Glück auf und Film ab in Oberhausen

Bericht zu den 62. Kurzfilmtagen. Von Dagmar Petrick


Wo einst kohlestaubgeschwärzte Kumpels in dunkle Gruben einfuhren, tauchen heute Männer, Frauen, Kinder gleichermaßen ins Schummerlicht der Kinosäle ab. Gleich 20000 (ein neuer Rekord!) besuchten die diesjährigen Internationalen Kurzfilmtage, die als das älteste Kurzfilmfestival weltweit gelten und seit ihrer Gründung 1954 durch Hilmar Hoffmann bereits in die 62te Runde gingen. „Die Kurzfilmtage haben das Rentenalter erreicht“, scherzte dementsprechend auch der langjährige Festivalleiter Lars Henrik Gass in seiner von Witz und Charme sowie Seitenhieben auf das Filmfördersystem gespickten Eröffnungsrede. Ans Aufhören denkt hier freilich keiner, am allerwenigsten die Filmemacherinnen und –macher, die aus aller Welt nach Oberhausen anreisten.

Aus einer Fülle von 5000 Eingängen haben Gass und sein Team 550 Filme ausgewählt. Sie laufen in den unterschiedlichsten Wettbewerben, dem Wettbewerb für Kinder- und Jugendfilme, dem deutschen und dem NRW-Wettbewerb sowie einen für Musikvideos. Beim Internationalen Wettbewerb ist auch die Ökumenische Jury vertreten, die einen mit 1500 Euro dotierten Preis verleiht - und zwar an ein Werk, das die Kriterien für einen ökumenischen Preisträger in herausragender Weise erfüllt. Im Klartext bedeutet das, der Film soll – neben einer originellen und ästhetisch durchaus gewagten Erzählweise – empfindsam machen für „jene Dinge, die uns unmittelbar angehen“, wie es der Theologe Paul Tillich einmal nannte, als da wären: Fragen nach den Motiven unseres Handelns, dem Gelingen (oder Scheitern) menschlichen (Zusammen)Lebens, allesamt Themen von universaler Bedeutung, die einen engen geografischen Rahmen verlassen und bei denen, nicht zwangsläufig allerdings, auch eine spirituelle Dimension aufschimmern kann. Und all das, hier in Oberhausen, in der verdichteten Form des Kurzfilms, der seine Aussagen innerhalb weniger Minuten wie in einem Brennglas zusammenfügt, wodurch er einen besonders verführerischen Reiz entfaltet.

Wir jedenfalls freuten uns sehr auf die Juryarbeit!

Von den 64 Beiträgen aus 32 Ländern, die im Internationalen Wettbewerb liefen, gaben sich die meisten allerdings ausgesprochen spröde; beinahe drängte sich der Verdacht auf, sie wollten nicht verstanden werden. Dabei sind die Filme durchaus klug, nur mitunter ausgesprochen wortlastig, als trauten die Künstler den eigenen Bildern nicht: wenn sie etwa ihre Gedanken als Voice-over über sie legen, bisweilen auch als Schrift im Stil eines Godard. Und auch wenn offensichtlich ist, dass hier die Grenzen des künstlerisch Machbaren ausgelotet werden: Gemäß den Kriterien der Ökumenischen Jury blieb die Auslese da eher mager. Trotzdem stachen immer wieder einzelne Beiträge hervor, stellvertretend sei hier Polen genannt mit Arbeiten seiner renommierten Filmhochschule Łódź, der vergnügliche Cipka (Pussy) von Renata Gasiorowska zum Beispiel oder der so ganz anders gestaltete, von jeglichem Humor meilenweit entfernte Adaptacja (Adaptation) von Bartosz Kruhlik. In langen, kaum ausgeleuchteten Bildern schildert er einen Eltern-Sohn-Konflikt, „far, far, far away from comedy“, wie der Regisseur noch vor dem Film warnte. Doch bleibt Adaptacja letztlich einem Erzählmuster verhaftet, das wir bereits bei Kieślowski sahen. Auch deshalb ging der Preis der Ökumenischen Jury - nach ausgiebiger Diskussion, aber einstimmig - an einen anderen Film: 489 Years der Südkoreanerin Hayoun Kwon, der uns mit seinem tiefen Vertrauen in die Kraft des Lyrischen und der Poesie als Hoffnungsträgerin verzaubert hat.

Erzählt wird die Geschichte des südkoreanischen Soldaten Kim, der sich an einen viele Jahre zurückliegenden Einsatz in der demilitarisierten Zone zwischen Süd- und Nordkorea erinnert. Wenn das schwere Eisentor knirschend hinter ihm zufällt und er eintritt in jenes Grenzland, das, zumindest offiziell, nicht betreten werden darf, tauchen auch wir ein in einen Raum, in dem Schönheit und Schrecken hautnah beieinander liegen: In dem abgeriegelten Gebiet, das von Minen übersät ist, hat sich eine verschwenderische Blütenpracht entfaltet. 489 Jahre bräuchte es, bis alle Minen geräumt seien, erklärte 2010 der südkoreanische Präsident. Ein unvorstellbar langer Zeitraum, den Hayoun Kwon eher als emotionales Echo denn als Tatsache heraufbeschwört, weil sie den Titel ihres Films im Film selbst nicht erklärt. Am Ende wird sie das verminte Paradies scheinbar ungerührt in Flammen aufgehen lassen.


Doch ist es kein apokalyptisches Bild, das über die Leinwand flackert. Wenn im Feuerschein Glühwürmchen über die Leinwand tanzen, erzählt dies zugleich von einer großen Hoffnung: Eines Tages werden die Grenzen, die wir Menschen schufen und innerhalb derer wir eigenhändig eine Mine nach der anderen legten, überwunden und überflüssig sein.

Doch ist dies nur eine von vielen möglichen Deutungen. Denn in den computeranimierten Bildfolgen, die durch die subjektive Kamera einen unwiderstehlichen Sog entfalten, bleibt genügend Raum für Eigenes. An den Grenzen sind wir sichtbar für den Gegner und am verletzlichsten, und doch liegen gerade hier die wundersamsten Erfahrungen von Nähe und Schönheit bereit. Eine seltene, nie zuvor erblickte Blume, die inmitten einer Mine blüht, erzählt beredt davon, ein Bild, das unversehens zur Metapher wird für Mehr.

Dass Hayoun Kwons Film eine Auszeichnung verdiente, fand übrigens nicht nur die Ökumenische Jury. Auch die Jury des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen vergab ihren mit 5000 Euro dotierten Preis an die 1981 geborene Filmemacherin.

Einen weiteren Höhepunkt der Juryarbeit stellte fraglos auch - neben der feierlichen Preisverleihung am Dienstagabend - das eigens für die Ökumenische Jury angesetzte Screening einer ausgewählten Reihe von Kinder- und Jugendfilmen dar. Nach eingehender Sichtung und anschließender Diskussion vergaben wir ein Prädikat, verbunden mit einer Ankaufempfehlung an das Katholische Filmwerk Frankfurt (kfw) und Matthias-Film Berlin (MF), an den Film Viaduc (Overpass) des Kanadiers Patrice Laliberté. Und wieder, was uns mächtig freute, standen wir mit unserer Entscheidung nicht alleine da: Auch die aus fünf Jugendlichen bestehende Jugendjury entschied sich trotz des beachtlichen Altersunterschieds für Lalibertés Film, sicherlich, weil er so gekonnt (und im rasanten Tempo) mit Klischees und oberflächlichen Betrachtungsweisen spielt: Beharrlich lockt er sein Publikum auf immer neue Fährten, die er zu guter Letzt doch allesamt als falsch entlarvt. Viaduc lädt dazu ein, hinter die Fassaden von Handlungen und Haltungen zu blicken, statt den eigenen Vorurteilen und Trugbildern aufzusitzen. Wer genau hinsieht, kann das lernen, learning by viewing gewissermaßen.

Dann aber hieß es wieder Abschied nehmen von Oberhausen, das uns lieb geworden ist, wobei wir der Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen Christina Kampmann nur zustimmen können: „Das älteste Forum der kurzen Form“, schrieb sie in ihrem Grußwort, „ist auch im 62ten Jahr kein Frührentner, sondern ein junges Festival mit einem Publikum, dem alle Generationen angehören, einem sicheren Blick für den Nachwuchs und mit einem wachen Gespür für virulente Themen.“

Wie Recht sie hat, denn bei aller Sprödigkeit blieb immer wieder Raum zum Staunen durch die Erfahrung von Filmen, die wir uns nicht ausgesucht hatten und anderen verdankten, nämlich jenen, die das Programm gestalteten, Lars Henrik Gass und die wunderbare Hilke Doering zum Beispiel und viele andere mehr.

So verließen wir das Festival nach sechs erlebnisreichen, von einer Fülle von Einsichten geprägten Tagen, bereichert, staunend und dankbar, nicht nur, weil die Arbeit in der Jury allezeit fröhlich wie ernsthaft, beschwingt und tiefschürfend zugleich verlief, sondern auch, weil wir manches sahen, was uns sonst entgangen wäre. Wir kämen gerne wieder, denn Oberhausen war ein Glücksgriff. Glück auf in Oberhausen eben.