Festivalbericht von Andreas Engelschalk

Auch in diesem Jahr lud das Golden Apricot FilmFestival eine Ökumenische Jury ein, einen Film aus einer vom Festival vorgeschlagenen Vorauswahl von zehn Filmen aus verschiedenen offiziellen Sektionen zu prämieren. Die Jury setzte sich aus Magali van Reeth(Frankreich) für SIGNIS, Vater Gevorg Saroyan von der Armenisch Apostolischen Kirche (Yerevan) und Pfarrer Andreas Engelschalk (Deutschland) von INTERFILM zusammen.

Das Sichtungsprogramm begann mit Nader und Simin. Eine Trennung (Iran 2010) von Asghar Farhadi, der schon Berlin den Goldenen Bären und den Preis der Ökumenischen Jury gewonnen hatte. Anschließend sahen wir Europolis (Rumänien/ Frankreich 2010) von Cornel Gheorghita. Beide Filme liefen auch im Wettbewerb.

Am nächsten Tag standen zwei Filme aus der Kategorie "Directors across Borders" auf dem Programm: City of the Scattered  (Türkei 2011) von Uygar Asan und When we leave/ Die Fremde (Deutschland 2010) von Feo Aladag. Den türkischen Film empfanden wir einstimmig als den schwächsten in der Auswahl und der zweite Film stieß auf ein geteiltes Echo: Wir schätzten die starke schauspielerische Leistung von Sibel Kekilli in der Titelrolle, zugleich aber wurde  die undifferenzierte negative Darstellung der türkischen Familie kritisiert. Die Regisseurin zeige zu wenig Respekt vor der türkischen Community in Deutschland.

Wie unterschiedlich die Wahrnehmungen von Filmen sein können, zeigte sich am Abend bei der Premiere des Filmes Here (USA 2010) von Braden King. Der Film zeigt die Liebesgeschichte zwischen Gagarine, einer aus Frankreich nach Eriwan zurück gekehrten armenischen Fotografin, und Will, einem amerikanischen Ingenieur, der Satellitenkarten anfertigt. Der Film feiert das Land Armenien und seine Bewohner und fiel dennoch bei den meisten einheimischen Zuschauerinnen und Zuschauern durch. Die Hauptdarstellerin (immerhin Lubna Azabal) könne kein Armenisch und es seien zu viele unnötige Fehler im Film, aber ansonsten sei es eine schöne Liebesgeschichte, wurde moniert Mit dem Thema armenischer Abstammung setzt sich auch der deutsche Film Anduni – fremde Heimat von Samira Radsi (2010) auseinander. Die armenische Studentin Belinda stürzt nach dem Tod ihres Vaters in eine Krise und sucht gemeinsam mit ihrem Onkel nach ihren Wurzeln in Armenien. Sehr humorvoll schildert der Film das Leben der (west-) armenischen Minderheit in Köln.

In unserem Sichtungsprogramm folgten die Filme Steel Gates (Armenien 2010) von Armen Khachatryan aus der Kategorie "Documentary Films" und aus der Kategorie "Cinema oft he CIS Countries" (Kino der GUS-Staaten) The Light Thief (Der Dieb des Lichts, Frankreich/Deutschland/Niederlande 2010) von Aktan Arym Kubat. Letzterer hatte schon einen SIGNIS-Preis für seinen Film bekommen, aber wir nutzten die Gelegenheit, ihm zu seinem Film zu gratulieren.

Die Besonderheit des Golden Apricot ist die unmittelbare Nähe von Hotels und Spielstätten und die vielen verschiedenen Empfänge am Abend. Häufig sieht man sich vor die Entscheidung gestellt: Film oder Empfang. Aber so entsteht innerhalb kurzer Zeit eine sehr familiäre Atmosphäre, in der ungewöhnliche Begegnungen möglich sind. Dieser Abend stellt uns vor die Alternative, den neuen Film Melancholia (Dänemark, Schweden, Frankreich, Deutschland 2011) von Lars von Trier zu sehen oder den Empfang des Bürgermeisters von Eriwan zu besuchen. In diesem Fall gewann das Kino und wir waren beeindruckt von der Schönheit der Bilder und der schrecklichen Konsequenz, mit der Lars von Trier seine Geschichte vom Weltuntergang zu Ende erzählt.

Mit gedämpften Erwartungen sahen wir uns The Daughter-in-Law (Kasachstan 2009) von Yermek Tursunov an, denn im Programm stand "without words" - was sollte das sein, ein moderner Stummfilm? Tursunow nahm uns mit in eine archaische Welt in die Berge des Himalaya. Zwei Junge Männer feilschen mit dem Vater eines Mädchens um seine Tochter. Der Reiche nimmt sie mit in seine Jurte; der Arme, den sie liebt, muss geschlagen das Feld verlassen. Es entspinnt sich eine Geschichte von Mord, Eifersucht und Rache, die nur Schwiegermutter und Schwiegertochter überleben. Die Tonspur wimmelt von Geräuschen, aber die Worte fehlen, doch wir haben sie auch nicht vermisst.

Ein erfolgreicher, in Kalifornien lebender armenischer Geschäftsmann heiratet in Eriwan die junge Mani, die ihm aber verschwiegen hat, dass sie bereits eine Tochter aus erster Ehe hat. Zu seiner Familie gehört noch ein alter Vater, der im Altenheim lebt und keine Gelegenheit ungenutzt lässt, in amerikanischen Medien auf den Genozid an den in der Türkei lebenden Armeniern 1915 hinzu weisen. Sein Enkel hat aber nichts anderes als seine Freundin im Kopf. Aus diesen Figuren stricken die Regisseure Artak Igityan, Vahan Stepanyan in Sunrise over Lake Van (Armenia 2011) ihre Geschichte. Dabei schwankt der Film zwischen Komödie und Tragödie und kann sich nicht entscheiden.

Die letzten beiden Filme im Programm der Ökumenischen Jury liefen in der Kategorie "Directors across Borders". In Mandoo (Irak 2010) von Ebrahim Saeedi begleiten wir eine kurdische Familie auf ihrer Flucht durch den Irak an die iranische Grenze im Jahr 2004. Die Kamera sind die Augen des alten und pflegebedürftigen Großvaters, der nach einem Schlaganfall nicht mehr sprechen kann. Sheelan, die Kusine, versucht, die Familie zur Ausreise nach Schweden zu überreden, wo sie die letzten 20 Jahre gelebt und Medizin studiert hat. Doch sie verlassen das Dorf, in dem sie Schutz gefunden haben, und fahren mit einem Van die gefährliche Piste zur iranischen Grenze. Dort begegnen sie freundlichen und feindlichen Soldaten, geraten in ein Minenfeld, und kurz vor der Grenze verlässt die Kusine die Familie, um in einem Flüchtlingslager als Medizinerin mit zu arbeiten.

In Somersault Without Wings (Türkei 2010) von Savas Baykal findet der zehnjährige Okan auf der Müllkippe seiner Eltern am Stadtrand von Ankara eine Gitarre und träumt davon, mit seinen Freunden in einem Talentwettbewerb im TV aufzutreten und richtig berühmt zu werden. Doch seine Träume scheitern an der Realität seiner Umgebung.

Neben diesen zehn Filmen lief ein gut besetzter Internationaler Wettbewerb, es gab Yerevan-Premieren, die Gewinner von anderen Festivals zeigten (z.B. The Tree of Live von Terrence Malick; Melancholia von Lars von Trier; Once upon a Time in Anatolia von Nuri Bilge Ceylan, um nur einige zu nennen), Retrospektiven wie z.B. "Risorgimento 150" mit Klassikern des Neorealismus, Filme von Bertrand Tavernier, Béla Tarr, Roman Balayan.

Das Festival begann mit dem Eröffnungsfilm Certified Copy (Frankreich/Italien 2010) von Abbas Kiarostami und endete mit Pina (Deutschland/ Frankreich 2010) von Wim Wenders.

Die Schlusszeremonie selbst hätte großes Kino sein können, aber ein Gewitter hatte für einen zweimaligen Stromausfall während der Vorführung gesorgt. Anschließend wurden alle Gäste mit Bussen in den „Latar-Komplex“ gefahren, einem Luxushotel außerhalb von Eriwan. Dort angekommen regnete es immer wieder, die Zeremonie sollte aber draußen stattfinden. Kurzerhand bot die Festivalleitung allen Gästen knallgelbe Plastikregenmäntel an, die zu Beginn der Veranstaltung von allen ca. 500 Gäste über ihrer Abendgarderobe getragen wurden , auch von der Ökumenische Jury (siehe Foto). Als der Regen nachließ, öffnete sich der Horizont und hinter der Bühne zeigten sich deutlich die Umrisse des Ararat in der untergehenden Sonne. Großes Kino bis zum Schluss.

Die Ökumenische Jury bei der Abschlusszeremonie, v.l.: Andreas Engelschalk, Magali van Reeth, Gevorg Saroyan