Eindrücke von den Nordischen Filmtagen Lübeck 2006. Von Jurymitglied Dietmar Adler
Lübeck im November – mit Sturm und Überschwemmung fing es an, Frost und  Sonne dann und schließlich trübe Herbsttage. So vielfältig wie die klimatischen Verhältnisse waren auch die sorgsam ausgewählten Filme aus den skandinavischen und baltischen Ländern bei den in diesem Jahr um einen Tag verlängerten 48. Nordischen Filmtagen.
 

Was auffiel: Familiengeschichten. Da sind Menschen auf der Suche nach dem verlorenen Vater oder einer verschwiegenen Schwester, da werden Fragen nach Herkunft und Prägungen gestellt, da scheitern Sehnsüchte nach Versöhnung.


In dem  Film Prag (Dänemark 2006, Regie: Ole Christian Madsen) fahren Christoffer und seine Frau Maja mit dem Zug von Dänemark nach Prag. Christoffers Vater ist gestorben, die sterblichen Überreste sollen überführt werden.  Trauer kann Christoffer aber nicht empfinden, mit 15 hat er den Vater zuletzt gesehen. Während Christoffer sich mühsam dem Leben des  fremden Vaters nähert, Spuren sucht, Freunde und Begleiter des Verstorbenen kennenlernt, bricht gleichzeitig eine abgrundtiefe Krise in seiner Ehe auf. Präzise sind die Figuren gezeichnet. Suchen und Finden des Entzogenen, Kämpfen um den Partner, Loslassenkönnen  des Verlorenen – ein starker Film.

© Solar Films / Frozen City

Berührend die Geschichte des stilistisch noch anspruchsvolleren Films Frozen City (Valkoinen kaupunki, Finnland 2006, Regie. Aku Louhimies). Veli-Matti, Taxifahrer in der unwirtlichen Stadt Helsinki, ist begeisterter Papa seiner drei Kinder. Der Kälte draußen setzt er die Nähe und Wärme zu seinen Kindern entgegen. Als seine Frau nach  einer längeren Abwesenheit zurückkommt, betreibt sie die Trennung. Er muss ausziehen. Seinen Wunsch, die Kinder die Hälfte der Zeit zu betreuen, kann er  beim Jugendamt gegenüber seiner viel sprachfähigeren Frau nicht durchsetzen. Er verliert auch noch seinen Job. Immer mehr sinkt er ab, unaufhaltsam vollzieht sich sein Abstieg. Als sein Nachbar das Meerschweinchen tötet, das Veli-Matti seiner Tochter zum Geburtstag geschenkt hat, rastet er aus, die Folge: der Tod des Nachbarn.
 

Und im Gefängnis eröffnet ihm seine Frau, dass sie mit den Kindern nach Frankreich ziehen wird, er werde seine Kinder nie wiedersehen. Für Veli-Matti gibt es keinen Sinn mehr, für den es sich zu leben lohnt. Am Ende des Film wird dann  doch eine Hoffnung auf einen neuen Anfang sichtbar, aber sie bleibt unbestimmt.

Der von der INTERFILM-Jury mit einer lobenden Erwähnung bedachte Film beeindruckt durch seine Nähe zu den Menschen.  Eine exzellente Kameraführung mit sicher gewählten Einstellungen, eine gut und maßvoll eingesetzte Musik, die Genauigkeit des Blicks, all das ist fesselnd. Als  die Frau Veli-Matti im Gefängnis besucht, sieht man ihr Gesicht aus seiner Perspektive, dazwischen die Trennscheibe, die die Berührung verhindert, darin sich spiegelnd die Andeutung seines Gesichtes, das ist eindrücklich und gut gemacht. Die Verweise auf Scorseses Taxi Driver wären allerdings nicht notwendig gewesen. Ein Film, der in Erinnerung bleiben wird.

© Jukki Tuura

Auf ganz andere Weise beeindruckte ein anderer finnischer Film: Der schiefe Turm  (Kalteva torni, Finnland 2006, Regie. Timo Koivusalo). Der in einer psychiatrischen Klinik untergebrachte Johannes träumt vom schiefen Turm zu Pisa, überall hat er Postkarten von dem Turm, baut mit Baumstämmen schiefe Türme oder stellt sich selbst mit dem entsprechenden Neigungswinkel auf.  Johannes wird gerade auf ein Leben außerhalb des Krankenhauses vorbereitet. Da trifft es sich für ihn gut, dass die kleine Tochter der ihn betreuenden Krankenschwester und ihre Großmutter einen Tripp nach Italien planen. Johannes fliegt mit dem gleichen Flugzeug, steigt im gleichen Hotel ab und schließt sich den beiden an. Aber immer wieder überkommen ihn psychotische Schübe, er weiß nicht, wo er ist, wer er ist, wird in Abenteuer verwickelt. Wie Johannes, so fragt sich auch der Zuschauer: was ist wirklich – und in welcher Realität? Das ganze ist mit viel Witz  und zugleich einfühlsam erzählt. Grandios der Hauptdarsteller Martti Suosalo (lobende Erwähnung der NDR-Jury). Ein paar Wendungen der Geschichte sind vielleicht zuviel, aber das stört den Gesamteindruck nur wenig.
 

Mit Spannung erwartet worden war der neue – ebenfalls im Wettbewerb laufende – Kaurismäki: Lichter der Vorstadt (Finnland 2006), der dritte Teil seiner Trilogie. Nicht der beste, da war man sich schnell einig, aber eben doch ein guter Kaurismäki, nicht mehr, aber auch nicht weniger.


Abräumer des Festivals bei den  Preisen war der Film 1:1 Ens til ens (Dänemark 2006, Regie: Annette K. Olesen): Hauptpreis der NDR-Jury, Kirchlicher Filmpreis der INTERFILM-Jury und Publikums-Preis. Aus der 1:4000-Vogelperspektive nähert sich der Betrachter den einstmals mit großen sozialen Utopien erbauten Wohnblocks eines Kopenhagener Vorstadt. Aber 1:1 stehen sich die Menschen gegenüber. Alles fängt so schön an: Mie, ein Mädchen aus einer dänischen Familie,  und Shadi, ein Junge aus einer palästinensischen Familie, sind ein wunderbares Paar. Die dänische Mutter ist mehr als tolerant, die Eltern des Jungen dürfen aber nichts von der Beziehung wissen.
 

Und dann geschieht etwas schreckliches: Mies Bruder wird niedergeschlagen in einer Blutlache liegend aufgefunden, er lebt fortan im Koma. Schwer tun sich die harten Jungs, sich dem Hilflosen zu nähern. In Shadi – und mit ihm bei den Zuschauern - keimt ein furchtbarer Verdacht: Hatte er nicht in der Tatnacht seinen großen Bruder und dessen Freund mit einer blutigen Nase angetroffen? Könnte nicht sein eigener Bruder etwas mit der schrecklichen Tat zu tun haben? Die Liebe von Mie und Shadi hält der Belastung nicht stand. Vorurteile und gegenseitige Unkenntnis vertiefen den Graben zwischen den Bevölkerungsgruppen. Dabei wollen die dänische und die muslimische Familie doch nur in Frieden mit anderen leben.

Mit exzellenter Kamera geht der Film mit den Personen mit. Bis auf Mies Mutter (hervorragend: Anette Stoevelbaek) und Mies Großmutter werden alle anderen Figuren von Laien gespielt, und das sehr eindrücklich.  Monatelang hat die Regisseurin mit den Darstellern gearbeitet, das Drehbuch auch aufgrund der Ergebnisse der Improvisationen umgeschrieben. Ganz nah ist sie der Lebenswelt dieser  Jugendlichen auf „beiden Seiten“, in beiden Familien.

Annette K. Olesen, die der Präsentation des Films auf dem Festival noch aus gesundheitlichen Gründen fern bleiben musste, konnte zur Preisverleihung dann doch nach Lübeck kommen. Man hatte ihr gesagt, ihr Film haben „einen Preis“ bekommen, überwältigt war sie dann, als sie dann gleich drei Mal auf die Bühne gebeten wurde, beim dritten Mal fehlten ihr die Worte. Bemerkenswert, dass mit ihr die einzige Regisseurin des Wettbewerbs ausgezeichnet wurde.

Beim anschließenden Gespräch mit der INTERFILM-Jury und dem Lübecker Propst Ralf Meister, der – gemeinsam mit dem GEP – das für INTERFILM-Verhältnisse stattliche Preisgeld von 2500 € aufbringen konnte, erzählte sie, sie habe weniger einen Film über die Migration drehen wollen, sondern über „Menschlichkeit“. In Dänemark war der Film aber zu einem höchst unglücklichen Zeitpunkt in die Kinos gekommen: genau in der Woche, in der Karikaturen-Streit eskalierte. Die Zuschauer-Resonanz war zu dem Zeitpunkt dann geringer als erhofft, aber im Ausland interessiere man sich dafür um so stärker für den Film.

Ein hochkarätiges Festival mit hervorragender Jurybetreuung endete dann  erstmals mit einer als Gala-Veranstaltung mit hohem Promi-Faktor ausgestatteten „Filmpreisnacht“. Gleichzeitig zu den Festival-Preisen wurden  die erstmals von der Filmförderung des Bundeslandes verliehenen „Schleswig-Holstein-Filmpreise“ überreicht. Mehr als verwunderlich war, dass durch die Regie nicht nur der Leiterin des Festivals Linde Fröhlich und ihrem Team die ihr gebührende Anerkennung versagt blieb, sondern dass auch die lobenden Erwähnungen und die Begründungen der Entscheidungen  aller Jurys (auch der Haupt-Jury) unter den Tisch fielen.

 

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