«Karlovy Vary» − für mich war das seit Jahren so etwas wie ein Geheimcode. Wo liegt das genau? Wie sieht es dort aus? Nun hatte ich die Gelegenheit, diesen Ort im Westen der Tschechischen Republik während zehn Tagen kennenzulernen. Vorgefunden habe ich eine Stadt, die da und dort noch den Geist der österreichisch-ungarischen Monarchie zu atmen scheint: Prächtige Häuserkulissen, wuchtige Kolonnaden, von Pferden gezogene Kutschen. Vor allem aber von Menschen überquellende Strassen, neben Kurgästen viele Besuchende des Filmfestivals (oder auch nur all der musikalischen und gastronomischen Nebenschauplätze). Ein Publikum in Feierlaune, das nach Corona Lust auf Kino hat und das grosse Angebot an Filmen offensichtlich dankbar aufsaugt in den immer bis auf den letzten Platz vollen Kinos. Zudem Menschen in eleganter Kleidung, vor allem am Eröffnungs- und Schlussanlass «wie aus dem Ei gepellt»: Die Frauen in langen farbigen Kleidern, zum Teil mit Schleife, die Männer dunkel gekleidet von den Schuhen bis zur Fliege oder Krawatte – und Personal an den Türen, das die Kleidervorschriften peinlich genau überwacht und je nachdem den Einlass gewährt oder nicht.
Als besonders im Vergleich zu anderen Festivals empfand ich auch, dass Karlovy Vary Humor zeigt, sich selbst auf die Schippe nehmen kann. So wurde in Kurzfilmen vor Beginn einer Filmvorführung auf witzige Art dokumentiert, wozu die Trophäe, der «Crystal Globe» alles dienen kann: als Zierde vorne auf der Kühlerhaube des Autos oder zum Zermalmen von Tabletten. Einer der früheren Preisträger:innen, die bei den Clips mitwirkten, wurde im Pfandhaus abgewiesen, da dort schon sechs «Crystal Globes» im Regal standen ...
Die Auswahl der elf Wettbewerbsfilme war bunt. Frauen, die für eine Filmproduktion in historischen Kleidern üben, die soziale Kluft zwischen zwei sich Liebenden, die Irrfahrt eines Mannes mit seinen zwei Kindern, eine Frau, die über Leichen geht, um ein Ziel zu erreichen, oder die Dokumentation über die Produktion eines Films waren genauso umgesetzt wie die Geschichte über eine verschwundene Heiligenfigur in einem Bergbaugebiet. Im Gegensatz zu früheren Filmfestivals hatte ich den Eindruck, dass es kaum mehr sich durch etliche Filme durchziehende Themen oder wiederkehrende Motive oder Symbole gibt. Auffallend war auch, dass das aktuelle weltpolitische Geschehen oder gesamtgesellschaftliche Prozesse wie der Umgang mit der Klimaveränderung kaum vorkamen − eine Ausnahme war hier ausserhalb des Wettbewerbs Aki Kaurismäkis wunderbar-melancholischer Film «Fallen Leaves» (Finnland/Deutschland 2023), in dem aus dem Radio immer wieder Meldungen zum Krieg in der Ukraine zu vernehmen waren.
Eine gewisse Sozialkritik bot der Film «Empty Nets» (Behrooz Karamizade, Deutschland/Iran 2023), in dem es u.a. um das soziale Gefälle in der iranischen Gesellschaft geht, oder «Fremont» (Babak Jalali, USA 2023) über das Schicksal einer afghanischen Flüchtlingsfrau in den USA. Stark dokumentarischen Charakter wies «Dancing on the Edge of a Volcano» (Cyrill Aris, Deutschland/Libanon 2023) auf, der seinen Ausgangspunkt bei der katastrophalen Explosion im Hafen Beiruts im August 2020 nimmt. Im Schicksal einer älteren Frau in «Blaga’s Lessons» (Stephan Komandarev, Bulgarien/Deutschland 2023), dem Preisträger der Ökumenischen Jury wie der Hauptjury, spiegeln sich eindrücklich die Nöte gerade alter Menschen im marktwirtschaftlich-kapitalistischen Bulgarien. Aber auch hier bleibt es vorab den Zuschauenden vorbehalten, den Transfer einer individuellen Geschichte in die grösseren (gesellschaftlich-politischen) Zusammenhänge zu vollziehen.
Karlovy Vary will offenbar kein politisches Festival sein, was durchaus auch den Vorteil bietet, dass man als Zuschauer:in freier ist, sich eine eigene Meinung zu bilden und den Film auf eigene Weise zu einem Ende zu bringen. Schon eher vermisst habe ich, dass die Thematik «Diversität» kaum Einzug in die Auswahl der Filme gefunden hat. Lediglich in der tschechisch-slowakischen Produktion «We Have Never Been Modern» (Matĕj Chlupáček, Tschechische Republik/Slowakische Republik 2023) dient das Thema «Intersexualität» als Aufhänger, allerdings transferiert ins Jahr 1937 und überladen mit Themen wie aufkommender Nationalsozialismus, wirtschaftlicher Aufbruch, Kommunismus, Spionage und einer schwierigen ehelichen Beziehung.
Die Filme empfanden wir als Jury als mehrheitlich von guter Qualität und anregend für Gespräche. Es spricht zudem für das Festival, dass es offenbar darauf verzichten kann, sich mit besonders reisserischen oder schockierenden Produktionen hervorzutun, um viel Publicity in der Presse zu erheischen. Was wiederum nicht heisst, dass einzelne Filme nicht «unter die Haut gingen» bzw. eine grosse Betroffenheit auslösten. Ich denke da an den kanadischen Film «Red Rooms» (Pascal Plante, Kanada 2023), der den Prozess gegen einen des Mordes an drei Mädchen angeklagten Mann sowie verstörende Reaktionen im Publikum (bis hin zur Verliebtheit in den Täter) zum Thema hat. Am anderen Ende der Gefühlsskala lag «Hypnosis» (Ernst De Geer; Schweden u.a. 2023), die Geschichte einer Frau, die dank Hypnotherapie zu ihrem kindlichen Ich zurückfindet. Nicht zuletzt die heitere Seite jenes Films war wohl Anlass dazu, dass die beiden anderen unabhängigen Juries («Fipresci» und «Europa Cinemas Label») diesen Film auszeichneten.
Der Preisträger der Ökumenischen Jury – «Blaga’s Lessons» − mag etwas erstaunen. Das Kriterium eines Bezugs zum Evangelium wird hier sozusagen von der Rückseite her illustriert: Eine Frau, die Opfer eines Telefonbetrugs geworden ist, wird selber zur Täterin, indem sie anderen zufügt, was sie selbst erlitten hat. Entgegen den Erwartungen der Zuschauenden kommt sie nie zur Einsicht, sondern zieht ihr (unmoralisches) Verhalten bis zum Schluss konsequent durch. Sie wird insofern nicht zur Sympathieträgerin (trotz ihres Schicksals), bildet aber die drohende Armut und Hoffnungslosigkeit alter Menschen im heutigen Bulgarien ab, von Menschen, die angesichts von Korruption, Kriminalität und Ausbeutung nicht mehr wissen, wem sie vertrauen können. Stephan Komandarevs Film lebt nicht zuletzt von der grandiosen Hauptdarstellerin Eli Skorcheva, die den Hauptpreis als beste Darstellerin erhielt. Skorcheva zog sich 1989 aus dem Filmgeschäft zurück, da sie die Kommerzialisierung der Filmbranche nicht mitmachen wollte. Zum Glück hat das Drehbuch zu «Blaga’s Lessons» sie so überzeugt, dass sie nach über dreissig Jahren nochmals in ein Filmprojekt eingestiegen ist.
Mit einer «Lobenden Erwähnung» bedachte die Ökumenische Jury ausserdem das Werk «Citizen Saint» (Tinatin Kajrishvili, Georgien/Frankreich/Bulgarien 2023). Der Film, der bei einer offenbar vom Kreuz gestiegenen Heiligenfigur (eigentlich einer Jesusfigur in der Montur eines im Bergbau Tätigen) ansetzt, bleibt über weite Strecken nahe an den Karfreitags- und Ostergeschichten in den Evangelien. In eindrücklicher Weise stellt er an uns heute die Frage, warum ein lebendiger Glaube uns ängstigt, warum wir es vorziehen, einem toten Körper am Kreuz zu folgen statt dem Lebendigen unter uns. Dieser Film eignet sich durchaus für Kirchenkino-Anlässe oder Filmgottesdienste.
Zum Schluss sei eine filmische Perle erwähnt, auf die ich ausserhalb des Wettbewerbs gestossen bin. In ihrem Film «Blackbird Blackbird Blackberry» (Schweiz/Georgien 2023) ist der schweizerisch-georgischen Regisseurin Elene Naveriani nach ihrem grossartigen Film «Wet Sand» (2021) ein neuer Wurf gelungen. Anhand einer Frau, die als bald Fünfzigjährige zum ersten Mal Gefühle von Verliebtheit (oder Liebe) erleben darf, wird einmal mehr eindrücklich die Dynamik eines georgischen Dorfes dokumentiert, in dem sich alle kennen, in dem alle alles voneinander wissen (oder dies zumindest glauben). Naverianis Film wurde wie jener von Kaurismäki in der herausragenden Sektion «Horizons» gezeigt, der es gelingt, dem tschechischen Publikum markante Werke zu präsentieren, die bereits an anderen Filmfestivals Erfolge verzeichnen durften.