31. Filmfestival Max Ophüls Preis Saarbrücken 2010
Saarbrücken ist auch nach über 30 Jahren ein junges Festival – mit Blick auf Filme, Regisseure und Festivalmacher, vor allem aber auf das ungemein begeisterungsfähige junge Publikum. So zeigte die diesjährige Ausgabe im Wettbewerbsprogramm mit seinen kurzen, mittellangen und langen deutschsprachigen Nachwuchsfilmen erneut eine erfrischende, gleichwohl nicht immer leicht zu jurierende Mischung. Im Spielfilm-Programm waren bemerkenswerte Hochschulabschlussarbeiten, innovative Erstlingswerke und eine Reihe von Filmen vereint, die als Fernseh-Koproduktionen, überhaupt vom professionellen Produktionslevel her ein anderes, filmisch indes nicht immer überzeugenderes Format erkennen ließen.
Dass mit der deutsch-griechischen Koproduktion „Plato’s Academy“ („Akadimia Platonos“) von Filippos Tsitos und „Waffenstillstand“ von Lancelot von Naso gleich zwei der insgesamt 15 Spielfilmbeiträge des Wettbewerbs von Ökumenischen Jurys auf den letztjährigen Filmfestivals von Locarno und Montréal bereits mit Preisen ausgezeichnet worden waren, weist auf ein doppeltes Dilemma: Zum einen, dass es für Festivals wie Saarbrücken, terminlich eingezwängt zwischen den Hofer Filmtagen und der Reihe Perspektive Deutsches Kino auf der Berlinale, offenbar immer schwerer wird, ausschließlich neue Filme fürs Programm zu akquirieren und exklusiv zu entdecken. Zum anderen stellte das die INTERFILM-Jury im besonderen vor die Qual der Wahl: Erfüllt doch namentlich die thematisch ansprechende und filmisch unkonventionell umgesetzte Parabel über Patriotismus, Xenophobie und interkulturelle Verständigung in „Plato’s Academy“ allemal die Ansprüche an eine Auszeichnung, welche die Ökumenische Jury in Locarno seinerzeit sehr plausibel begründet hat (vgl. dazu Festivalbilanz von Charles Martig). Der Montréal-Preisträgerfilm „Waffenstillstand“ drängte sich dagegen weniger auf. Die Saarbrücker INTERFILM-Jury wollte originär sein und nicht ein kirchlicherseits bereits ausgezeichnetes Werk ein weiteres Mal hervorheben. Aber hätte Tsitos’ inkommensurabler Film nicht wenigstens den Filmmusikpreis erhalten, wäre er bei Ophüls am Ende gewiss ganz zu Unrecht vollkommen leer ausgegangen.
Mit „Suicide Club“ von Olaf Saumer, dem ersten langen Spielfilm des Filmabsolventen der Kunsthochschule Kassel, entschieden sich die Jurorinnen und Juroren für einen unkonventionellen Low Budget Film. Mit Blick auf das große und schwere Thema „Leben und Tod“ gelingt es ihm, Ernsthaftes mit spielerischer Leichtigkeit und lebensbejahendem Humor zu verbinden. Die Jury hat in ihrer Begründung die Lakonie der kammerspielartigen Inszenierung hervorgehoben, die auf reale, im Internet seit einiger Zeit gehäuft kursierende Begebenheiten eigensinnig rekurriert: „Fünf Menschen, die sich nicht kennen, verabreden sich auf dem Dach eines Hochhauses zum gemeinsamen Selbstmord. Doch der will nicht gelingen.“ Saumers Film ist als ein unverwechselbarer Beitrag nicht nur zum Thema Suizid, sondern auch zur filmischen Repräsentation desselben zu würdigen; er „überzeugt gerade auch in seinen absurd-komischen Passagen und überrascht den Zuschauer immer wieder mit unerwarteten Wendungen.“ Nachdem sich die fünf ungleichen Suizid-Kandidaten im Laufe des Tages allmählich ein Stück näher gekommen sind, machen sie, so resümiert die Jury, „gerade deshalb nicht einen Schritt nach vorn in den Abgrund, sondern zurück ins Leben.“
Nicht ganz so hoffnungsvoll entließen einen andere einprägsame Filme des Wettbewerbs, allen voran das trostlose Jugendgefängnis-Drama „Picco“ von Philip Koch, laut Grand Jury ein „dunkler Traum ohne Erwachen.“ Mutiger Weise wurde das nicht gerade leicht zu konsumierende, durch schonungslose Härte und verdichtete Gewaltinszenierung auch überfordernde Werk mit dem Preis des saarländischen Ministerpräsidenten ausgezeichnet – angesichts sich zuletzt häufender Gewaltexzesse in bundesdeutschen Gefängnissen gewiss nicht frei von politischer Absicht und Stellungnahme. Fraglich erscheint, ob dieser Gefängnisgewalt-Film tatsächlich preiswürdig, geschweige denn kinotauglich ist, wenn er dem Zuschauer bei allem Recht auf Authentizität in der Zeichnung seiner Hauptfigur eine schwer nachvollziehbare Wendung von der Opfer- hin zur Täterperspektive zumutet. Am Ende lässt ein erschreckender Nihilismus keinerlei Jenseits von Gewalt und sozialer Verantwortungslosigkeit mehr erahnen und erhoffen. Verglichen damit zeigt sich in der filmischen Poesie eines Werks wie etwa „If I Want to Whistle, I Whistle“, Florin Serbans diesjährigem Berlinale-Wettbewerbsbeitrag über einen jugendlichen Gefängnisinsassen in Rumänien, ungleich mehr vom Schicksal der bedrohten conditio humana.
Durch klarere Empathie- und Identifikationsangebote um einiges versöhnlicher als „Picco“ wirkte auch „Bis aufs Blut – Brüder auf Bewährung“ von Oliver Kienle – ein weiterer Jugenddelinquenz- und -drogenfilm, in dem das Gefängnis-Narrativ freilich nicht im Zentrum steht. „Bis aufs Blut“ bringt seine Antihelden auf eine Achterbahn der Gefühle; in jugendaffiner HipHop-Sprache, bis auf einige Unebenheiten dramaturgisch stimmig, wird die Geschichte einer fragilen, nie einfachen Freundschaft am Rande der Katastrophe erzählt. In seinem Duktus spricht der kraftvolle Film ein jugendliches Publikum besonders an: Er erhielt sowohl den Publikumspreis als auch den Preis der engagiert mitwirkenden Schülerfilmjury, die von der saarländischen Landeszentrale für politische Bildung getragen wird.
Neben dem Max Ophüls-Hauptpreis gleich mehrfach hervorgehoben wurde „Schwerkraft“ von Maximilian Erlenwein – ein überaus professionell wirkendes, mit verschiedenen Genres spielendes und stilsicher inszeniertes Werk. Zuvor bereits mit dem First Steps Award ausgezeichnet, dürfte der Film nicht zuletzt wegen seines kongenialen Darstellerpaares Fabian Hinrichs und Jürgen Vogel hierzulande seinen Weg auch im Kino gehen. Die Entdeckung der anarchisch-dunklen Seite eines biederen Bankangestellten, der unter dem Eindruck der Bankenkrise ausbricht und zusammen mit einem altbekannten Ex-Knacki Spaß an der subversiven Grenzüberschreitung findet, erzählt der Film in einer gewagten Gratwanderung zwischen Komödie und Drama, in einer Art Gaunertragikomödie im Stil der „Berliner Schule“. Den beiden Protagonisten, die man lieben lernt, wird kein Happy End gegönnt, am Ende scheint es keinen Ausweg aus der Spirale der Gewalt mehr zu geben.
Von einigen in der INTERFILM-Jury wurde lange Zeit „Ayla“ von Su Turhan favorisiert. „Ayla“ hat durchaus seinen Platz im Kontext einer Reihe von Filmen, die türkisch-deutsche Frauenschicksale zwischen Tradition und Moderne engagiert thematisieren, indem sie auf manifeste Probleme wie etwa Zwangsheirat und so genannten Ehrenmord hinweisen. Die selbstbewusst wie zweifelnd gezeigte Titelfigur will sich von ihrer patriarchalischen Herkunftsfamilie absetzen und couragiert ihren eigenen Weg gehen – bevor sie die grausame Familienrealität von Ehre und Feme wieder einholt. Der Film spielt mehr oder weniger intelligent mit Klischees; allzu gut gemeint vermag er jedoch am Ende filmisch nicht ganz zu überzeugen, weil er in sterilem Hochglanzformat erstarrt und mit absehbaren Wendungen einer konventionellen Fernsehdramaturgie ästhetisch zu wenig wagt. „Ayla“ berührt, reicht freilich nicht heran an Feo Aladags thematisch zum Teil verwandten, selbst nicht über jeden Zweifel erhabenen Film „Die Fremde“, der aktuell im Kino ist.
Auch das im Berliner Hartz IV-Milieu angesiedelte Sozial- und Familiendrama „Die Entbehrlichen“ von Andreas Arnstedt, das uns mosaikartig die Geschichte des tragischen Todes des Vaters am Ende einer Abstiegskarriere in Verbindung mit dem Coming of Age des jugendlichen Sohnes retrospektiv erzählt, gewinnt durch Humor und groteske Überzeichnung zunächst einiges an Sympathie. Zweifellos bräuchte es zu dem gesellschaftspolitisch brisanten Themenspektrum besonders ansprechende deutsche wie österreichische und Schweizer Filme, die das Kino des Sozialen mit eigenen Handschriften und unverwechselbaren Geschichten erschließen könnten. Auf dem Wege dahin will Arnstedts Film jedoch zuviel von allem und erliegt zwischenzeitlich der Gefahr holzschnittartiger Überzeichnung bis hin zur überbordenden Schlusspredigt – statt über Aussparungen und Auslassungen erzählerisch zu verdichten.
Der Festivalbericht wäre unvollständig, ohne wenigstens zwei Kurzfilme erwähnt zu haben, die in einem insgesamt gut besetzten Programm auffielen. „Schonzeit“, der Schweizer Beitrag von Irene Ledermann, besticht visuell vor allem durch eine außergewöhnliche Kamera und durch unkonventionelle Farbdramaturgie. Vor dem Hintergrund (weitgehend) abwesender Eltern erzählt der Film eine starke Selbstbehauptungsgeschichte aus Kindersicht, ohne auch nur im entferntesten in Tristesse und Depression zu verfallen: Der jüngere der beiden Brüder lebt in den Phantasien seiner eigenen Welt, der ältere scheint vorderhand der zupackendere zu sein – doch beide bewältigen sie den Alltag auf ihre Weise.
Bemerkenswert nicht nur im Jahr der Fußballweltmeisterschaft: Das unerschöpfliche Genre der Fußballfilme bereichert der ebenfalls schweizerische „Las Pelotas“ („Die Bälle“) von Chris Niemeyer um eine ungewöhnlich witzige, wunderbar skurrile und höchst komische Variante – eine Geschichte, die dennoch mitten aus dem realen Leben argentinischer Fußballvergötterung gegriffen sein könnte. Was tun, um nicht zwei nur jeweils halb talentierte Fußballsöhne zu haben, sondern um den einen begnadeten, in jeder Hinsicht talentierten jungen Fußballgott zu er“zeugen“? Niemeyers Film setzt sein knappes Treatment präzise und kurzweilig in eine leichthändig erzählte Geschichte um, die archetypische Bilder für den – nicht nur argentinischen – Traum von Familie und Fußball findet.