Ein Bericht von Dorothea Lanz, Bern

Alljährlich anfangs Juni findet in der Kleinstadt Zlin im mährischen Tschechien eines der ältesten Kinder- und Jugendfilmfestivals statt. 199 Wettbewerbsfilme aus 44 Ländern, 2350 Akkreditierte und 43'000 Zuschauer/-innen – der Grossteil davon natürlich Kinder und Jugendliche – das ist die stolze Bilanz, mit der der traditionsreiche Anlass aufwarten kann. Im altehrwürdigen Velke Kino, einem Bau aus den dreissiger Jahren, finden über tausend Zuschauer/-innen Platz, und wenn der Saal voll besetzt ist mit filmbegeisterten Kindern, ergibt das eine ganz besondere Stimmung – schon das allein ist eine Reise wert nach Zlin.

Zlin hat einen berühmten Stadtvater: Thomas Bata, ein visionärer Unternehmer mit sozialem Gewissen, hat in den dreissiger Jahren in Zlin seine erste Schuhfabrik eröffnet und damit den Grundstein zum heute weltweit verbreiteten Bata-Schuh-Imperium gelegt. Zlin wurde durch die Bata-Fabrik zum führenden Industriestandort, und noch heute besticht die Stadt durch ihre imposante Industrie-Architektur aus den 30er Jahren und durch ihre städtebauliche Konzeption der Moderne und des Funktionalismus. Auch die Ursprünge der Zlin'schen Filmindustrie und mithin des Internationalen Kinderfilmfestivals gehen auf Thomas Bata zurück: Um seine Schuhe weltweit vermarkten zu können, liess Bata Werbefilme produzieren, was bis zur Gründung einer Filmschule führte, die noch heute ein Zentrum der tschechischen Filmproduktion darstellt.

Peinliche Eltern und clevere Kinder: Die ökumenischen Preise

Der ökumenische Preis ging an die dänische Produktion Max pinlig / Max Embarrassing von Lotte Svendson, die auch den grossen Preis der Hauptjury erhielt: Max lebt mit seiner alleinerziehenden Mutter zusammen und muss sich täglich mit den Sorgen eines heranwachsenden Jugendlichen herumplagen. Er wäre gerne der Coolste der Klasse, aber ständig widerfahren im Missgeschicke und Peinlichkeiten. Auch seine Mutter, eine herzliche und liebenswerte, aber auch irgendwie seltsame Frau mit der Gabe, stets im falschen Moment das Falsche zu sagen, trägt zu Max' Unbehagen bei. Nach und nach erfährt der Junge jedoch, dass er nicht der Einzige ist, der sich schwer tut mit dem Erwachsen-Werden, mit den Erwachsenen, mit sich selbst. Auch seine Freunde haben ihre Geheimnisse und ihre Sorgen: Da ist beispielsweise die von ihm heimlich angebetete Ophelia, deren Vater im Gefängnis war. Oder das Nachbarmädchen, dessen Vater als Schauspieler jedes Hochglanzmagazin ziert – aber vor lauter Berühmtheit die Beziehung zu seiner Tochter völlig verloren hat und im Grunde mit seiner Selbstinszenierung viel peinlicher ist als die Mutter von Max. Als diese an Sylvester in der Kirche mit einer spontanen Rede für betretenes Schweigen sorgt, fühlt man als Zuschauerin mit dem unglücklichem Max mit – und freut sich dann aber auch ebenso mit ihm, als genau diese peinliche Rede zu einem wundersamen nächtlichen Neujahrsfest führt.
Der unkonventionell und mit viel Humor erzählte Film, durch den uns Max als selbstironischer Off-Erzähler führt, bleibt seiner Perspektive treu und schildert die ganze Geschichte aus der Perspektive von Max. So gelingt es, ein sehr authentisches und feinfühliges Bild dieses labilen Zustands am Übergang zwischen Kindheit und Erwachsensein zu zeichnen. Darüber hinaus zeigt der Film sehr schön die tragende Kraft von Eltern-Kind-Beziehungen, von Freundschaft und von nachbarschaftlicher Solidarität, und er plädiert für Toleranz und Respekt gegenüber der Verschiedenartigkeit von Menschen.

Eine lobende Erwähnung der ökumenischen Jury ging an Little Robbers von Armands Zvirbulis aus Litauen, einen Kinderfilm für die allerkleinsten Zuschauer/-innen, der jedoch auch den Grösseren Spass und Unterhaltung bereitet. Für einmal nichts Tiefschürfendes, nichts Problembeladenes, nichts Furchteinflössendes, sondern ganz einfach eine lustige Kindergeschichte, in deren Verlauf ein Geschwisterpaar zwei tumbe Gauner übertölpelt. Bis die beiden Kinder mit Hilfe ihrer Eltern und Grosseltern und mancherlei Bauernhoftiere die Bösewichte fangen können, müssen zahlreiche Abenteuer und Verfolgungsjagden überstanden werden. Unterhaltsam, spannend und lustig hebt sich dieser im positiven Sinne 'altmodische' Film mit seiner einfachen Geschichte wohltuend ab von den Produktionen der kommerzialisierten Kinderfilm-Industrie. Die Reaktion der Kinder im Saal bestätigte die Einschätzung, dass hier ein gelungener, kindergerechter Film vorliegt, der an die Tradition der Astrid-Lindgren-Verfilmungen erinnert.

Bollywood, japanisches Schweineprojekt und tschechischer Märchenprinz: weitere Wettbewerbsfilme

Die Spannbreite der Wettbewerbsfilme war gross und die Qualität sehr unterschiedlich: Da gab es den sympathischen Kinder-Bollywoodfilm über die Kraft der Imagination und die Bedeutung von Lesen und Schreiben (Nanhe Jaisalmer von Samir Karnik); einen iranischen Film zum wichtigen Thema Zwangsverheiratung, der aber inhaltlich überladen und in der Umsetzung hölzern daherkam (Nilufar von Sabine El Gemayel); den bemerkenswerten, durch die Hauptjury ausgezeichneten Film A School Day with a Pig von Tetsu Maeda über eine japanische Schulklasse, die im Rahmen eines Unterrichtsprojektes zum Thema Essen während eines Jahres ein Schwein betreut und es dann anschliessend schlachten soll: Die – leider etwas repetitiven – Diskussionen der Schüler/-innen in der Klasse, ob und warum man das Schwein schlachten bzw. verschonen solle, haben Dokumentarfilmcharakter und eröffnen spannende Diskussionsfelder rund um unseren Umgang mit Tieren bzw. mit dem Töten von Tieren und dem Essen von Fleisch. Darüber zeigt der Film auch die Chancen, aber auch die Schwierigkeiten von Projektunterricht.

Der von der FICC-Jury prämierte Film Cobardes /Cowards aus Spanien ist ein unbequemes Dokument über die Perpetuierung von Mobbing und Machtspielen unter Schülern, und die cineastisch herausragende, mit einem Spezialpreis und dem Preis der Jugendjury ausgezeichnete kanadische Produktion It's not me, I swear! erzählt sarkastisch und schwarzhumorig das Leben des jungen Léon in den 70er Jahren, der mit dem Wegzug seiner Hippie-Mutter klarkommen muss. Auch problematische Beiträge waren im Wettbewerb zu sehen – so etwa The Seven of Daran: The Battle of Pareo Rock, der – etwas überspitzt formuliert – zeigt, wie ein weisser Junge mit Hilfe einer (weissen!) Fantasy-Giraffe und einem schwarzen Mädchen zwei verfeindete afrikanische Stämme befriedet. Der höchst fragwürdige Film missbraucht die wunderschönen Landschaften Südafrikas als Szenerie für eine simple Abenteuergeschichte, in der Vorurteile über die «primitiven und kriegerischen afrikanischen Stämme» aufs übelste verstärkt werden. Auch der tschechische Beitrag Hell with Princess war enttäuschend, ein aufwändigst produzierter Kostümfilm mit einer ziemlich einfältigen und vorhersehbaren Märchengeschichte rund um einen dümmlichen Prinzen, eine schöne Prinzessin und eine laszive Teufelin – schwer nachvollziehbar, dass dieser Film den Preis der Kinderjury und den Publikumspreis erhielt.

Düstere Perspektiven: Europäische Erstlingsfilme

Eindrückliche Filme waren in der Sektion «Europäische Erstlings-Spielfilme» zu sehen. Die beiden von der Fachjury ausgezeichneten Filme basieren auf realen Begebenheiten und wählen dokumentarische Ansätze. Sie richten den Blick auf die Schattenseiten der Gesellschaft: einmal nach Rumänien, wo Strassenkinder unter unmenschlichen Bedingungen in den Kanalisationsschächten hausen (PA-RA-DA vom Marco Pontecorvo); das andere Mal in die ostdeutsche Provinz, wo arbeitslose Jugendliche aus Langeweile und Frustration einen Landstreicher bei lebendigem Leibe verbrannten (Weltstadt von Christian Klandt).

Der mit dem grossen Preis ausgezeichneten PA-RA-DA, der seine Uraufführung am Filmfestival von Venedig erlebte, schildert das Engagement des algerisch-französischen Strassenkünstlers Miloud Oukili, der in Rumänien mit Strassenkindern arbeitete. Mit Haut und Haar und auch unter widrigsten Umständen gab er sich der selbst gestellten Aufgabe hin, den tristen Alltag der Strassenkinder mit Theater, Zirkus und Improvisationen aufzuhellen, ihrem Leben einen Sinn zu geben und sie Respekt vor sich selber und vor anderen zu lehren. Der mit einer mobilen Handkamera gedrehte Film bleibt stets ganz dicht an seinen Protagonist/-innen dran und zeichnet ein erschreckend düsteres Bild einer verlorenen Jugend. Er vermittelt jedoch auch Hoffnung, indem er die zumindest ansatzweise erfolgreiche Bemühung zeigt, einigen der obdachlosen Kinder zu einer besseren Zukunft zu verhelfen. Diese Hoffnung fehlt im mit einer lobenden Erwähnung bedachten Weltstadt weitgehend, und das ist es, was diesen finsteren Film, der sich in einer ganz gewöhnlichen, harmlosen Kleinstadt abspielt, so schwer verdaulich macht. Der Regisseur versucht die Hintergründe eines Verbrechens zu ergründen, das sich planlos und fast zufällig ergeben hat. Mit sorgfältiger Kameraarbeit und beklemmenden Milieu-Studien gelingt ihm ein eindrückliches Stimmungsbild einer Generation von Gleichgültigen, von Jugendlichen, die – ohne Arbeit und ohne Perspektive, frustriert und gewaltbereit – keinerlei Sinn im Leben mehr sehen. Bleibt zu hoffen, dass dieser Film aufrüttelt und dazu zwingt, hinzuschauen und die Probleme der Jugendlichen ernst zu nehmen.