10. Europäischer John Templeton-Filmpreis
Der 10. Europäische John Templeton-Filmpreis für das Jahr 2006 wird dem Film Grbavica (Esmas Geheimnis) der bosnischen Filmregisseurin Jasmila Žbanic (Österreich/Bosnien-Herzegowina/Deutschland/Kroatien 2006) verliehen.
Der Europäische John Templeton Filmpreis wird im Namen der renommierten amerikanischen John Templeton-Stiftung und der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) vergeben. Er ist mit € 10.000 dotiert und mit einer Ehrenurkunde verbunden. Der diesjährige zehnte Preisträger wurde von einer Jury, die von INTERFILM (Internationale kirchliche Filmorganisation) benannt wurde, aus einer Vorauswahl von sechs Filmen ausgewählt.
Der Film spielt in Grbavica, einem Stadtteil von Sarajewo, in dem die 12-jährige Sara zusammen mit ihrer Mutter lebt. Beide verbindet eine liebevolle Beziehung. Das Mädchen steht vor einer Klassenfahrt, für die Esma in verschiedenen Jobs das Geld aufzubringen versucht. Sara glaubt, das ihr Vater als „Schechid“, als Held im Bosnienkrieg gefallen ist. Dieser Glaube wird erschüttert, als ihre Mutter das Dokument seines Heldentodes angeblich nicht finden kann – es würde Sara eine kostenlose Mitfahrt erlauben. Die Spannungen zwischen Mutter und Tochter kulminieren in einem heftigen Gefühlsausbruch, in dem die Wahrheit über Saras Herkunft zutage kommt.
Der Film beschreibt realistisch die Auswirkungen eines tragischen ethnischen Konflikts; die ökonomischen Probleme einer alleinerziehenden Mutter, die fortwährende Spaltung einer Gesellschaft, die mit den Schatten der Vergangenheit kämpft, aber auch die umfassende Liebe einer Mutter für ihr Kind und eines Kindes für ihre Mutter. Ohne mit Schreckensbildern vergangenen Leids zu schockieren, gelingt es Jasmila Žbanic, in Gesten, Körpersprache und Momenten des Schweigens eine traumatische Erfahrung zu vermitteln.
Der Europäische Templeton Filmpreis wird europäischen Filmen verliehen, die im vorausgehenden Jahr mit dem Preis einer ökumenischen oder INTERFILM-Jury oder als FILM DES MONATS durch die evangelische Filmjury in Deutschland oder die kirchliche Filmarbeit in der Schweiz ausgezeichnet wurde. "Grbavica" war Gewinner des Goldenen Bären und des Preises der Ökumenischen Jury der Berlinale 2006.
Predigt
von Hans Werner Dannowski, Hannover
zur Preisverleihung an den Film "Grbavica" von Jasmila Žbanic
im Gottesdienst vom 11. Ferbruar 2007
in der St.Matthäuskirche am Kulturforum Berlin-Tiergarten
Am Anfang des Römerbriefes reflektiert der Apostel Paulus über die Rolle des Gesetzes. Über das Gesetz Gottes und das Gesetz der Sünde. Aus diesen weit ausgreifenden Überlegungen stelle ich einige Verse aus dem siebten Kapitel meiner Predigt voran:
„Denn ich weiss, dass in mir, das heisst in meinem Fleisch,
nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber das Gute
vollbringen kann ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will,
das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will,
so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt.
So finde ich nun das Gesetz, das mir, der ich das Gute tun will,
das Böse anhängt. Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz
nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein anderes Gesetz
in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüt
und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.
Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe?
Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn!“
Römer 7, 18-25
Liebe Gemeinde!
Sara, die zwölfjährige Tochter, weckt ihre Mutter aus tiefem Schlaf auf. Die will noch eine Weile weiterschlafen, lässt sich dann aber doch auf das Necken des Mädchens ein. Die beiden tollen herum durch die Zimmer, bewerfen sich mit Kissen, balgen sich, liegen auf dem Boden. Sara kniet über ihrer auf dem Rücken liegenden Mutter, drückt deren erhobene Arme in Siegerpose fest auf den Boden. Und dann ist das Spiel mit einem Mal zu Ende. Dann schüttelt die Mutter das Mädchen ab, herrscht es an, schickt es los zur Schule. An eine traumatische Erinnerung ist Esma, die Mutter, offenbar gestossen, die alles zerstört, was sich in der glücklichen Begegnung des Augenblicks ereignen will.
Das ist eine der ersten Szenen in dem Film "Grbavica" von Jasmila Žbanic, dem wir heute den John Templeton Preis für den besten europäischen Film des letzten Jahres unter dem Gesichtspunkt einer religiösen Horizonterweiterung, „for religious progress“, verleihen. Es sind diese kleinen genauen Beobachtungen alltäglicher Ereignisse, die sichtbar machen, dass der Boden, auf dem sich die Frauen, und hier besonders Esma, in Grbavica und Sarajewo bewegen, voller abgründiger Risse ist. Überall ragt offenbar vergangene Erfahrung in die Ereignisse und Begegnungen der Gegenwart hinein und lässt eine traumatische Spur des Lebens sichtbar werden. Wie da Esma mit dem wenigen Geld, das sie hat, eine Forelle für die Tochter kauft, weil diese sie doch so gerne isst. Geradezu versteinert sieht sie dem Töten des Fisches zu. Und dann zerstört sie das offensichtliche Vergnügen der Tochter beim Essen des leckeren Mahles durch ihre Anordnungen, sich erst die Hände zu waschen und dann auch noch die Fingernägel zu beschneiden. Bis der Fisch kalt geworden ist und die Tochter sich weigert, den kalten Fisch zu essen. Tiefe Brüche im Leben der Esma werden immer deutlicher, die alle ihre Beziehungen, vor allem auch die zu den Männern, bestimmen. Brüche, deren Ursachen man nicht sieht und die doch alles beeinflussen und lenken, was ein Mensch empfinden, machen oder sich vornehmen kann.
Der heutige Betrachter des Films "Grbavica" weiss natürlich oder er ahnt es zumindest, dass die bosnische Esma ein Opfer der serbischen Massenvergewaltigungen im Balkankrieg geworden ist und dass Sara ein Kind dieser Vergewaltigungen ist. Aber es gehört zur künstlerischen Sensibilität und zur geistigen Kraft des Films, dass er nicht jene grausamen Szenen zeigt, sondern die entsetzlichen Auswirkungen, die dieses Geschehen der Vergangenheit für das Leben heut noch bedeutet. Ginge es nur um einen einmaligen Vorfall, könnte man ihn mit Schaudern sehen und verurteilen und würde irgendwann zur Tagesordnung darüber übergehen. Aber hier ist mit Händen zu greifen, wie dieses Ereignis, das 12/13 Jahre zurückliegt, noch immer das Leben von Menschen verstört und zerstört. Ein Einbruch in die Normalität des Lebens ist das offenbar gewesen, der nicht wieder gutzumachen ist. Wie Paulus das in seinem Brief an die Römer in begrifflicher Sprache beschriebt: Eine „Macht des Bösen“ wird da auf einmal sichtbar in unserem Leben, die er das „Gesetz der Sünde“ nennt. Unter dem sich das Leben nicht mehr entfalten und entwickeln kann.
Ob der biblische Abschnitt, den ich am Anfang gelesen habe, im Verständnis des Films von Jasmila Žbanic und im Verständnis der Ereignisse, die er behandelt, weiterhilft? Ich vermute, Sie werden diesen Abschnitt aus dem Römerbrief mit Unbehagen gehört haben. Nicht nur, weil Paulus sich offenbar an den Grenzen seines Denkvermögens bewegt und diese ganzen Ausführungen ebenso vieldeutig wie schwer verständlich sind. Aber auch das, was man beim ersten Hinhören aus der Argumentation des Paulus zu verstehen meint, verstärkt das Unbehagen. Offenkundig ist es, dass Paulus von einer tiefen Spaltung des Menschen ausgeht, die er als ein Gegeneinander von Fleisch und Geist beschreibt. Nein, nicht um die viel beschriebene Körperfeindlichkeit des Christentums geht es da, wenn man genauer hinsieht. Der Gegensatz zwischen dem, wozu der Mensch geschaffen und bestimmt ist, und dem, wie er in Erscheinung tritt und wie er handelt, beschäftigt den Apostel. Da ist eine Kraft in uns wirksam, sagt Paulus, die das Verderben schafft, das ich im Grunde doch nicht wollen kann. Eine Argumentationskette ist das, die natürlich denen ein Ärgernis sein muss, denen es um die Einheit der Person und die ethische Verantwortlichkeit des Menschen geht. Aber vielleicht spricht Paulus doch nur aus, was später die Psychoanalyse in die Beobachtung kleiden wird, dass der Mensch nicht Herr im eigenen Hause ist. Ein Unbehagen ist es vielleicht, das mich immer befällt, wenn mich die Erfahrung des Bösen trifft. Eine Kränkung, die im Grunde auch ein Unbehagen an ihrer und an meiner inneren und äusseren Verfassung ist.
Die amerikanische Philosophin Susan Neiman hat in ihrem Buch „Evil in Modern Thought“ – in der deutschen Übersetzung „Das Böse denken“ – die Erfahrung des Bösen, wie Sie und ich dieses gegenwärtig erleben, genauer zu beschrieben versucht. Dem Erdbeben von Lissabon im Jahre 1955 stellt sie die Erfahrung von Auschwitz gegenüber. Die tiefe Verstörung, die das Erdbeben von Lissabon damals auslöste, resultierte offensichtlich aus der schockartigen Erkenntnis, dass die wie selbstverständlich vorausgesetzt Einheit von Natur und menschlicher Geschichte längst zerbrochen ist. Die Natur stellt sich gegen den Menschen, der Mensch kann sich nicht mehr auf sie verlassen. Auschwitz führt mit den Verbrechen eines millionenfachen Mordes die noch viel tiefer greifende Verstörung herauf, dass der Mensch sich nicht mehr auf sich selbst verlassen kann. Die selbstverständliche Einteilung der Menschen in Gute und Böse, die das Böse auf Menschen mit böser Absicht konzentriert, greift auf einmal nicht mehr. Normale, durchschnittliche Bürokraten werden an ihren Schreibtischen zu Generalstabsplanern eines Massenmordes, von dessen Ausmass und Folgen sie nicht die geringsten Vorstellungen besitzen. Und irgendwie, durch Wegschauen, durch Feigheit, durch Verblendung ist ein ganzes Volk darin verwickelt. Nicht einmal eine nationale Zuschreibung wird, wie die Weltgeschichte ringsherum beweist, diesem Phänomen gerecht. Mit angeblich guten Zielen werden Vernichtungskriege mit unübersehbaren Folgen geplant und durchgeführt. Alle Konturen scheinen zu verschwimmen. In der Tiefe, so das Urteil der Philosophin, das ich teile, haben wir den Glauben an uns selbst verloren. Eine Möglichkeit der menschlichen Natur ist offengelegt, von der wir gewünscht hätten, wie hätten sie nie erlebt. Die permanente Erfahrung des Bösen in der Gegenwart hat uns längst hilflos und sprachlos gemacht.
Jasmila Žbanic stellt mit ihrem Film den Erfahrungen von Auschwitz und Bergen-Belsen und Treblinka die Erfahrungen von Grbavica und Sarajewo an die Seite. Was eine Vergewaltigung bedeutet, das werden Frauen unendlich intensiver nachempfinden und beschreiben können, als ich es kann. Aber das ist auch jedem männlichen Betrachter von "Grbavica" sofort nachvollziehbar: Das, was Esma und unzählige andere Frauen in den Konzentrationslagern über Monate hinaus zu erdulden hatten, das bedeutet mit der Gewalt an ihren Körpern einen Mordversuch an ihren Seelen. Und auch das scheint das tief Verstörende dieser Ereignisse zu sein: Dass diese Erfahrung des Bösen sich nicht auf Menschen mit grundsätzlich bösen Absichten beschränkt. Es mag sein, dass die Vergewaltigungen zu einem strategischen Mittel im Krieg erklärt worden sind, den Samen der Sieger in die Leiber der Unterlegenen zu pflanzen. Aber das ist doch das eigentlich Unbegreifliche: Dass da Menschen, mit denen man über Jahrzehnte und vielleicht über Generationen friedlich zusammengelebt hatte, plötzlich wie Tiere über einen herfallen.. Nein, in der Mehrzahl sind das keine zynischen Schurken, sondern Männer, wie der Film sie zeigt. Männer, die mit allen Finessen um ihr Überleben kämpfen. Männer, die mit Fussballwetten sich ein bisschen Glück zu sichern suchen. Männer, die mit einer Vernichtung ihrer Lebensziele, auch mit ihrer Verrohung, in anderer Weise zu Opfern des Krieges geworden sind wie auch die Frauen. Die Trennung zwischen Gut und Böse funktioniert nicht mehr. Man wird mit diesen Menschen weiter zusammenleben müssen. Uralte Erkenntnisse wie die des Apostels Paulus erweisen auf einmal wieder ihre Relevanz, wie diese „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“. Und auch der Schrei aus der Tiefe wird in den Bildern von "Grbavica" überdeutlich hörbar: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Geschick?“
Ja, die Frage nach der Erlösung. Darin mündet alles. Darin gipfeln die Überlegungen des Apostels, darin mündet auch der Film. Das Wissen um Erlösung bewahrt die Sehnsucht nach der Erfüllung unseres Lebens. Das Wissen um Erlösung rettet vor dem endgültigen Untergang, bewahrt vor der endgültigen Ununterscheidbarkeit von Gut und Böse. Das Wissen um Erlösung setzt auf die Veränderbarkeit der Dinge. „Nur wenn, was ist, sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles“, sagt ein anderer Philosoph. Unsere Erkenntnis, unser Handeln, unsere Welterfahrung hat kein anderes Licht als das, was von der Erlösung herauf die Dinge fällt. Erst, wenn man um die Vollendung aller Dinge weiss und daran glaubt, kann man die Bruchstücke und die Bruchstellen des Lebens aushalten und erkennen.
Der Weg heraus aus den Tiefen der Erfahrung des Bösen ist eine lange Strasse. In aller Zurückhaltung nimmt uns der Film "Grbavica" mit auf diesen Weg. Das Aussprechen der Wahrheit gehört dazu, das das angstvolle und schamvolle Verschweigen überwindet. Die Wahrheitssuche der Kinder hilft dabei, die endlich wissen wollen, wer der Vater ist und woher man kommt. Eine bittere Erkenntnis ist es, dass man nicht das geliebte und gewollte Kind eines gefallenen Freiheitskämpfers, sondern das Produkt unzähliger hasserfüllter Vergewaltigungen ist, die man so schnell wie möglich vergessen möchte und es doch nicht kann. Der Abschied von den eigenen kindlichen Idealbildern gehört dazu, der sich im Abrasieren der Haar demonstriert, die – angeblich – ein väterliches Erbe sind. Die Solidarität der Frauen gehört zu diesem Weg, der aus der Hölle der Erfahrung des Bösen führt. Diese Schicksalsgemeinschaft der Leidenden, die im Angesicht der geglaubten Erlösung im Singen und im Hören den Mund öffnet, um bisher Ungesagtes endlich in zögernde und tastende Worte zu fassen.
Diese Erlösung hat ein Gesicht und einen Namen. „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn“, bricht es aus Paulus heraus nach diesem Bekenntnis der Verstrickung des Menschen unter das Gesetz der Sünde. Als Befreiung von der Macht des Bösen haben Christen die Begegnung mit diesem Mann erlebt, der in Person für sie die Macht der Liebe und der göttlichen Bestimmung des Menschen war und ist. In "Grbavica" begegnen mir andere Namen und Gesichter der Erlösung. Und es wird immer deutlicher, dass ich nicht die einen gegen die anderen auszuspielen wage. Dass sie, in anderer Weise, durchaus ähnliche Erfahrungen und Zielbestimmungen des Menschen sind. Die Ilahijas des Films, die Lieder, die Gott gewidmet sind, gehen mir immer noch nach. „Dieser Himmel, der über uns steht, ist nur ein Schatten“, heisst es da. „Die sieben Stufen des Himmels sind in unseren Herzen. Der Frühling lebt in uns. Wenn unsere Tränen strömen, erblüht sogar die Wüste“. Mächtiger kann man den Glauben an die Erlösung mitten in aller Erfahrung des Bösen kaum noch sagen.
So endet der Film mit einem Ausblick, der keine Gewissheit, aber eine Hoffnung ist. Entwurzelung hat die Erfahrung des Bösen im Gepäck, Hilflosigkeit und Heimatlosigkeit. Die Gewissheit von Erlösung bringt dem Menschen ein Stück der verlorenen Heimat zurück. „Ich liebe Sarajewo“, stimmen die Kinder in dem Bus an, der sie zur Freizeit bringt. Und Sara stimmt am Ende voll mit ein. Der Ort des erfahrenen Fluches ist zu einem Ort geworden, an dem man wieder leben, den man lieben kann. Keine Sicherheit, keine Garantie auf Dauer wird das sein. Aber Ausdruck einer Hoffnung ist das, mit der man zunächst wieder einmal leben kann. Amen.