Der 2. Europäische John Templeton Filmpreis wurde an "My Name is Joe" von Ken Loach verliehen. Die Preisverleihung fand am 14. Februar 1999 in einem Gottesdienstes in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche während der Internationalen Berliner Filmfestspiele statt. Der Preis ist mit 7.000 CHF dotiert, gestiftet von der John Templeton Foundation.
Laudatio
Der Kampf gegen soziale Benachteiligung, Arbeitslosigkeit sowie Drogen- und Alkoholmissbrauch sind Themen des Films, dem der 2. Europäische John Templeton Film Preis 1998 verliehen wurde.
„My name is Joe“ ist eine Liebesgeschichte voller Humor, Leidenschaft und Gefahr. Er wurde im Zentrum einer der ärmsten Gegenden von Glasgow in Schottland gedreht und beschreibt die Anstrengungen von Joe, nach Jahren des Alkoholmissbrauchs sich in der Realität zurechtzufinden: Seine Beziehung zur Sozialarbeiterin Sarah, in die er sich verliebt, sein Engagement als Trainer eines jungen Teams von Fussballspielern, seine Verwundbarkeit nach dem Alkoholentzug, die Bedrohung durch Kredithaie und lokale Drogenhändler. Der Film handelt vor allem von Verantwortung. Peter Mullan in der Rolle des Joe wurde auf dem Filmfestival von Cannes als bester Schauspieler ausgezeichnet.
Predigt zur Preisverleihung
von Hans Werner Dannowski, Hannover
während der Internationalen Filmfestspiele Berlin
Sonntag Estomihi, 14. Februar 1999, in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
„Als sie aber weiterzogen, kam Jesus in ein Dorf. Dar war eine Frau mit Namen Martha,
die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hiess Maria;
die setzte sich dem Herrn zu Füssen und hörte seiner Rede zu.
Martha aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach:
Herr, fragst du nicht darnach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen?
Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll! Der Herr aber antwortete und sprach zur ihr:
Martha, Martha, du hast viel Sorgen und Mühe. Eins aber ist not.
Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“
Lukas 10, 38-42
Liebe Gemeinde!
Das ist eine so einprägsame Geschichte, diese Geschichte von Maria und Martha, dass sie oft auf glatte Formeln gebracht worden ist. Nicht nur zwei Weisen weiblicher Lebensgestaltung, nein, zwei Formen christlicher Daseinsorientierung meinte man darin zu erblicken. Die vita activa und die vita contemplativa, und die Überlegenheit der einen über die andere. Der nach aussen hin zupackende und der nach innen hin schauende, von den Grundfragen christlicher Existenz bewegte Glaube. Da muss ich doch diese Geschichte von Maria und Martha erst ein wenig verfremden. Will darauf aufmerksam machen, wie unerhört es in den Augen und Ohren der damaligen Zeitgenossen Jesu war, dass Maria der dienenden, der möglichst unsichtbar alles für die Gäste vorbereitenden Frauenrolle ausgewichen ist. Das Privileg der Männer nimmt Maria für sich in Anspruch: die Freiheit des Hörens und des Lernens. Die Freiheit, einfach dazusitzen und dem Meister zu lauschen. Mehr noch: absolut schockierend, dass Jesus sie verteidigt, als Martha die Schwester in die Frauenrolle zurückzuholen versucht. „Eins ist not. Sie hat das gute Teil erwählt“. Man unterschätzt eben doch die emanzipatorischen Anteile der christlichen Überlieferung immer wieder. Aber eine solche Beobachtung regt heute natürlich niemanden mehr auf. Höchstens die andere, wenn heute die Männer so tun, als sei die Bewirtung der Gäste allein die Sache der Frau.
Die verschiedenen Frauenbilder, die verschiedenen Existenzweisen des christlichen Glaubens, das ist nicht mein Thema. Vielmehr das andere, das das ganze 10.Kapitel des Lukasevangeliums nahe legt. Was heisst eigentlich: „Nachfolge Jesu“? Ganz sinnlich auch, ganz körperlich erfahrbar ist die Nachfolge bei Lukas auch verstanden worden. Jesus nachfolgen heisst hinter ihm hergehen, alles stehen du liegen lassen, hinter ihm hergehen bei Tag und Nacht, zwischen Kapernaum und Jericho, von den Booten am See Genezareth bis nach Golgatha, oder fast bis dorthin. Und so, in dieser sinnlichen Konzentration, möchte ich sie bitten, liebe Gemeinde, mit mir die Szene im Hause der Martha und der Maria zu betrachten.
Da ist Jesus eines Tages in das Haus der Martha und der Maria gekommen, in einem Dorf, heisst es einfach. Er ist dort für eine Weile eingekehrt, er redet, lehrt. Tischgespräche könnte man das nennen. Martin Luther hat es nachgemacht. Da setzt sich Maria dem Herrn zu Füssen und hört zu. Dass sie sich „zu den Füssen Jesu setzte“ meint nicht, dass der eine oben sitzt und die andere unten, auf dem Boden. Auch Jesus hat, nach dem selbstverständlichen Brauch der Zeit, zu Tisch gelegen. Zu Jesu Füssen sitzen, das ist sinnbildlich zu verstehen. Ich sehe Maria vor mir: alles hat sie abgelegt, was sie beim Hören stören könnte. Nichts in der Hand, nichts neben und niemanden vor sich, ausser dem, auf den sie hört. Ganz ausgerichtet ist sie auf ihn, mit allen Organen, allen Sinnen, ausgerichtet auf den, der zu ihr und zu den Anderen um sie herum redet.
Seltsam, diese Fähigkeit und Notwendigkeit des Menschen, auf einen Anderen ausgerichtet zu sein. Der Mensch ist sich nie selbst genug. „Du kannst dir nicht selber Gute Nacht sagen“, habe ich bei Max Frisch gelesen. Oder in dem Afrikanischen Sprichwort:
„Das Land in deinem Herzen
kannst du nicht selbst bestellen.
Den Weg zu dir selbst
Kannst du nicht selber finden.
Das Wort, das dir hilft,
kannst du dir nicht selber sagen.“
Diese Abhängigkeit davon, dass einer kommt und zu mir redet. Grotesk wäre es, sich selbst Fragen zu stellen und sie dann auch noch zu beantworten. Menschen, die viel allein sind, reden mit sich selber oder auch mit der Katze, mit dem Hund. Das ist natürlich. Aber das Selbstgespräch entspricht einem Bedürfnis, das es nicht zu befriedigen vermag. Das Wort, das mich trifft, das befreiende, das weiterweisende Wort, das muss mir ein Anderer, eine Andere sagen. Und ich sehe Maria zu Jesu Füssen sitzen, ganz auf ihn ausgerichtet und ganz Ohr. „Der Glaube kommt aus dem Hören“, wird Paulus später sagen.
Ich bleibe bei der Gestalt der hörenden Maria. Was geschieht eigentlich, wenn ich einer Sache, wenn ich eines Menschen „innewerde“, wie wir zu sagen pflegen? Wenn ich von der Begegnung mit einem Menschen, von der Zeile eines Gedichts, von einem Film, vom einer Landschaft sehr erschüttert werde, wenn ich dessen inne-werde, dann ist das meist eine Mischung zwischen Schrecken und Entzücken. Ich gerate weit ausser mir, werde aus meinen Selbstverständlichkeiten herausgeworfen, sage: Wie schön, oder auch: wie schrecklich. Spüre ein Art Notwehr in mir, trete einen Augenblick zurück, weil ich gegenüber dem, was mir zu nahe gekommen ist, ein Gegengewicht schaffen will. Aber die Faszination ist da. Du hast die Kühnheit, neugierig zu werden, So trete ich wieder näher und schaue genauer hin. Ich beginne, mein Gegenüber zu umkreisen, es zu „beschnuppern“, wie wir mit einem anderen Ausdruck aus unserer Sinnenwelt auch sagen. Und auf einmal ist eine zweite Form des Schreckens oder des Entzückens da: im Gegenüber taucht eine andere Form meines Ich auf einmal auf. Aus den Worten, aus der Gestalt des Anderen steht ein Gesicht vor mir auf, und es ist, in ganz anderer Form, mein eigenes. Aus dem Ergriffensein wird jetzt ein Ergreifender, einer – eine, die diese neue Chance seines Lebens zu ergreifen sucht. Spiegel-Kommunikation nennen das die Psychoanalytiker. Und ich sehe Maria vor mir, wie sie da zu den Füssen Jesu sitzt und zuhört, ganz Ohr ist und ganz Auge, ganz hingegeben. Auf ihrem Gesicht und in ihrer Haltung spiegelt sich das wohl alles wider: das Erschrecken, die Vorsicht, die Veränderung. Das Hören auf die Worte Jesu ist kein Zustand, ist kein Stillstand. Ist Prozess und ist Veränderung. Vielleicht ist sie in diesem Augenblick des Hörens, die späteren Frauengeschichten bis hin zur Auferstehung lassen das vermuten: vielleicht ist sie in diesem Augenblick sich neu geschenkt.
Einen Schritt möchte ich noch mit Ihnen in Gedanken weitergehen, liebe Gemeinde. Es ist erstaunlich, wie selten es den Auslegern dieser Geschichte auffällt, dass von dem, was Jesus zu Maria und den Anderen geredet hat, nicht ein Wort mitgeteilt wird. Ich hätte das, muss ich gestehen, fruchtbar gerne auch gewusst. Hat er Gleichnisse erzählt wie das vom verlorenen Sohn oder von der selbstwachsenden Saat? Hat er die Seligpreisungen wiederholt, sein „Selig sind die Armen“, wie es bei Lukas heisst, diese Paradoxie, an der alle Generationen zu knacken haben? Sicher wird er von Gott geredet haben, von dessen Nähe, Freundlichkeit, Vergebung. Vom Reich Gottes, in dem alles so anders ist, als wir es unter uns erleben, von dem Herrschaftsbereich Gottes, der in ihm da ist und der kommt. Aber es ist wohl kein Zufall, dass von dem Inhalt, dessen, was Jesus in dieser Stunde im Hause der Martha und Maria gesagt hat, hier nichts mitgeteilt wird. Zu leicht meinen wir, die Erschütterung der Begegnung, die Erschütterung auch des Glaubens darin festhalten zu können, dass wir ein Wort, einen Glaubenssatz, ein Dogma wie einen festen Besitz nach Hause tragen. Das bleibt wichtig, sonst hätten wir ja gar nichts in der Hand. Aber die Glaubenssätze, die Dogmen sind doch dazu da, dass wir uns nicht damit abschirmen.. Nein, dass wir uns immer wieder diesem Prozess des Hörens und des Innewerdens aussetzen. Dieser Prozess, in dem das Ich bestimmt wird von einem Anderen her. Subjekt soll ich werden, im eigentlichen Sinne: ein Element des Unterwerfens ist darin, aber das ist nicht Auslieferung, das ist Befreiung, mein Kommen zu mir selbst. Und so sehe ich Maria zu Füssen sitzen, und wenn ich das alles recht verstanden und begriffen habe, dann spüre ich, dass sie unter Jesu Worten eine andere wird. Nachfolge Jesu heisst dann eben nicht nur, dass ich ihm begegne, nein, dass er in mir Gestalt gewinnt. Dieser so ganz Andere wird zur Selbstdefinition meines Glaubens und Lebens werden.
In diesen Tagen findet hier nebenan im Zoo-Palast, im Kino Delphi und in anderen Kinos die Berlinale statt. Und wir werden nachher, in diesem Gottesdienst, einen Filmpreis verleihen, den Europäischen John Templeton-Filmpreis, mit dem die Konferenz Europäischer Kirchen zusammen mit INTERFILM, der ökumenischen Filmorganisation protestantischer Herkunft, herausragende europäische Filme des vergangenen Jahres ehren möchte. Der Preis geht an den Film „My Name is Joe“ von Ken Loach, der von dem Schrecken und dem Wunder der Begegnung erzählt und von der dadurch gefährdeten, aber auch neu geschenkten Selbstdefinition des Ich. Es ist, neben vielem anderen, die Geschichte des ehemaligen Alkoholikers Joe, dieses vitalen Mannes aus der Glasgower Unterschicht, dessen Leidenschaft die Traineraufgabe mit einer Fussballmannschaft ist, die im deutschen Weltmeisterschaftsdress von 1974 spielt und stets verliert. Und es ist die Geschichte Sarahs, der Sozialarbeiterin, die aus einem ganz anderen Milieu kommt und sich der Prostituierten- und Alkoholikerkinder annimmt. Die Begegnung von Sarah und Joe ist, bei aller Vorsicht, voll von Erschrecken und Entzücken. „Hast du dir selbst nie vergeben können?“, sagt Sarah zu Joe, als sie die Scham über seine Vergangenheit spürt, die noch immer in ihm ist. Das hat ihn noch nie jemand gefragt. Und wie sehr Sarah selbst an ihre Grenzen kommt, merkt sie und die Anderen, als sie es absolut nicht begreifen kann, dass Joe – um seines Freundes Liam willen – sich wieder, nur vorübergehend, wie er meint, in das Drogenmilieu begibt. Da macht sie radikal Schluss, und Joe besäuft sich wieder. Der Schluss des Films ist offen. Am Grab von Liam geht, beim Weggehen, Sarah an Joes Seite. Vielleicht ist das doch der Schritt über sich selbst hinaus, die neue Selbstdefinition im Angesicht des Anderen. Dass die Vergebung zum Leben mit dazu gehört, die Vergebung mir selbst gegenüber und vom Anderen her, und das Verständnis, das begreift, dass der Andere – die Andere – in seiner ganzen Andersartigkeit der Horizont auch meines Lebens ist.
Ja, liebe Gemeinde: diese Geschichte von Martha und Maria und von Jesus, von Maria heute vor allem. Ich sehe sie sitzen, in ihrem Haus in einem anonymen Dorf Judäas, und auf die Worte Jesu lauschen. Ich würde mich gerne an ihre Seite setzen, und ich vermute, Sie würden das auch ganz gerne tun. Und da hören wir Jesus zu. Und der „Riss im Sein“, wie ein Philosoph gesagt hat, wird mir auf einmal ganz bewusst. Die Trauer über all die furchtbaren Dinge, über die brutale Machtausübung und die Todessehnsucht, die in dieser Welt, auf dieser von Gott geschaffenen Erde immer wieder und bis heute das Sagen haben. Und zugleich sind da wohl Zorn und Enttäuschung, aber keine Anzeichen von Resignation oder Zynismus über den Zustand dieser Welt. Ein Wärmestrom geht von den Worten Jesu aus, ein Ausdruck einer alles umfassenden, nichts und niemand auslassenden Liebe. Ja, so ist Gott und das ist Gott, sagt Jesus. Und ich höre es, werde dessen inne, trete zurück und wieder herzu, werde ein Ergriffener und dann ein Ergreifender, und weiss auf einmal: So kann mein Leben noch einmal neu beginnen. Amen.