Im Pressetext des Festivals, der am 10.Oktober den diesjährigen Focus „queer East“ anzeigt, wird einleitend ein gegenwärtiges übernationales Kräftemessen zwischen liberalen Modernisierern und europakritischen Traditionalisten angesprochen, und diesbezüglich auch auf den vielerorts spürbaren Einfluss der Kirche hingewiesen, insbesondere denjenigen der orthodoxen Kirchen, aber auch der katholischen Kirche.
In der Tat tun sich insbesondere die Kirchen des Ostens im Umgang mit schwul-lesbischen Menschen und deren Lebensweise schwer, und die Tatsache, dass die protestantischen Kirchen des Westens damit im Allgemeinen seit längerer Zeit eine grössere Offenheit zeigen (von evangelikalen Gemeinschaften einmal abgesehen), hat zu nicht geringen Spannungen im ökumenischen Dialog der Kirchen geführt. Die lutherische Kirche Schwedens hat im Nachgang zur zivilrechtlichen Anerkennung schwul-lesbischer Ehen durch das Parlament im Jahr 2009 für diese auch die kirchliche Anerkennung beschlossen. „Es gebe keine ausreichenden theologischen Argumente, um gleichgeschlechtlichen Paaren die Ehe zu verweigern“, sagte Anders Weijrud, der Primas der Schwedischen Kirche und Erzbischof von Uppsala (zeitzeichen 12/09). Im gleichen Jahr wurde mit der 55jährigen lesbischen Pastorin Eva Brunne erneut eine Frau ins Bischofsamt von Stockholm gewählt und in der Kathedrale von Uppsala in Anwesenheit des Königspaars ordiniert.
Man ist nicht überrascht, dass die Russisch-orthodoxe Kirche in der Folge auf Distanz zur schwedisch-lutherischen Kirche ging. Man darf auch nicht überrascht sein von der Nachricht, die ich in der Neue Zürcher Zeitung vom 13. September dieses Jahres las, wonach geplante offizielle Gespräche zwischen der evangelisch-lutherischen Kirche Finnlands und der orthodoxen Kirche Russlands über Fragen der christlichen Anthropologie abgesagt worden seien. Erzbischof Kari Mäkinen begründete die Absage gegenüber finnischen Medien damit, dass es die finnische Kirche abgelehnt habe, sich auf die russische Vorbedingung für die Gespräche einzulassen und sich von der Homosexualität zu distanzieren.
Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang an die Irritationen und Differenzen, welche die Wahl von Margot Käßmann zur Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) seinerzeit bei der Russischen Orthodoxen Kirche ausgelöst hat; Differenzen, die auch nach ihrem Rücktritt vom Ratsvorsitz vor vier Jahren anhielten. Metropolit Ilarion (Alfejev), Leiter des Kirchlichen Aussenamtes der Russischen Orthodoxen Kirche sagte damals in einem Interview, bei der Wahl von Käßmann habe es sich nur um die Spitze des Eisberges gehandelt. Die Russische Orthodoxe Kirche sei grundsätzlich nicht einverstanden mit jener „Liberalisierung im Bereich von Theologie, kirchlichem Aufbau und Moral“, die sich in vielen protestantischen Gemeinden, so auch in der EKD, beobachten lasse (G2W Nr. 5/2010).
In der Tat drohte die Russische Orthodoxe Kirche laut einem Bericht der Internetzeitung newsru.com durch Ihren Sprecher Wsewolod Tschaplin sogar bereits 2008 mit dem Austritt aus dem OeRK, dem Oekumenischen Rat der Kirchen in Genf. Dieser soll gesagt haben, es sei „offensichtlich, dass liberale protestantische Kreise versuchten, den Weltkirchenrat in eine Tribüne zur Förderung von Feminismus, dem Recht sexueller Minderheiten, Ideen zur Aufweichung staatlicher Souveränität und einiger anderer politischer Programm zu machen“ (zeitzeichen 1/2008).
Die Äusserung steht in einer langen Reihe von kritischen Stellungahmen der Russischen Orthodoxen Kirche, die 2008 im Zusammenhang mit der 60 Jahre zuvor am 10. Dezember 1948 verabschiedeten Menschenrechtserklärung in einem bedeutsamen Dokument kulminierte. Das im Juli jenes Jahres veröffentlichte Dokument trägt den (präzis gesetzten) Titel „Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Rechte des Menschen“, und darin wird Kritik geübt an der „westlichen“ Konzeption der Menschenrechte. Diese laufe vielfach der christlichen Moral zuwider und dürfe daher von Christinnen und Christen nicht kommentarlos übernommen werden (siehe G2W Nr. 10/2009). Bereits vor ihrer Publikation unterstrich Metropolit Kirill von Smolensk, der Leiter des Departements für Aussenbeziehungen des Moskauer Patriarchats an einem Kolloquium der UNO in Genf zwar die Bedeutung von Menschenrechten („… they are indeed an important institution in modern social order“); gleichzeitig aber hob er auch die Bedeutung ethisch-moralischer Normen hervor und warnte vor deren Untergrabung als Folge eines missverstandenen Freiheitsbegriffs (siehe ENI-Bulletin vom 26. März 2008).
Meine beschränkte Redezeit erlaubt es mir an dieser Stelle nicht, im Detail darauf einzugehen.
Allerdings ist jetzt kurz auf das Positionspapier einzugehen, das die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) unter dem Titel „Menschenrechte und christliche Moral“ nach einem längeren Konsultationsprozess im Juni 2009 als Antwort auf das oben erwähnte Dokument der ROK veröffentlicht hat. Darin wird nicht verschwiegen, dass sich gegen den ursprünglichen Mainstream kirchlicher Ablehnung einzelne Protestanten, wie zum Beispiel auch Dietrich Bonhoeffer, für die Menschenrechte eingesetzt haben, aber es wird auch nicht verschwiegen, dass die Menschenrechte für die Kirchen vorerst eine Provokation waren und es zum Teil noch immer sind. „Die einen sahen durch sie das Naturrecht bedroht, die anderen die fundamentale Bestimmung des Verhältnisses von Evangelium und Gesetz in Frage gestellt, so dass sich die Kirchen schwer mit der Anerkennung des egalisierenden Autonomieprinzips taten“, schreibt der Schweizer Theologe Frank Mathwig (G2W Nr. 10/2009). Aber die „westlichen“ Kirchen haben einen zeitlichen Vorsprung hinsichtlich der Zumutungen neuzeitlichen Denkens, obwohl sich ihm vor allem angesichts der unleugbaren systematischen Menschenrechtsverletzungen insbesondere derjenigen im 20. Jahrhundert, alle Kirchen stellen müssen. Dennoch gibt es Streitpunkte zwischen der GEKE und der ROK. Es geht dabei einerseits um die Klärung der Begriffe „Menschenwürde“ und „Freiheit“, andererseits um die Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat. Für ein neuzeitliches Verständnis von Staat und Gesellschaft ist die Unterscheidung zwischen Recht und Moral fundamental: Die Lebensanschauungen, -ziele und perspektiven sind Sache der einzelnen Person, solange diese die individuellen Freiheiten Dritter nicht einschränken. In Konfliktfällen tritt das Recht auf den Plan, indem es Grenzen setzt, wobei Gesetze nicht festlegen, wie Menschen ihre Freiheiten gestalten sollen, sondern nur, wo sie an ihre Grenzen stossen.
Sie verstehen, dass ein Eingehen auf die Probleme, die sich damit stellen, an dieser Stelle nicht möglich ist, aber Sie verstehen auch, warum ich im Titel zu meinem Votum vom „Kreuz mit den Menschenrechten“ spreche. Und das gibt gelegentlich auch in unseren ökumenischen Jurys zu diskutieren, in deren Richtlinien von SIGNIS und INTERFILM die Solidarität mit jeder Art von Minoritäten und der Respekt für die Menschenwürde und Menschenrechte festgeschrieben ist („respect for human dignity and human rights“). Aber während der russische Staat diesbezüglich repressive Gesetze erlässt, orthodoxe Priester in Russland und Georgien gegen die Gay Pride öffentlich Stimmung machen, in Serbien sogar Hand in Hand mit Rechtsextreme gegen deren Durchführung protestieren und Homosexualität als Krankheit und Bedrohung der Familie diffamieren, vergab die Oekumenische Jury 2012 an den im Panorama der Berlinale gezeigten Film „Parada“ (The Parade) des serbischen Regisseurs Srdjan Dragojevic eine Lobende Erwähnung. Zehn Jahre zuvor hielt der damalige Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes, der reformierte Pfarrer Thomas Wipf, am Christopher Street Day (CSD), der in Zürich unter dem Motto „We are family“ stattfand, eine kleine Ansprache. Darin wies er auf die Wichtigkeit der gesetzlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften hin, welcher im folgenden Herbst (2002) im Rahmen einer eidgenössischen Abstimmung von der überzeugenden Stimmenmehrheit des Schweizer Volkes auch zugestimmt worden ist. Deutlicher könnte das Spannungsfeld im ökumenischen Dialog kaum zu Tage treten und illustriert werden, von der aktuellen Diskussion innerhalb der Römisch-katholischen Kirche ganz zu schweigen.