Filme sind mein Leben

Was mir als Theologe im Kino wichtig geworden ist. Von Hans Hodel

Seit fünfzig Jahren lässt die englische Filmzeitschrift «Sight&Sound» alle zehn Jahre über den besten Film aller Zeiten abstimmen. Letztes Jahr wählten sowohl die Filmkritiker wie die befragten Regisseure «Citizen Kane» von Orson Welles (1941), die Geschichte eines machtgierigen amerikanischen Zeitungsmoguls. Nach 16-jähriger Tätigkeit als Filmbeauftragter der Reformierten Medien und einige Monate vor seiner Pensionierung fragt sich Hans Hodel, ob es auch für ihn den besten Film gibt, und was ihn als Theologen bewegt, wenn er sein Leben mit dem Film Revue passieren lässt. – Einige persönliche Erinnerungen und Reflexionen.


I


Vor kurzem war ich als Mitglied einer ökumenischen Jury mit der Frage konfrontiert, welches Werk als bester europäischer Film des Jahres 2002 mit dem mit 10'000 Franken dotierten Templeton-Filmpreis ausgezeichnet werden soll. Nominiert waren alle Filme, die im letzten Jahr von einer kirchlichen Festivaljury ausgezeichnet oder von den kirchlichen Filmbeauftragten in der Schweiz und in Deutschland als «Film des Monats» bezeichnet worden sind. In die letzte Wahl gelangten schliesslich  «Der Mann ohne Vergangenheit» von Aki Kaurismäki (Preis der Ökumenischen Jury Cannes und Film des Monats September), «Le fils» von Luc und Jean-Pierre Dardenne (Lobende Erwähnung der Ökumenischen Jury Cannes und Film des Monats Februar 2003), sowie «War Photographer» von Christian Frei (Film des Monats März und von der Schweiz für den Oscar 2002 nominiert als bester Dokumentarfilm). Alle drei Filme erfüllen die Ansprüche für eine Auszeichnung mit dem Templetonpreis in hohem Masse. Sie zeichnen sich durch eine besondere künstlerische Qualität aus. Sie geben einer menschlichen Haltung Ausdruck, die mit der biblischen Botschaft übereinstimmt, und sie regen das Publikum zur Auseinandersetzung mit spirituellen und sozialen Werten und Fragen an. Kurz: Sie entsprechen dem Ziel der Templeton-Stiftung, Bemühungen um Fortschritte im Bereich der Religion zu fördern.

»Der Mann ohne Vergangenheit« (2002)


Nach mehrstündigen Erwägungen entschied sich die Jury für den finnischen Regisseur Aki Kaurismäki und seinen Film «Der Mann ohne Vergangenheit», der in der Schweiz ein grosser Kinoerfolg geworden ist. Tatsächlich zeugt der Film von einem tiefen Verständnis menschlicher Beziehungen und ihrer Nähe zu biblischen Themen wie Armut und Besitzgier, Selbstsucht und Selbsthingabe, Tod und Auferstehung. Kaurismäki erzählt die Geschichte gradlinig und mit feinem Humor. Nicht nur die von warmen Farben geprägte Bildsprache ist schlicht, auch der Dialog ist schnörkellos und knapp; kein Wort ist zufällig oder überflüssig (als ob Kaurismäki bei Kurt Marti studiert hätte). Entsprechend überzeugend kommen deshalb auch die biblischen Zitate an. Könnten Prediger da nicht etwas lernen?


II


Für eine meiner ersten Predigten vor ziemlich genau vierzig Jahren habe ich das Thema «Wenn das Vollkommene kommt» (1. Kor. 13,8-12) gewählt. Ich weiss nicht mehr genau, wie ich zur Wahl dieses Textes, des paulinischen Hoheliedes auf die Liebe, gekommen bin. Auf jeden Fall ist es das Kino, das mich auf irgend eine Weise für dessen bisher kaum bewussten zweiten Teil sensibilisiert hat. Vom schwedischen Regisseur Ingmar Bergman war damals die Trilogie «Wie in einem Spiegel» (1961, Oscar Preisträger 1962), «Abendmahlsgäste» bzw. «Licht im Winter» (1962) und «Das Schweigen» (1963) zu sehen. Für Bergman stellte der Film «Wie in einem Spiegel» eine gewonnene Gewissheit dar: «Er setzt gegen die Zerstörung des Glaubens die Hoffnung der Liebe als Sinnbild Gottes», sagte er. Für mich war Bergmans Geschichte eine eindrückliche und hilfreiche Veranschaulichung der abstrakten paulinischen Theologie, und ich bezog mich gerne in meiner Predigt auf diesen Film.

»Wie in einem Spiegel« (1961)

 

III


«Der Weg zu mir ist oft eine Reise des Narziss durch die Trümmerwelt des Selbst und seiner Geschichte, investigativ, obsessiv, ein Ringen mit dem anderen deiner selbst», sagte Hans Norbert Janowski, damaliger Direktor des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik, an der Berlinale 1994. In seinem Referat zum Thema «Der Umweg zu mir. Die Heimreise durchs Fremdbild» sagte er mit Bezug auf deutsche Filme: «Fassbinders Figuren, Edgar Reitz’ Heimat-Saga zeigen diese Reise einer ganzen Generationskohorte, und selbst die Umkehrfigur der Obsession, Wim Wenders Engel Cassiel am Himmel über Berlin, ist kaum ein anderer als die gute Seite, das friedliche Janusgesicht deiner selbst – ein europäischer Grundstoff unseres Traums vom befreiten, erneuerten Ich.»

»
IV


Zu den Filmen, die mir besonders wichtig geworden sind, gehört «La nuit américaine» von François Truffaut (Frankreich 1972), dem Begründer eines Filmgenres, das als «Nouvelle vague» in die Filmgeschichte eingegangen ist. In der Medienkunde, die ich für die Fortbildungsklassen am Evangelischen Lehrer/innenseminar Muristalden-Bern entwickelt habe, gehörte er von Anfang ins Programm, und ich weiss nicht, wie oft ich ihn vorgeführt und angeschaut habe, ohne dass er mir je verleidet wäre. Im Nachruf auf Truffaut hat Bernhard Giger in Der Bund vom 23.10.1984 den Film charakterisiert als bis heute «eine der ehrlichsten Selbstdarstellungen des Kinos».


Kein Kinofilm ist so geeignet wie «La nuit américaine», hinter die Kamera und die Leinwand zu blicken und die Komplexität einer Filmproduktion zu erahnen. Dass sich Filmarbeit als Teamarbeit versteht und das Leben Teamfähigkeit erfordert, wenn es gelingen soll, war für mich als Theologen ein gewaltiges Lehrstück, aber auch für die Schüler/innen einsichtig. Und daneben lernten wir Truffaut kennen als einen Regisseur, der die Protagonisten seiner Geschichten liebte. Man spürte in seinen Filmen Zärtlichkeit, Menschenliebe und Sympathie, selbst wenn sie in distanzierter Form visualisiert war.


V


«Den Stummen eine Stimme geben» war anfangs der siebziger Jahre das Motto des brasilianischen Bischofs Dom Hélder Câmara. Der bernische Filmemacher Peter von Gunten hat dieses Motto nach seinem erfolgreichen Film «Bananera Libertad» (1971) aufgenommen und uns mit dem im Auftrag der Hilfswerke im Hochland der Anden gedrehten Film «El grito del pueblo/ Der Schrei des Volkes» (1977) gelehrt, wie es möglich ist, auf die Bedürfnisse der  Armen zu hören und ihnen auf ihrem Weg zur Selbstbestimmung zu helfen, statt ihnen aus der Perspektive der satten Ersten Welt zu sagen, was sie tun sollten. Er hat damit auch einen wichtigen Beitrag zur Neuausrichtung des Dokumentarfilms geleistet.

»Der Schrei des Volkes« (1977)


VI


«Was würde Jesus dazu sagen?» (Deutschland 1985), das von Hannes Karnick und Wolfgang Richter als Reise durch ein protestantisches Leben gestaltete Porträt über Martin Niemöller, war einer der ersten langen Dokumentarfilme, für deren Anschaffung in den Film- und Videoverleih ZOOM ich mich fast bekenntnishaft eingesetzt und über den ich in der Filmzeitschrift ZOOM auch meine erste längere Besprechung publiziert habe (Nr.16/1987). Das Zitat, das als Filmtitel gewählt wurde, ist ein mit Glasperlen gestickter Spruch an der weissgekalkten Wand in der Webstube des elterlichen Heimes. Es hatte auf den kleinen Niemöller Eindruck gemacht und ist zum Leitmotiv seines Lebens und Handelns geworden. «Wenn man sich daran hält, dann ist man keinem genehm», stellt er am Ende des Films trocken und ohne Bitterkeit fest. Niemöller, der eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des kirchlichen Widerstandes gegen Hitler war, hat nach Ende des Krieges viel Unverständnis, Widerspruch und Ablehnung erfahren. Dass wir den Film im September 1989 im Rahmen der Berner Umwelttage und dann auch im Filmpodium Zürich im Rahmen eines umfangreichen Sonderprogramms öffentlich vorführen konnten, war für mich eine echte Genugtuung. Genauso bleibe ich enttäuscht, dass ausgerechnet dieser kirchengeschichtlich bedeutende Film im Verleih ZOOM ein Flop war. Jetzt bringt ihn die Matthias-Film Stuttgart auf DVD noch einmal auf den Markt. Es ist also nicht zu spät, den Film doch noch zu entdecken.

Martin Nieöller in »Was würde Jesus dazu sagen?« (1985)


VII


1988 war im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele in Berlin der russische Film «Die Kommissarin» von Aleksandr Askoldov programmiert, eine seit 1967 verbotene und verschollene Produktion, die erst im Rahmen von Perestrojka und Glasnost wieder an die Öffentlichkeit kam und die Besucher der Berlinale stark bewegte. Der Film wurde von der offiziellen Jury mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet, und erhielt auch den Preis der Filmkritiker (Fipresci) und der Internationalen Katholischen Filmorganisation OCIC. Besonders berührt haben muss Askoldov aber die Auszeichnung durch INTERFILM. Als ihm unser Jurypräsident die entsprechende Mitteilung überbrachte und erklärte, begann er zu weinen. Die Freundschaft, die sich seither entwickelt hat, besteht noch heute. Askoldov ist Ehrenmitglied von INTERFILM geworden und hat sich in unserer Juryarbeit engagiert. Wann immer wir uns treffen, gibt es zwischen ihm, seiner Frau Svetlana und mir eine herzliche Umarmung. 1995 war «Die Kommissarin» im Programm von insgesamt sechzehn ausgewählten ökumenischen Preisträgern vertreten, die wir unter dem Motto «Filme wie Flügel» anlässlich des Jubiläums «100 Jahre Film»  im Kino Movie Bern und im Filmpodium Zürich zeigen konnten.

»Die Kommissarin« (1968/1988)


1989 machte uns das Berliner Wettbewerbsprogramm ratlos. Wir bereiteten uns schon auf die schwierige Entscheidung vor, keinen Preis vergeben zu können. Aber noch hatten wir den letzten Film nicht gesehen. Es war «Resurrected» (wieder ein so biblisch gefüllter Titel!), eine britisch-argentinische Antikriegsgeschichte im Zusammenhang mit dem Falklandkrieg. Damals schrieb Volker Baer im Tagesspiegel: «Dass der britische Film „Auferstanden“ von Paul Greengass, eine unerbittliche Anklage gegen Krieg und Militarismus, von der internationalen Jury übersehen wurde, muss man bedauern; dass er unisono von den Preisrichtergremien beider Kirchen hervorgehoben wurde, muss man wiederum dankbar begrüssen.»

1995 zeichneten wir in Berlin den Film einer Regisseurin aus Hongkong mit dem wunderbaren Titel «Sommerschnee» aus, in dessen Mittelpunkt drei Generationen stehen, die mit dem Problem des Alterns und der Alzheimer Krankheit konfrontiert werden. Mit einer eindrücklichen ästhetischen Sensibilität zeigt der Film Möglichkeiten der Liebe und der gegenseitigen Verständigung; dabei schenkt er eine besondere Aufmerksamkeit dem grossartigen Verhalten der jungen Mutter, welche die Hauptlast der Familie zu tragen hat. Ich bedaure noch immer, dass dieser Film nie den Weg in unsere Kinos gefunden hat.

Aber überraschender Mittelpunkt aller Diskussionen in der Jury war ein Film ausser Konkurrenz. Ich vergesse den Moment nicht, als mich Henk Hoekstra, der inzwischen leider verstorbene damalige Präsident von OCIC und Präsident der Ökumenischen Jury, darauf aufmerksam machte, im Programm des Panoramas werde um Mitternacht, fast klammheimlich, «Priest» von Antonia Bird gezeigt. Hoekstra wollte kein öffentliches Votum der katholischen Jurymitglieder ohne Zustimmung des protestantischen Partners. Dieser Respekt berührte mich ebenso stark wie die anschliessende positive Stellungnahme. Zu diesem Film, der die Geschichte eines homosexuellen katholischen Priesters erzählt, schrieb nachher der katholische Film-dienst: «Viele positive christliche Themen und Werte sind in diesem Film angesprochen: Die Suche nach Gott, die Verbundenheit mit der Glaubensgemeinschaft, das Gebet, die Eucharistie, Solidarität, Vergebung, Versöhnung. Die lebhafte Resonanz des grossen Publikums bei der Vorführung des Films und der Pressekonferenz danach haben gezeigt, dass es ein deutliches Interesse und ein Bedürfnis nach einer Dramatisierung dieser religiösen Werte gibt.»


VIII


Die Zusammenarbeit mit den Hilfswerken KEM (bis zu ihrer Auflösung), HEKS und «Brot für alle», die sich bezüglich Filmarbeit in der Fachstelle «Filme für eine Welt» in Bern engagieren, gehört zu den besonders schönen Erinnerungen meiner Zeit als Filmbeauftragter der Reformierten Medien. Einer der Höhepunkte dieser Zusammenarbeit ist ohne Zweifel die gemeinsame Lancierung des Films «Leben und Sterben in Sarajevo» von Radovan Tadic (Frankreich 1993), der 1993 am Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm nicht nur den ersten Preis der Internationalen Jury, sondern neben anderen auch denjenigen der Ökumenischen Jury erhalten hat «für einen tief berührenden Film über den furchtbaren Alltag des Krieges, den Irrsinn und die Kraft des Lebens». Dass er an den Solothurner Filmtagen 1994 im Rahmen eines Sonderprogramms zum Gedenken an die Vorgänge in Bosnien (Bundesrätin Ruth Dreifuss war anwesend) und dann mit Unterstützung der Presse auch in den Schweizer Kinos gezeigt werden konnte, war die Frucht einer spontanen gemeinsamen Aktion, die so unvergesslich bleibt wie der Film selbst, den der Tages-Anzeiger als «Film wider das Abstumpfen» bezeichnete.


IX


Je länger ich an diesem Text schreibe, um so klarer wird mir, dass es für mich zwar viele wichtige, anregende und auch lehrreiche Filme, aber (noch) nicht den besten Film gibt. Ich denke an das grossartige Erlebnis auf der Piazza Grande in Locarno mit dem meditativen südkoreanischen Film «Warum Bodhi-Dharma in den Orient ging» (1989) und an die Filme von Andrej Tarkovskij und Krzysztof Kieslowski. Ich denke an die offene Frage nach dem besten Jesusfilm, die ich lapidar mit dem Hinweis auf «Keine Zeit für Wunder» von Luigi Comencini (Italien 1982) beantworte – ein Film, der ausser der Fernsehausstrahlung nur vom Film- und Videoverleih ZOOM angeboten wurde. Daneben aber würde ich gerne weiter nachdenken über «Teorema» von Pier Paolo Pasolini (Italien 1968) oder «Ein Zug nach Manhattan» von Rolf von Sydow (Deutschland 1981). In diesen Filmen wird von Gott und Jesus inkognito erzählt.

»Warum Bodhi-Dharma in den Orient ging« (1989)


X


I have a dream

Seit 1988 laden der Präsident des Internationalen Filmfestivals Locarno und die Filmbeauftragten der kirchlichen Mediendienste im Rahmen ihres Ökumenischen Empfangs zur Begegnung mit Vertretern der Tessiner Kirchen, der Presse und der Filmbranche ein. Sie stellen bei dem Anlass jeweils die Ökumenische Jury vor. Unter den etwa hundert Gästen befinden sich stets auch Vertreter jener Festivals, bei denen die kirchlichen Filmorganisationen mit einer Jury akkreditiert sind. Als 2001 wieder einmal Lia van Leer, Direktorin des Internationalen Filmfestivals von Jerusalem, zugegen war (begleitet von B. Z. Goldberg, dem Regisseur von «Promises»), hatte ich Gelegenheit, öffentlich von jenem Traum zu sprechen, den ich ihr schon früher einmal anvertraut hatte: Es wäre schön, einmal mit einer wirklich ökumenischen Jury, bestehend aus  Juden, Christen und Muslimen, in Jerusalem präsent zu sein. «Es ist immer schön, zu träumen», sagte sie schmunzelnd, wohl wissend, dass es für die kirchlichen Filmorganisationen nicht einfach ist, jüdische und muslimische Film-, bzw. Kulturorganisationen zu finden, die an der Realisierung dieses Traumes mitwirken können. Trotzdem: Am letztjährigen Empfang in Locarno hat uns ein Vertreter des Internationalen Filmfestivals Moskau erklärt, dass für sie in Zukunft nur noch eine interreligiöse Jury mit Muslimen, Juden, Orthodoxen, Katholiken und Protestanten in Frage komme. Vielleicht wird der Traum eines Tages wahr.