Anfang August gehört Locarno Filmschaffenden und Kinobegeisterten aus aller Welt. In 10 Tagen flimmern knapp 250 Filme über die verschiedenen Leinwände, und es ist nicht einfach, sich zwischen den zahlreichen Vorführungen zu entscheiden. Die schiere Fülle des Programms bringt die einen zum Verzweifeln, die anderen zum Schwärmen. Zum Festivalpublikum gehörte auch eine Gruppe von Pfarrerinnen und Pfarrern, die sich im Rahmen einer Weiterbildung intensiv mit Filmen auseinandersetzte. Langweilig jedenfalls wird es nie in dem Städtchen am Lago Maggiore. Der Goldene Leopard ging dieses Jahr an den südkoreanischen Film Right Now - Wrong Then (Regie: Hong Sang-soo, 2015). Er überzeugte auch die Ökumenische Jury, die ihn gleichermassen wie den italienischen Beitrag Bella e perduta (Regie: Pietro Macrello, 2015) mit einer lobenden Erwähnung würdigte, ihren mit 20‘000 Franken dotierten Preis jedoch einem anderen Film verlieh, aber dazu später.
Ein Spaziergang ist ein Filmfestival zwar nie, aber gerade in Locarno ist im Internationalen Wettbewerb besonders häufig der Wille zur Kunst zu spüren. Die dort gezeigten Filme sind nicht gerade unterhaltsam und fordern in ihrer Ästhetik und ihren Geschichten oft stark heraus. So wurde Chantal Akermanns No Home Movie (Belgien/Frankreich 2015) von vielen Besuchern und Kritikerinnen als Zumutung empfunden. Die bekannte Regisseurin setzt sich darin mit ihrer betagten Mutter via Skype auseinander, die als junge Frau vor den Nazis fliehen musste und später kaum mehr ihre Brüsseler Wohnung verliess. Hier prallten Einsamkeit und Betriebsamkeit aufeinander, aber vor allem stellten sich die Zuschauerinnen und Zuschauer die Frage nach dem künstlerischen Wert der Bilder und ihrer Montage.
Dagegen legte der israelische Wettbewerbsbeitrag Tikkun (Regie: Avishai Sivan, 2015) ganz fraglos künstlerischen Impetus an den Tag, Diskussionen haben hier aber vielmehr der Inhalt sowie explizite Szenen von Nacktheit ausgelöst. In klarem Schwarzweiss und durchkomponierten Szenen erzählt „Tikkun“ von einer ultraorthodoxen Familie, deren ältester Sohn eifrig die Tora studiert und zugleich mit seinem erwachenden Begehren ringt. Geschwächt vom selbstauferlegten Fasten kommt er auf tragische Weise um. Zwar gelingt es seinem verzweifelten Vater, ihn wieder zu beleben, doch findet der junge Mann in seinem Leben keinen Tritt mehr. Bald zweifelt der Vater seinerseits daran, das Richtige getan zu haben. In radikaler Filmsprache wird eine ebenfalls radikale Geschichte erzählt, und doch bleibt der Film erstaunlich deutungsoffen und hinterlässt einen tiefen Eindruck.
Der Schweizer Wettbewerbsbeitrag verdient v.a. für seine Entstehungsgeschichte Anerkennung, einer Kooperation von acht Regisseuren und zwei Regisseurinnen. Heimatland stellt sich die Frage, wie hierzulande ein Katastrophenszenario bewältigt werden würde. Eine Wolke braut sich über der Schweiz zusammen und macht just an den Grenzen halt, für einmal wird die Inselsituation anders herum gedacht. So beschwört dann auch der Film Isolation soweit, dass die einzelnen Regiearbeiten zwar reibungslos ineinander geschnitten sind und ein grosses Ganzes ergeben, aber sämtliche Geschichten und Figuren voneinander isoliert bleiben. Handwerklich sehr gut gemacht, entfaltet sich das negative Bild einer entsolidarisierten Gesellschaft, eine Vision sucht man vergeblich, denn gegen Ende bietet „Heimatland“ wenig Überraschendes. Leider hat sich der intensive Austausch in der sicher auch solidarischen Kooperation auf produktioneller Ebene nicht auf die Story ausgewirkt. Ob der Film, der im Herbst in die Kinos kommen soll, freilich eine „Moralpredigt“ ist, wie aus dem Publikum zu hören war, sei dahin gestellt.
Die Ökumenische Jury zeichnete mit Paradise (Ma dar Behesht, Regie: Sina Ataeian Dena, 2015) ein Werk aus dem Iran aus, der auch in der Schweiz in die Kinos kommen wird (Starttermin zu Redaktionsschluss noch nicht bekannt). Sie schreibt in ihrer Begründung: „Ein starker, mutiger iranischer Film über das tägliche Leben von Hanieh, einer jungen Lehrerin an einer Primarschule in den südlichen Vororten von Teheran. Dank spärlichen Freiheitsmomenten lassen sich trotz der einschnürenden Verhältnisse, welche iranische Frauen erdulden müssen, Hoffnungszeichen erahnen.“ Zwar versäumte ich selbst diesen Film, doch kann ich mir vorstellen, wie intensiv die Jury diskutiert haben muss, war es doch ein äusserst anspruchsvoller Wettbewerb mit teilweise schwer verdaulichen Filmen.
(© Festival del Film Locarno, Samuel Golay)