Mehr Osten und Weste(r)n als Norden und Süden
Die Sektion «Entschlüsselt» widmete sich dem Bild des Islam im Okzident – kurz nach dem Drama in Toulouse eine viel besuchte und viel diskutierte Filmauswahl. Dazu gehörten so unterschiedliche Filme wie My beautiful Launderette (1985)von Stephen Frears, der die Religionszugehörigkeit der Protagonisten noch kaum thematisiert; Dernier maquis (2008) von Rhaban Ameur-Zaïmeche über die prekäre Situation der Arbeiter in einem kleinen französischen Betrieb; Shahada (2009) von Burhan Qurbani, der Moral- und Schuldfragen thematisiert und einem nicht nur das muslimische Glaubensbekenntnis nahe bringt, sondern auch die gelebte Praxis in Deutschland zeigt und Ici, on noie les algériens (2010) von Yasmina Adi, die die Demonstrationen der algerischen Bevölkerung in Paris vom 17. Oktober 1961 sowie deren gewalttätige und für manche Teilnehmer tödlichen Folgen dokumentiert.
«Terra incognita» mit acht Filmen aus Bangladesch begann mit einer gut besuchten Diskussion über das wenig bekannte Land. Obwohl die Regisseurinnen und Regisseure von vielen Hindernissen erzählen – angefangen bei den fehlenden Ausbildungsmöglichkeiten im Land – war die Fülle ihrer Themen beeindruckend: der Befreiungskrieg aus der Sicht eines ehemaligen Guerrillaführers oder einer Feministin, Filme über die bäuerliche Tradition oder das kulturelle Erbe des Landes, auch eine traditionell erzählte Liebesgeschichte fehlte nicht.
Die Qual des Weglassens
Bei dem Programm mit rund 120 Filmen war man gezwungen, Schwerpunkte zu setzen. Schweren Herzens verzichtete ich auf die beiden Filme von «Passeport Suisse», welche den Schweizer Blick auf das Ausland zeigten. Balkan Melodie von Stefan Schwietert kann man zum Glück im Kino sehen. Hingegen ist zu befürchten, dass der neu renovierte Stummfilm von Hans Vogel 20.000 km durch China von 1936 wieder in den Tiefen der Cinemathèque Suisse verschwindet.
Nicht bedauert habe ich, die Reihe «Il etait une fois dans le Sud» zu verpassen. Der Eröffnungsfilm Salt von Diego Rougier hatte einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen: Warum nutzt der argentinische Regisseur Bildsprache und Elemente des klassischen Westerns in der chilenischen Wüste, wo er ebenso gut die aktuelle Situation der lokalen Bevölkerung zeigen könnte, fragte ich mich.
Preise für berückenden Erstling von Julia Murat
Alle zwölf Filme des Wettbewerbs, waren es wert, gesehen zu werden. Nur Honey Pu Pu fiel formal völlig aus dem Rahmen und schied entsprechend die Geister: Im Film des Taiwanesen Chen Hung-I tauchte man ein in die hektische, virtuell geprägte Welt von jungen Menschen, die auf der Suche nach Verlorenem waren. Der Preis der Ökumenischen Jury, der je zur Hälfte von Fastenopfer und Brot für alle gesponsert wird, ging schliesslich auf Histórias que só existem quando lembradas, den Erstling der Brasilianerin Julia Murat: In einem abgelegenen Dorf des Paraiba-Tals vollführt eine Gruppe Menschen jeden Tag die gleichen Gesten und Rituale. Die Ankunft einer jungen Fotografin bringt Leben in die verschlafene Welt. Es ist eine Arbeit über Vergänglichkeit, über Erinnerung und Tod, ein sehr schön fotografierter Film voller Symbole. Die Anwesenheit der jungen Frau und ihr Umgang mit der Fotografie lässt Erinnerungen an die Oberfläche steigen. Dadurch erhält das Leben wieder Sinn – und auch der Tod.
Zwei weitere Filme wurden von der Ökumenischen Jury lobend erwähnt: Asmaa des ägyptischen Regisseurs Amr Salama, der – ausgehend von einer mutigen und eigenwilligen Frau – eindrücklich zeigt, wie eine traditionelle Gesellschaft mit Aids umgeht, und El Campo des Argentiniers Hernán Belón, der die Mechanismen des Horrorfilms nutzt, um das fragile Gleichgewicht eines jungen Paares mit Kind zu zeigen. Es erstaunte wenig, dass Historias drei weitere Preise erhielt, da er formal berückend ist. Das Publikum hingegen wählte den emotional berührenden Film Asmaa zu seinem Favoriten.
Die Internationale Jury – von fünf Personen stammten zwei aus dem Iran – verlieh den Regard d’Or Ido Fluk für Never too late. Mit keinem Wort wird in dem Roadmovie aus Israel der Krieg mit den Palästinensern erwähnt, nichts ist davon zu sehen. Hingegen landete Ido Fluk in der Preisrede einen kleinen Coup: «Ich muss immer wieder erklären, warum ich so einen derart unpolitischen Film gemacht habe – hier ist meine politisches Aussage: Ich will, dass dieser Krieg endet, dass wir friedlich zusammenleben. Und ich bin nicht der Einzige, es gibt viele Israeli wie mich.»
«L’Afrique n’existe pas»
Nach dem Festival muss man sich fragen, ob das ehemalige Festival des Südens nun endgültig zu einem Festival des Ostens – Asiens – und des Westens – Lateinamerikas – wird. Von den 108 mit ihren Filmen vertretenen Regisseurinnen und Regisseuren stammten genau drei aus Afrika südlich der Sahara. Was immer die Gründe dafür sind: Hier hat das Festival eine grosse Lücke zu füllen. Denn auch in Mali, im Senegal, im Kongo oder in Madagaskar gibt es Aufbrüche, die es sich lohnt, zu dokumentieren, gibt es Geschichten und ungewohnte Ansichten, die in unserem regulären Kinoprogramm fehlen.
Sonst gibt es wenig zu kritisieren: Thierry Jobin hat – gemeinsam mit der adminstrativen Leiterin Esther Widmer – einen grossartigen Job gemacht. Die in der Mehrzahl jungen Mitarbeitenden haben schwungvoll und freundlich die Organisation übernommen, die Ansagen der Filme waren kompetent und – meist – angenehm kurz, die Diskussionen nach den Filmen anregend, die Kinositze bequem, das Essen im Ancien Gare gut… Kurz: Es gibt viele Gründe, Ende März 2013 wieder nach Fribourg zu fahren.