5. Europäischer John Templeton Filmpreis 2001

Laudatio und Predigt zur Preisverleihung


Der 5. Europäische John Templeton Filmpreis 2001 wurde an den Film "Chico" (Ungarn, Kroatien, Deutschland, Chile 2001) der ungarischen Regisseurin Ibolya Fekete verliehen. Die Preisverleihung fand während der Berlinale 2002 am 10. Februar im Rahmen eines Gottesdienstes in der Matthäuskirche auf dem Kulturforum statt. Der Preis ist mit 7.000 CHF dotiert, gestiftet von der John Templeton Foundation. Die Jury für den Preis bestand aus Robin Gurney, Hans Hodel und Karsten Visarius.

 

Laudatio

CHICO wurde auf dem Filmfestival in Karlovy Vary im Juli des vergangenen Jahres mit dem Preis der ökumenischen Jury ausgezeichnet. Die Auszeichnung galt einem Film, so die Jury, „der die bleibende spirituelle Dimension der menschlichen Existenz zeigt, während Ideologien kommen und gehen“.

Der Film vermischt zeithistorisches Dokumentarmaterial mit der Geschichte eines Mannes auf der Suche nach dem Sinn seines eigenen Lebens. In einer Welt einander ablösender Ideologien durchläuft er den Weg von kommunistischer Begeisterung, die ihm sein Vater vererbt, zum Kampf auf kroatischer Seite in den Balkankriegen der neunziger Jahre. Revolutionär, Geheimagent, Journalist, schließlich Soldat, ringt der Held, Ricardo, ständig mit Macht und Autorität, während er seinen Überzeugungen treu zu bleiben sucht. Der komplexe und dennoch unterhaltsame Film zeichnet die politische Ironie der letzten dreißig Jahre nach, den Zerfall des Kommunismus und den Aufstieg des Nationalismus.

Beiläufig durchzieht das Thema Religion den ganzen Film, bis hin zu einem christlichen Gebet Ricardos an der jüdischen Klagemauer in Jerusalem. Insgesamt stellt dieser „ideologische Abenteurfilm“ (Ibolya Fekete) zahlreiche Fragen zur Diskussion, ohne Lösungen geben zu wollen.

 

Predigt zur Preisverleihung

von Hans Werner Dannowski, Hannover
während der 51. Internationalen Filmfestspiele Berlin
im Gottesdienst von Sonntag, 10. Februar 2002
in der St.Matthäuskirche am Kulturforum Berlin

 

„Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse,
weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt,
Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung,
Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden;
denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen
durch den heiligen Geist, der uns gegeben ist.“

Römer 5, 3-5

 

Liebe Gemeinde,

 

am Ende des Films, den wir heute mit dem John Templeton-Preis für 2001 auszeichnen: Am Ende sitzt Ricardo, den seine Kameraden nach einer Comic-Figur „Chico“ nennen, neben dem Altar der zerstörten Kirche in dem ungarischen Dorf im kroatischen Gebiet, das Chico mit seiner Truppe vergeblich zu verteidigen suchte. Sechs Tage lang hat er im Koma gelegen. Er kehrt in das Dorf zurück. Die Häuser sind zerschossen und menschenleer, die Natur erobert sich die Reste der früheren Kultur zurück. Die Leichen der gefallenen Kameraden findet er nicht mehr. Die Kirche hat gebrannt, ist innen nur noch ein Trümmerhaufen. Und da sitzt Ricardo neben dem Altar mit dem Kreuz davor: Sinnend, nachdenkend, ratlos. Der Gesang der Männerstimme, die – vom Klavier begleitet – von den Schlachtfeldern singt, auf denen die Toten ruhen, klingt leise durch den hohen, offenen Raum. Die Nachdenklichkeit und die Ratlosigkeit ist auf mich, auf den Zuschauer dieses Films übergegangen. Die Ausweglosigkeit greift an mein Herz.

Ein wildes, aufregendes Leben ist voraufgegangen. Ein Globetrotter der Revolution ist Ricardo sozusagen. Der Sohn eines ungarischen Juden und einer Bolivianerin ist der Mann. Die Ideen der Revolution hat er von Kind an mit den väterlichen Geschichtsexkursen ausgesogen. Bolivien, Che Guevara, das Chile Allendes und Pinochets. Im Flugzeug singen die fliehenden Chilenen die Internationale. Das Ungarn Kadars. Das Albanien Enver Hodschas, das ihn so sehr – in seiner Armut vor allem – an Lateinamerika erinnert. Der Krieg in Kroatien wirft alles um. Durch Gewalterfahrungen am eigenen Leibe wird er vom Berichterstatter der spanischen Zeitung zum militanten Nationalisten. Dann kommt das Ende: Die Katastrophe seiner Einheit und seiner selbst in dem Dorf, das sie „bis zum letzten Mann“ verteidigen sollen. Zusammengeschossen, verlassen sie in der Nacht mit den Verwundeten den Ort. Ricardo fährt mit seinem Begleiter auf eine Panzermine auf. Und dann sitzt er, nach der Genesung, neben dem Altar in der zerschossenen Kirche. Kroatien ist indessen geboren, gewonnen hat er nichts. Die Kamera fährt über die zusammengestürzten Steine der Kirche und über die leeren Wände des Hochaltars. Und die Männerstimme singt von den Gräbern der Soldaten, von denen der Wind die Erde weht und an denen niemand trauert, niemand weint. Far, far away, weit, ganz weit. Ganz nah.

Zu dem Film habe ich einen Bibeltext aus dem Brief des Paulus an die Römer hinzugestellt. Aus einer anderen Welt scheint er zu kommen. Immerhin, die Erfahrung der Bedrängnis, der Thlipsis (wie das im Griechischen heisst), die Erfahrung der tödlichen Bedrohung und der Enge des Lebens ist beiden Texten, ist dem aktuellen Film und dem biblischen Wort gemeinsam. Auch dieses ist kein Wort von den Sonnenseiten unserer Welt. Aber damit hören die Gemeinsamkeiten dann auch schon auf. In einer geradezu paradoxen und kaum begreiflichen Weise werden die Bedrängnisse und Ausweglosigkeiten zum Anlass menschlichen Rühmens genommen. „Nicht allein aber das“ (gemeint ist die Hoffnung auf eine zukünftige Herrlichkeit), „sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse“. Kann man sich der Ausweglosigkeiten, der Gefahren, der Enge, die einem die Luft nimmt, nicht erst dann rühmen, wenn man sie glücklich überstanden hat? So würde man das doch normalerweise denken und es so erleben! Und dann knüpft Paulus an diese Grunderfahrung des bedrängten Lebens noch eine Erlebniskette, die über Geduld und Bewährung bis hin zur Hoffnung reicht. Ja, die bis hin zur Liebe Gottes geht, die durch den heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen ist. „Weil wir ja doch wissen“, sagt Paulus, als sei das ein kleines Einmaleins, „dass Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden“. Ist das eine Lebenskunst, die noch vor den Erfahrungen liegt, die der Film beschreibt und die wir in persönlicher Ausweglosigkeit, in der einen oder anderen Weise, immer wieder auch erleben: Dass einem alles aus der Hand gleitet oder alles aus der Hand geschlagen wird? Oder ist das eine Wirklichkeitserfahrung, die sozusagen mit dem Ende des Films erst beginnt? Bis dahin lässt sich aus dem Film ohne Schwierigkeiten eine Negativkette, zu der Glaubenserfahrung des Paulus konstruieren, eine Erfahrungskette, die wir sehr gut kennen. Enge, Bedrängnis, Leidenserfahrung mündet nicht in Hoffnung, sondern in Hoffnungslosigkeit. Oder, wenn dies eine kollektive Erfahrung ist: Bedrängnis, soziale oder nationale oder religiöse Missachtung und Entwürdigung sind die Brutstätten von Feindbildern. Der Hass aber wütet blindlings und zerstört alles, am Ende meist dann auch sich selbst.

Zwei miteinander unvereinbare Wirklichkeitsverarbeitungen scheinen also die Erlebniswelt des Paulus und die Erlebniswelt des Balkankrieges, so wie der Film sie sicher mit Recht beschreibt, zu sein. Aber die erschütternde Wirkung, die der Film auf mich und, wie die Preisverleihung zeigt, auch auf viele Andere hat, das geht über solche Feststellungen hinaus. Das, was einen Film jenseits der einfachen Wirklichkeitsschilderung zu einem bewegenden Kunstwerk macht, ist die Meisterschaft der Überführung der einen Wirklichkeitserfahrung in die andere. Ich will es zunächst mit einem Schlagwort sagen: Dieser Film schafft es, die Übergangsstelle zu markieren von einem geschlossenen zu einem offenen System. Und damit hilft er mir und sicher auch  vielen von Ihnen – denke ich -, den Versuchungen der Resignation zu widerstehen und den Schritt zu wagen, in dem aus Bedrängnis Geduld und Bewährung, und aus dem allen Hoffnung wird.

Ja, liebe Gemeinde, das geschlossene System. Ricardo hat sein bisheriges Leben darin gelebt. Im geschlossenen System weiss man, worauf es in der Geschichte ankommt und worauf das alles hinauslaufen wird. Die Gewalt des Staates ist eine andere als die Gewalt der Revolution: Die eine Sache ist gerecht, die andere ungerecht. Mit dieser Sichtweise ist Ricardo aufgewachsen. Absolut konsequent hält der Film CHICO diese Grundhaltung durch, und so wird er angefeindet, weil sich der Film anscheinend total auf die Seiten der Kroaten stellt. Als ob die nicht auch ihre furchtbaren Vernichtungsorgien auf dem Kerbholz hätten. Das ist richtig, aber das alles liegt nicht in der Perspektive, die Ricardo sieht. Das geschlossene System ist ein Sparprogramm des Lebens, um mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an Wirkung zu erreichen. Autoritäre Strukturen sind eine Selbstverständlichkeit. Und der Krieg ist natürlich ein Krieg der Männer, die Frauen sind nur als Leidende und Vertriebene und als kurze Leidenschaft der Sehnsucht da. Frauen könnten das geschlossene System der Männer gründlich durcheinander bringen. Geschlossene Systeme sind wegen ihrer mangelnden Kommunikationsfähigkeit auf Sieg und Überlegenheit getrimmt. Wenn dies nicht zutrifft, gehen sie unter. Es sei denn.., es beginnt einer, den Schock bei sich wirken zu lassen, den der Untergang einer ganzen Welt in der eigenen Seele hinterlässt. Es sei denn.., es beginnt einer, einen Kontakt aufzusuchen, der andere Horizonte spüren lässt. Es sei denn, es lässt einer die Erinnerungen kommen und die Ahnung der Nähe einer anderen Welt.

So seltsam das, liebe Gemeinde, bei der fast hermetischen Geschlossenheit der Erfahrungskette klingen mag: das Wort des Paulus, der christliche Glaube und der innerste Kern der Kirche tendieren nach meiner festen Überzeugung zu einem offenen System. Nicht, als ob die Kirche nicht in der ständigen Gefahr stünde, zu einem geschlossenen System zu werden. Nicht nur die Sünden der Vergangenheit: Die Diktatur der Rechtgläubigkeit, die Unterdrückung des Zweifels und die Missachtung der Würde der Menschen wie der eigenen Würde, sind eine ständige Gefahr. Aber in dem Film CHICO, da ist das so. Da stehen der Glaube und die Kirche für das offene System. Da ist der albanische Priester, der in den 25 Jahren des Straflagers es nicht gelernt hat, die Menschen zu verachten. „Gott hat uns mit einem Mund geschaffen, den Menschen die Schönheit der Liebe und die Freiheit zu verkünden“, sagt er. Chico kann ihm einmal wieder als Ministrant bei der Messe zur Seite stehen.

Da ist die Reise Ricardos nach Jerusalem, sein Vaterunser, dieses urjüdische Gebet, mit der Hand an der Klagemauer. Die Worte des Bischofs über die Schönheit dieser Stadt Jerusalem, die auch eine Stadt des Todes ist, klingen in mir lange nach. Die Beichte Ricardos hinter dem Rücken des jungen Priesters in der Kirchenbank: Kroatien hat alles durcheinander gebracht. Als Kind war das so einfach: Tue Gutes, und du wirst gerettet. Ich weiss mein Leben nicht mehr zu ordnen. Und dann sitzt Ricardo in der zerstörten Kirche, die ein Abbild nicht nur des zerstörten Lebens in den Dörfern und Städten dieses Landes ist. Sondern die, gerade in dieser zerbrochenen Gestalt, auf den Gott verweist, der in Christus in die Tiefen der Bedrängnisse hinabgestiegen ist. An ihn kann er sich anschliessend, für den der Tod eine bittere Erfahrung, aber nicht das Ende der Wege Gottes mit den Menschen war. Und da ist sie wieder, diese Erfahrungskette des Paulus: Bedrängnisse schaffen Geduld, Geduld Bewährung, Bewährung Hoffnung, und die lässt nicht zuschanden werden.

Um es in einer nicht so biblisch geprägten Sprache auszusagen: Das offene System beginnt mit der Wahrnehmung der eigenen Schmerzen. In dieser Lebenswirklichkeit wird die Leiblichkeit, werden die Berührungen wichtig. Eine sensible Frau hat CHICO gedreht, man merkt das gerade an den kleinen Dingen. Dazu gehört die Begründung des Ricardo, weshalb ihm die Kroaten so gefallen: Weil die sich berühren, das ist einzigartig in Europa. Eine solche Beobachtung ist einfach schön. Das offene System beginnt mit der Klage und der Trauer über die Menschen, die sinnlos in erbarmungslosen Kriegen niedergemetzelt worden sind. Was Ricardo am tiefsten bewegt, ist – denke ich – das Entsetzen über das spurlose Verschwinden der Freunde, an deren Gräbern er nicht einmal mehr klagen und weinen kann. Die Männerstimme mit dem Lied von den Soldatengräbern singt davon.

Schmerzen und Niederlagen können, wenn sie wirklich wahrgenommen werden, die Ahnung einer anderen Welt sein. Der Schmerz kann von einer positiven Kraft in uns herrühren, die uns zu einem heileren Umgang mit uns selbst und mit der Welt anregen oder gar zwingen möchte. Kann, sage ich. Bei Ricardo, denke ich, ist das so. Die Ahnung einer Welt mit dem menschlichen Gesicht steckt in dieser Ratlosigkeit und Trauer. Einer Welt, für die Christus gestorben und auferstanden ist. „Narben sind Augen“, hat ein katholischer Freund gesagt. Sie machen uns hellsichtig. Sie können zur Weisheit der Seele werden. Sie schliessen uns an an die Visionen einer Zukunft, die von den Propheten des Alten Testaments mit ihrer Losung „Schwerter zu Pflugscharen“ bis zu den Seligpreisungen Jesu über die Menschen reinen Herzens und die Friedensstifter reicht. Die in der Liebe Gottes gipfelt, die durch den heiligen Geist in den Herzen der Menschen ist.

Das ist noch immer ein weiter Weg. Die Welt um uns, die einmal wieder in einer stärkeren (militärischen) Aufrüstung ihr Heil sucht, schaut anders aus. Und so bleibt für uns wohl einfach dieses: Dabei bleiben. Bei der schwierigen Erkenntnis bleiben, wie eng oft Schmerzen, Weisheit und Hoffnung zusammengehören. Sich neben Ricardo, sich neben den Altar setzen und die Stimmen hören, die von der Klage an den namenlosen Gräbern singt. Und zu spüren, wie aus dieser Klage langsam die Energie der Hoffnung wächst. Wirklich: Bedrängnis bringt Geduld, Geduld Bewährung, Bewährung Hoffnung. Und daran stärkt sich dann vielleicht auch die Liebe, die niemanden ausschliesst, niemanden übersieht.

Amen.