Das Festival Locarno 2002. Von Heike Kühn

Ein Filmfestival kann seine Besucher auf viele Weisen bereichern. Das 55. Festival internazionale del film Locarno offerierte in diesem Jahr gleich zwei Retrospektiven, die Bewunderer fanden. Nicht wenige Filmjournalisten zogen es vor,  anstelle des Internationalen Wettbewerbs das Programm des „Indischen Sommers“ zu sehen oder sich eine Übersicht über die Filme von Alan Dwan zu verschaffen, die zur Reise durch die amerikanische Filmgeschichte geriet. Auch die Reihe der Semaine de la Critique  konnte mit dem Film des in Bagdad geborenen und in der Schweiz aufgewachsenen Filmemachers Samir einen Höhepunkt des Festivals für sich verbuchen: Forget Baghdad ist ein Dokumentarfilm über das von Vorurteilen und subtilen Rassismen beschädigte Verhältnis orientalischer und europäischstämmiger Juden in Israel, der zum Pflichtprogramm jedes Vermittlers im Nah-Ost-Konflikt gehören sollte.

Vier alte Herren jüdischer Abstammung, die im Irak geboren wurden und als Mitglieder der verbotenen kommunistischen Partei in Israel Zuflucht fanden, erzählen von einem Leben zwischen allen Fronten. Mit dem Einfluss, den Hitler in den Staaten seiner arabischen Verbündeten gewann, wurden sie als Juden verfolgt. Als Kommunisten standen sie auf schwarzen Listen. Doch erst 1947, mit der israelischen Staatsgründung, verloren sie ihre Heimat. Israel nahm sie auf -  und stigmatisierte sie. Als faule Araber, die den Tag im Pyjama vertrödelten, gingen die irakischen Juden in die israelische Filmgeschichte ein. Die israelische Filmhistorikern Ella Shoat , selbst Tochter irakischer Einwanderer, übernimmt es in Samirs ebenso klugen wie aberwitzigen Film, die Verwerfung kultureller Identität anhand eines Films zu analysieren. Die Ausschnitte aus Kishons 1964 entstandener und ungeheur erfolgreichen Komödie Salah Shabati spiegeln ashkenasische Dünkel gegenüber orientalischen Empfindlichkeiten und Gepflogenheiten. Welchen Frieden kann ein Land eingehen, das es nicht vermocht hat, Feindbilder innerhalb ein und derselben Glaubensgemeinschaft aufzulösen? Es ist kein revanchistisches Resümee, zu dem Samirs Interviewpartner gelangen, aber es stellt dem zionistischen Lager und den Befürwortern der kulturellen Einebnung ein Armutszeugnis aus.

Von Festival zu Festival erneuert sich die Frage, was man von einem Internationalen Wettbewerb erwarten kann. Gute Filme? Locarno konnte davon in diesem Jahr mehr als zuvor aufweisen, darunter Gus van Sants Gerry, Meng Jinghuis Xiang Ji Mao Yi Yang Fei (Chicken Poets) und Meisje, ein bemerkenswert unaufgeregter, von Kindesmissbrauch, Vergewaltigung und anderen festen Größen des zeitgenössischen Jugenddramas verschonter Film über das Erwachsenwerden, den die Belgierin Dorothee Van den Berghe liebevoll inszenierte.

Doch auch Filme, die katastrophal scheitern, können aufschlussreich sein, wenn sie wie in der von Festivaldirektorin Irene Bignardi verantworteten Auswahl für nationale Irrungen und Wirrungen einstehen. So war Deutschland im Internationalen Wettbewerb mit zwei Filmen vertreten, die einander als Varianten einer fatalen Innerlichkeit spiegelten. Betrachtet man sich die letzten Jahrgänge des deutschen Films, gibt es erstaunliche wenige Regisseure, die die Welt zur Kenntnis nehmen. Streng genommen sind es zwei, nämlich Andreas Dresen und Romuald Karmakar. Ansonsten lässt sich der deutsche Film, jenseits seiner extraterrestrischen Komödien, auf den Begriff einer Plosion mit wandelnden Vorzeichen bringen. Dem Prinzip der Explosion fügte der Wettbewerb von Locarno Sophiiiie von Michael Hofmann hinzu, die Implosion bekam Zuwachs durch Iain Diltheys Film Das Verlangen.

Sophiiiie folgt seiner zwanzigjährigen Titelheldin auf dem Weg nach ganz Unten, bevor ein Selbstmordversuch das Ende ihrer Selbstverletzungsorgien verheißt. Dass die regressive Göre jemals von Eigenverantwortlichkeit gehört hat, bleibt ein pathetischer Ausblick. Mit Verspätung offenbart der mit einem apokalyptischen Lebensgefühl kokettierende Film, dass Sophie im Suff vergewaltigt worden ist und wegen einer bevorstehenden Abtreibung durchdreht. Wie sie sich so durchs nächtliche Hamburg säuft und mit grenzdebiler Faszination für ausweglose Situationen beinahe die nächsten Vergewaltigungen provoziert, sucht man vergebens nach einem psychologischen Verständnis ihres Charakters. Geschweige denn nach einer Auseinandersetzung mit der Tradition psychischer Abwesenheit, die im deutschen Drama seit Kleists „Marquise von O.“ eine Vorraussetzung für die Thematisierung einer Vergewaltigung zu sein scheint. Innere Leere, die gewaltsam gefüllt und nicht minder gewaltsam zurückerobert wird: Das Phänomen einer zum Vakuum verkommenen Weltlosigkeit, die die Weltflucht der deutschen Romantik beerbt hat, könnte in Sophiiiie aufscheinen. Stattdessen besteht der Film mit den groben visuellen Ausrufezeichen darauf, zu seinem Gegenstand ein mimetisches Verhältnis zu haben.

Hofmanns Film kommt aus dem Bauch. Das Verlangen ist eine Kopfgeburt. Das Mädchen im Selbstzerstörungsrausch verkörpert eine Haltung zur Welt, die im deutschen Film fälschlicherweise für Authentizität gehalten wird, aber de facto eine Art politischen und emotionalen Autismus bezeichnet. Kotzt sich Sophie, wie man im Deutschen so schön sagt, die Seele aus dem Leib, schluckt Lena, die Pfarrfrau aus Das Verlangen alles herunter. Das Ergebnis bleibt dasselbe: Eine mit allen Mitteln verteidigte Beziehungsunfähigkeit, die man als Deutsche offenbar auf keinen Fall kommunizieren kann.

Hofmanns Film ist eine Verdrängungslehre, die die Neurosen des deutschen Films drastisch ausagiert. Das Verlangen ist dagegen ein Patient, der von Freud noch nie gehört hat. Warum Lena, die entsagungsvolle Trägerin ostentativ zurückgekämmter Haare, in einem schwäbisch-fränkischen Dorf den autoritär verknöcherten Pfarrer geheiratet hat, weiß nur das Drehbuch, das neben kleingemusterten Tapeten, einem vor Verklemmtheit mordenden Mechaniker und der Sprühsahne im deutschen Kaffee auch den Mord für möglich hält, den die stumm leidende Lena an dem dicken Kommissar begeht, der dem Mechaniker, in den sie sich verliebt hat, auf die Spur zu kommen droht.

Von Ingmar Bergman zu reden, nur weil eine freudlose protestantische Pfarrehe aus dem Buch der Klischees ab- und ins Drehbuch hineingeschrieben wurde, gleicht einer Verleumdung des großen schwedischen Regisseurs und Menschenkenners. Lenas Mord kommt ohne Worte aus, Das Verlangen ohne Sinn und Verstand. Nur nichts zerreden, hört man es aus der stilisierten Stille raunen, nur nicht die schöne deutsche Sprachlosigkeit intellektuell zerpflücken. Selbstmord oder Mord, Explosion oder Implosion, lauter großkotzige, narzisstische Gesten, die mit Millionen von Arbeitslosen, mit ethnischen Konflikten und dem Rechtsruck im eigenen Land nichts zu tun haben wollen: Gut, dass es Internationale Filmfestivals wie das 55. Festival von Locarno gibt, sonst könnte man diesen nationalen  Notstand noch für gegeben halten.                                                                                        

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"La Cage" von Alain Raoust hat den Preis der Ökumenischen Jury in Locarno 2002 gewonnen. Der Goldene Leopard ging an den deutschen Wettbewerbsbeitrag "Das Verlangen" von Ian Dilthey.