thrillern

Auch der chinesische Wettbewerbsbeitrag "Dixia de Tiankong" ("The Shaft", Regie: Zhang Chi), der in drei Episoden vom Leben in einer Bergarbeiterstadt erzählt, setzt sich mit dem Lebensweg der einzelnen Protagonisten auseinander. Gemeinsam ist ihnen, dass der Macht des Schachts in dieser Stadt Westchinas nur schwer zu entkommen ist, denn der Bergbau bietet die einzige Existenzgrundlage. Im spanischen Film "Pretextos" ("Pretext", Regie: Silvia Munt), in der Beziehungskomödie "La vérité ou presque" (Frankreich 2007, Regie: Sam Karmann) oder im kroatischen Drama "Iza stalka" ("Behind the Glass", Regie: Zrinko Orgesta) sind die individuellen Lebenswege stark an die mehr oder weniger alltäglichen Probleme in Liebesbeziehungen gebunden. Gar nicht ins Schema der individuellen Entwicklung passte allerdings der russische Kriegsfilm "Plennyj" ("Captive", Regie Alexey Uchitel), der die Absurdität des Kriegsalltags thematisiert. Ebenso verhielt es sich mit den beiden Beiträge aus Dänemark und Ungarn. Der dänische Regisseur Henrik Ruben Genz hat mit "Frygtelig Lykkelig" ("Terribly Happy") ein groteskes Drama geschaffen, in das er gekonnt Elemente des Western- und Horrorgenres einfliessen liess. Ein junger Polizist wird wegen Fehlverhaltens auf die Halbinsel Jütland versetzt. Die Bewohner haben dort ihre eigenen Gesetze und vor allem einen nahegelegenen Sumpf, in dem nicht nur Kühe verschwinden, um dann plötzlich wieder aufzutauchen. Auch "A nyomozó" ("The Investigator") ist ein Krimi von schwarzem Humor. Ein Pathologe begeht einen Mord, um für die Operation seiner krebskranken Mutter aufzukommen. Die Tat verläuft reibungslos, doch dann erhält der Pathologe einen Brief mit Informationen über seinen ihm bisher unbekannten Vater. Der ungarische Thriller erhielt von der Grossen Jury eine lobende Erwähnung. Der dänische Western "Terribly Happy" gewann den mit 30´000 USD dotierten Hauptpreis.

Auf grünem Teppich und Rasen

Das Festival in Karlovy Vary mag zwar das kleinste der internationalen A-Festivals sein, doch besticht es durch eine sorgfältige Filmauswahl. Die Zahl der 14 im Internationalen Wettbewerb vertretenen Filme ist bescheiden, vergleicht man mit anderen Festivals wie Cannes, das dieses Jahr 22 Wettbewerbsfilme zählte. Aber die Bescheidenheit wie im Falle des grünen Teppich zahlt sich aus, denn die kleinere Auswahl der Filme, vermochte durch die allgemein hohe Qualität überzeugen. Mit seiner Wettbewerbssektion "East of the West" fördert Karlovy Vary ferner den Austausch zwischen Ost und West und bietet Filmemachern und Zuschauern eine Plattform. Die "East of the West Jury" hat "Tulpan" (Kasachstan 2008, Regie: Sergey Dvortsevoy) als besten Film ausgezeichnet, der humorvoll von der schwierigen Suche nach einer Ehefrau in den Steppenlandschaften Kasachstans erzählt.

Im Gegensatz zur eher alternden Filmprominenz auf dem grünen Teppich zieht das Festival von Karlovy Vary alljährlich viele junge Filmbegeisterte an; es sind vor allem tschechische Jugendliche und junge Erwachsene, die mit Zelt und Rucksack aus allen Ecken des Landes anreisen und die Grünflächen der Umgebung einnehmen. Das tolle Programm, die mit viel Humor und Charme präsentierten Filme, ja allein die alljährlich neuproduzierten Filmtrailer – glaubt man Insidern und Kennern des Festivals – machen einen Festivalbesuch in Karlovy Vary zu einem Erlebnis.