Auszeichnung geht an "Yasmin" von Kenny Glenaan


Der Film "Yasmin" von Kenny Glenaan (Großbritannien/Deutschland 2004) ist mit dem European Templeton Film Award 2004 ausgezeichnet worden. Der von der amerikanischen John Templeton Foundation gestiftete Preis wird  von der internationalen kirchlichen Filmorganisation INTERFILM und der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) vergeben. Er ist mit 10.000.- € dotiert und wird von einer Jury aus den kirchlichen Preisträgern internationaler Festivals des vergangenen Jahres ausgewählt.

Die Preisverleihung fand während der Berlinale, am Sonntag, den 13.2., 18.00 Uhr im Rahmen eines Gottesdienstes in der evangelischen Matthäuskirche statt. Die Predigt hielt INZTERFILM-Präsident Hans Wernber Dannowski. Zuvor wurde der Film in einer Sondervorführung gezeigt. YASMIN erhielt den Ökumenischen Filmpreis beim Internationalen Filmfestival Locarno 2004. Die Hauptdarstellerin, Archie Panjabi, gehörte zu den European Shooting Stars 2005, die sich auf dem Talent Campus der Berlinale präsentierten.

 

Laudatio

Yasmin, eine pakistanische Immigrantin der zweiten Generation, lebt in der Spannung zwischen ihrer Lebenslust und den Forderungen ihrer Familie, der die Mutter fehlt. Sie ist eine erfolgreiche Sozialarbeiterin in einer verarmten Region Nordenglands. Ihr Vater ist ein frommer Moslem und Wächter der Moschee, während ihr Bruder in die Gegenkultur der Drogenszene verwickelt ist. Die Anti-Terrormaßnahmen der Polizei nach dem Anschlag der Al-Qaeda auf das politische und ökonomische Zentrum des Westens radikalisiert aufgebrachte junge Muslime. Die Ereignisse verändern die Haltung von Yasmins Freunden und Arbeitskollegen gegenüber ihr selbst und ihrer Gemeinschaft.

Obwohl der Film in der britischen Gesellschaft spielt, setzt sich "Yasmin" mit einem Thema auseinander, das alle Welt beunruhigt. Yasmin sucht mutig einen Weg, sich selbst treu zu bleiben - sowohl im Milieu der pakistanischen Immigranten wie in der westlichen Mehrheitsgesellschaft. Sie verkörpert die Erfahrung vieler Muslime, die nach dem 9. September den Anstoß zu einer Versöhnung mit ihrer kulturellen Erbschaft und ihrem Glauben erlebt haben. Der Konfrontation zwischen westlich-säkularer Kultur und radikalen islamischen Ideen stellt der Film die Suche nach Alternativen und persönlicher Identität entgegen. Auch die ästhetische Qualität des Films überzeugte die Templeton-Jury: griffig erzählt, bleibt die Geschichte zugleich vielschichtig und hintergründig.

 

Predigt

von Hans Werner Dannowski
zur Verleihung des 8. Europäischen Templeton Filmpreises an
„Yasmin“ von Kenny Glenaan
in der Matthäuskirche Berlin-Tiergarten
am 13. Februar 2005

 

Worte aus der Thora, der Bibel der jüdischen und dem Alten Testament der christlichen Gemeinde, und aus dem Hebräerbrief, einem späten Schreiben des Neuen Testaments der Christen, möchte ich mit den vielen Bildern aus dem Film „Yasmin" über die Erfahrungen von Muslimen zu einem vorsichtigen interreligiösen Diskurs zusammenstellen.

So lesen wir im Buch Leviticus, 3. Mose 19,12-14: "Vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen und die Alte ehren und sollst dich fürchten vor deinem Gott; ich bin der Herr.
Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der Herr, euer Gott."

Und der Hebräerbrief faßt seine Überlegungen über das wandernde Gottesvolk des alten und des neuen Bundes zusammen in den Satz von Hebräer 13,14: "Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir."

 

Liebe Gemeinde! Im Morgengrauen verlassen zwei Männer das Haus. Der Vater geht voran, der Sohn folgt zwei Meter hinter ihm. Keine zufällige Distanz ist das. Es ist ein Abstand der Achtung und der Ehrerbietung, die der Jüngere dem Älteren zollt. "Vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen". Eine patriarchale Familienstruktur ist das, die aus uralten Zeiten in unsere Zeit hineinragt. Fremd ist diese Kultur, wie zufällig hineingeweht in einen anderen Raum. Das Gotteshaus, auf das die beiden zugehen, die Moschee, ist dann auch kein prächtiger Bau, der dem Gegenstand der religiösen Verehrung angemessen wäre. Eine ehemalige Garage oder eine Werkshalle scheint das zu sein, zu der man erst ein Wellblechtor hochstemmen muß. Innen ist allerdings der Raum mit roten Gebetsteppichen sauber ausgelegt. Und dann steht der Junge vor dem Mikrophon, legt die Hände zum Offenbarungsempfang in die Ohren, und die Stimmen des Muezzin schallt über die Lautsprecher durch die Straßen und über die Häuser: „Allahu akbar“, „Gott ist größer“. „Lob sei Gott, dem Herrn der Welten dem Barmherzigen, dem Erbarmer, dem König des Gerichtstages". Seltsam, wie dieser muslimische Gebetsruf durch die Täler klingt, in denen man sonst nur das Läuten der Kirchenglocken kannte. Später wird man den Vater sehen, wie er Graffiti-Schmierereien vom Tor der Moschee wischt: „Paki go home".

So beginnt der Film „Yasmin" von Kenny Glenaan. Man ist sofort im Bilde. Da leben Menschen in einer Stadt, in der sie nicht wie selbstverständlich zu Hause sind. Die Stadt wird nicht genannt, in der die Geschichte spielt. Ein Industriegebiet ist das offensichtlich. In Keighley sollen viele Szenen gedreht sein, Yorkshire in Nordenengland ist das. Leeds und Manchester sind nicht weit. Überall eigentlich könnte die Geschichte spielen, in fast allen westlichen Mittel- und Großstädten wäre sie zu Hause. Etwa in Kreuzberg in Berlin. Türken hier, Inder und Pakistani dort. Hindus, Muslime. Hereingekommen sind sie in Länder, die eine christliche Geschichte von fast eineinhalb Tausend Jahren hinter sich und in sich haben. Gesuchte Arbeitskräfte zuerst, unerwünschte Immigranten später. Fremde so oder so. "Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Land, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer". Ein uraltes Problem scheint das zu sein. Lange kann man es verdrängen. Aber auf einmal wird dieses Thema beherrschend, bestimmt selbst die politischen Debatten und Entscheidungen. Diese totale Andersartigkeit, diese Fremdheit der Anderen, und das nur um die nächste Ecke.

Es ist diese Mischung von Fremdheit und Nähe in der Geschichte, die Kenny Glenaan in "Yasmin" erzählt, denke ich, die mich wachrüttelt. Fragen über Fragen überfallen mich mit den ersten Bildern dieses Films. Was weißt du eigentlich von dem allen? Wann warst du zum letzten Mal in einer Moschee, hast mit Menschen aus dem muslimischen Erfahrungs- und Lebensbereich gesprochen? Tausendfach wird sich diese Geschichte der Yasmin, diese Geschichte vom clash of civilisations, vom Zusammenprall der Kulturen, in deiner nächsten Nähe ereignen - was bekommst du davon mit? Gut abgeschirmt hast du dich in deinem Bekannten- und Freundeskreis, in der Kirchengemeinde, in deinem Wohnbezirk vor den Zerreißproben, in die der Aufprall von Fremdheit auf Fremdheit so viele Andere stellt. Die Erzieherinnen in den Kindergärten, die Lehrerinnen in den Grund- und Hauptschulen haben das stellvertretend auszuhalten. In welcher Welt lebst du eigentlich? Ich spüre Hilflosigkeit in mir wachsen.

Denn eine geradezu ungeheuerliche Zerreißprobe, die einen jungen Menschen in zwei Hälften teilen will: das ist die Welt, in der die Hauptperson der von Kenny Glenaan erzählten Geschichte, in der Yasmin lebt. Yasmin ist nicht nur eine hübsche, sie ist auch eine patente und selbstbewußte Frau. Schade, daß Archie Panjabi, die Darstellerin der Yasmin Hussein, bei diesem Gottesdienst nicht dabei sein kann, weil sie zur gleichen Zeit als Shooting Star 2005 nebenan im Berlinale Palast auf die Bühne muß. Da lebt Yasmin in der gewohnten Welt der häuslichen Atmosphäre. Der Zusammenhalt der Familie, für die sie kocht und sorgt, geht über alles. Da ist der fromme Vater, dessen Liebe streng ist und sich nach bewährten Mustern richtet. Auf den Tisch wird er irgendwann schlagen: "In this house you will show respect". Der schwachsinnige Cousin kommt hinzu, mit dem Yasmin zwangsverheiratet ist und der sie schließlich sogar vergewaltigen will. Und da ist jene so ganz andere Welt, die tagsüber Yasmins ganzen Einsatz fordert. In der sie als Sozialarbeiterin mit dem um zwei Kopf größeren, tolpatschigen Engländer und anderen Kolleginnen für behinderte Menschen sorgt. Zwei völlig verschiedene Identitäten sind das, in die sie sich jeweils hineinverwandelt. Als ich zum ersten Mal die wie ein Ritual wiederkehrende Szene des Kleiderwechsels auf freiem Feld sah, wie da Yasmin Kopftuch, Gewand und Schuhe ablegt und in die enge Jeanshose schlüpft und in die weit ausgeschnittene Bluse, Stöckelschuhe noch dazu: da habe ich gedacht, sie bereite sich auf ein Liebesabenteuer vor. Aber nein, so ungewöhnlich wie plausibel ist das. Daß da eine mit den Kleidern die Identitäten wechselt, und der Austausch der Identitäten sich auch in der äußeren Erscheinung zeigt.

Wie entsteht eigentlich Identität, wie wächst und verändert sie sich? Wie sind Sie und ich zu dem geworden, was wir sind? Kindheit, Erziehung, soziales Umfeld, Religion, politische Großwetterlage: alles wirkt mit bei der Ausbildung von Persönlichkeit. Ein langer und komplizierter Prozeß ist das in dem wir zu dem werden, was wir sind. Kenny Glenaans „Yasmin" bringt all das, wenn ich es recht verstehe, in eine anschaubare, in eine sinnliche Gestalt. Identität geschieht durch Blicke. "Yasmin“ ist ein Film der Blicke. Blicke, die an den Fenstern oder auf der Straße hinter einem herschauen, die mich im Lokal taxieren. Blicke sind es, mit Worten gekoppelt, die mich auf dieser Erde willkommen heißen, die mir sagen: Schön, daß es dich gibt. Blicke, die mir Zukunft öffnen und das Gefühl von Zugehörigkeit. Blicke aber sind es auch, die mich übersehen, die mich ausschließen, mir meine Fremdheit und Andersartigkeit bewußt machen. Gerade, weil meine Identität meine körperliche Erscheinung mit umfaßt, machen die Blicke deutlich, wie es um mich steht.

Und das ist die Krise in der dramatischen Geschichte, die „Yasmin" erzählt: es geschieht eine Veränderung der Blicke. Der 11. September 2001 ereignet sich, damit wird alles anders. Der Blick auf die zusammenstürzenden Wolkenkratzer der Twin Towers in New York läßt in einigen jüngeren Muslimen die Gewißheit wachsen, daß der "Moloch der Unterdrückung", um Osama Bin Laden zu zitieren, daß die USA besiegbar sind. Der jüngere Bruder der Yasmin wird als "guter Muslim", wie er sich ausdrückt, in einem Ausbildungslager der Al Khaida verschwinden. Und die muslimische Gemeinschaft in der nordenglischen Stadt gerät insgesamt in die Fänge der wie eine Seuche sich ausbreitenden Islamphobie. Absurde Durchsuchungs-, Verhaftungs- und Verhörmethoden greifen um sich. Gerüchte wandern. Die Blicke der Kolleginnen von Yasmin werden abweisend, irren umher, finden ihr Ziel nicht mehr. Und auch der Kollege von Yasmin, der fast ihr Freund geworden wäre, zieht sich vorsichtig zurück.

Ich kann und will die weiteren Szenen des Filmes Ihnen nicht erzählen. Einige haben „Yasmin" heute nachmittag gesehen. Andere werden hoffentlich bald die Gelegenheit dazu haben. Nur ein Bild fast am Schluß will ich Ihnen noch mit Worten vor Augen stellen, um daran auch zu buchstabieren, was dieser Film für uns im christlichen Kontext bedeuten könnte. Da hat der Vater den kurzen Brief seines Sohns gelesen, daß dieser nach Afghanistan und Palästina abgereist ist. Hilflos wirkt der untersetzte Mann. "I am growing old, Yasmin", sagt er. Ich werde alt, ich verstehe die Welt nicht mehr. Die Tochter geht langsam auf ihn zu, umarmt ihn leise, zärtlich. Zuneigung liegt darin, aber auch Distanz, wie ich meine. Zwei Generationen, die zusammengehören und doch getrennte Erfahrungen machen.

Vilem Flusser, der jüdische Philosoph, hat für seine eigene Identitätserfahrung eine Unterscheidung eingeführt, die auch auf andere Religionsgemeinschaften, wie ich denke, übertragbar ist. Es gibt Juden, sagt er, die durch den Blick anderer Juden zu Juden werden, und Juden, die durch den Blick von Nicht-Juden zu Juden werden. Das unterscheide die integrierten von den assimilierten Juden. Um es auf unseren Film zu übertragen: Der Vater hat offensichtlich seine Identität als Muslim durch den Blick von anderen Muslimen, durch deren Tradition und Umgang gewonnen. Die besten Seiten des Islam verkörpert er: fromm, kompromißlos fromm und eine Kraft des Friedens ist sein Glaube für ihn. Haß gebiert nur neuen Haß, und Krieg und Terror nur neues Leid. Zumindest darin ist Yasmin mit dem Vater einig.

Den Segen, den der in den revolutionären Kampf ziehende Bruder von ihr erbittet, den verweigert sie. Aber nicht durch den Blick anderer Muslime, durch den Blick der Nicht-Muslime ist sie zur Muslima geworden. Sie, die fünf Jahre lang nicht zur Moschee gegangen ist, wird jetzt wieder dorthin gehen. Aber sie wird auch wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, vermute ich, und wird den Blicken der Anderen standzuhalten versuchen, bis sich die Haltung der Kolleginnen und Kollegen vielleicht doch wieder ändert.

Und welche Konsequenzen ziehen mir durch den Kopf für Sie und mich, die wir überwiegend in einem christlichen Milieu aufgewachsen und beheimatet sind? Durch die Blicke und Erfahrungn von Christen bin ich zu einem Christ geworden. Bei vielen von Ihnen wird das sicher ähnlich sein. Wäre es nicht an der Zeit, sogar hoch an der Zeit, die eigene Identität als Christ nicht als geschlossenes System, sondern unter den Blicken von Nicht-Christen, unter den Blicken von Muslimen hier bei uns vor allem neu zu definieren?! Das wechselseitige Übersehen und Beiseitesehen hätte dann ein Ende. Die Differenzen wären sicher nicht beseitigt, wenn sich Christen und Muslime wirklich in die Augen sehen. Sie würden vielleicht sogar noch wachsen. Aber anders umgehen, anders leben würden wir miteinander. Als Hausheren fühlen wir uns, die wir in den westlichen Ländern von Urzeiten an zu Hause sind, als manchmal großzügige und manchmal kleinliche Gastgeber, die den Anderen, den Fremden, ein „hoffentlich“ vorübergehendes Gastrecht gewähren. Aber seid ihr nicht auch einst Fremdlinge in Ägyptenland gewesen, fragt die jüdische Thora. Ist nicht das Christentum im Innersten geprägt durch seine Differenz zwischen, woraus Menschen im Glauben leben, und der Realität, die sie umgibt? Das Kontrafaktische, das Visionäre gehört doch immer mit dazu! "Wir haben hier keine bleibende Stadt", formuliert der Hebräerbrief, "sondern die zukünftige suchen wir“. Damals waren die Christen noch unterwegs. Sind wir es nicht noch immer?! Nein, nicht Gastgeber, Gäste des Lebens sind wir alle, Gäste Gottes auf dieser wunderbaren Erde. Gäste im geteilten Wunder dieses Lebens: das ist für mich die Identitätsdefinition des Christseins unter den Blicken der Andern. Die Rede von der „deutschen Leitkultur" oder den „christlichen Grundwerten" wird mir dann nicht mehr so schnell über die Lippen kommen. Natürlich muß man sich als verschiedene Gäste untereinander verständigen. Muß den sorgsamen Umgang miteinander lernen, diese flüsternde Feinfühligkeit, die die Wahrheit nicht schon durch den lauten Auftritt vertreibt.

So vieles wäre noch zu sagen und zu bedenken. Der Film „Yasmin" wird uns weiter beschäftigen, hoffe ich. Und so danke ich unserer Jury für diese Wahl und Kenny Glenaan für seinen wundervollen Film. Und schließe meine Predigt mit der Hoffnung auf eine Zukunft des intensiven Blickwechsels, und sage darum

Amen.