Als die Kakis reiften
„Es ist ein Film über meine Familie“, schreibt der aserbaidschanische Regisseur Hilal Baydarov in einer Zusammenfassung über Xurmalar Yetişən Vaxt, der auf Englisch When the Persimmons Grew heißt und im April 2019 auf dem 50. Filmfestival „Visions du Réel“ in Nyon Weltpremiere feierte ‒ und sowohl mit einer Lobenden Erwähnung der internationalen Jury als auch mit dem Preis der Interreligiösen Jury ausgezeichnet wurde. „Es geht um das Dorf, in dem wir leben. Es gibt keine strenge Handlung: Jeden Sommer kommen die Menschen zusammen, verbringen Zeit miteinander und verlassen das Dorf, wenn es Herbst wird und die Kakis reifen. Meine Mutter lebt immer allein und es ist ein Film hauptsächlich über sie und ihre Söhne, meinen Bruder und mich“, fügt der 1987 in Baku geborene Baydarov hinzu.
Tatsächlich ist das der Kern von Baydarovs autobiografischem Film. Doch es kommt noch eine Menge hinzu – was Xurmalar Yetişən Vaxt schließlich zu einem Meisterwerk macht. Der Film zeigt den äußerlich beinahe vollkommen ereignislosen Alltag seiner Mutter in einem abgelegenen Dorf hoch in den Bergen im Norden Aserbaidschans nahe der Grenze zu Georgien und Russland. Die Berge sind von Nebeln umgeben, die Natur ist grün gesättigt. Wir sehen die Mutter auf den immer gleichen Waldwegen spazieren, hören die Vögel zwitschern, das Wasser in Flüssen, Bächen und Rinnsalen fließen. Die Mutter beobachtet ihre Umgebung, macht sich daheim Tee und blickt stumm aus dunklen Räumen und Fenstern hinaus. Die Fenster sind meist schmal und bilden den Rahmen für die helle Natur draußen. Einige haben auch Eisengitter, so dass sich ein Gefühl des Ab- oder Eingeschlossenseins nicht unterdrücken lässt.
In diesen Alltag integriert sind verschiedenartige Rückblenden. Wir sehen die Mutter mit ihren beiden Söhnen, zu der Zeit, als sie Kinder von etwa zehn oder zwölf Jahren sind. Dann sehen wir die Mutter eine ältere, im Bett liegende Frau pflegen, wahrscheinlich ihre eigene Mutter, die wohl verstorben ist, weil sie ansonsten nicht vorkommt. Die Montage wird um Szenen aus einem Zug erweitert, in dem sich die erwachsenen Söhne auf Reise befinden, scheinbar auf dem Weg zu ihrer Mutter. Stumm liegen sie auf ihren Plätzen, blicken ziellos hinaus oder schlafen. Der Zug und seine Schnelligkeit kontrastieren mit den aus der Zeit gefallenen Menschen im Dorf der Mutter und ihrer Langsamkeit. Mehrfach geht sie zu den Schienen, wartet auf einen Zug, der doch nicht stehenbleibt, unterhält sich mit den Hirten, die ihre Schafe in der Nähe hüten, und setzt ihren Spaziergang fort.
Es sind lange und ruhige Einstellungen, Landschaftsbilder und Momentaufnahmen, die alltäglich, präzise und poetisch sind und die Zuschauer in den Bann ziehen können: Einfallendes Licht, das die schnellen und sanften Bewegungen von Staubpartikeln sichtbar macht – aufsteigender Rauch einer Zigarette, der sich mit der Luft vermischt – brennendes Holz in einem Ofen – gereifte Kakis, die sich drehend auf einer Terrasse herunterhängen.
Es lassen sich zahlreiche Anspielungen auf den Film Nabat (2014) von Baydarovs 1966 geborenem Landsmann Elchin Musaoglu finden, aber auch Anklänge an Andrej Tarkowski und Robert Bresson. Ebenfalls zu entdecken sind Parallelen zur Arbeitsweise und zu den Stoffen des iranischen Regisseurs Sohrab Shahid Saless – insbesondere zu seinem Film Tabiate bijan (Stilleben, 1974). Auch Saless setzt lange, ruhige Einstellungen, wenige Dialoge und Laiendarsteller ein, um das harte, entbehrungsreiche Leben von Menschen in der iranischen Provinz während der Schah-Zeit zu zeigen und damit einen Kontrapunkt zum verwestlichten, temporeichen Großstadtleben zu setzen.
In Xurmalar Yetişən Vaxt wird die Stille unterbrochen durch die Gespräche des Regisseurs mit der Mutter. Es bleiben allerdings Versuche, da die Mutter auf seine mitunter kritischen Äußerungen nicht eingeht. Es kommt zu intimen, konfliktreichen, aber auch fröhlichen, ausgelassenen Momenten, in denen das Leben von wenig begüterten Menschen dem der Reichen gegenübergestellt – und als glücklicher bewertet wird. Dieser Aussage kontrastiert jedoch wiederum die Stummheit und Passivität der Menschen auf dem Land, ihr von der Natur vorgegebenes, beschwerliches Leben. Dreimal, und damit vielleicht einmal zu oft, zeigt uns die Kamera einen aufgeklappten Spiegel an der Wand, auf dem in kyrillischer Schrift „Sei glücklich“ steht. Ebenfalls an der Wand sehen wir alte, gerahmte Schwarzweißfotos hängen. Fotos von Männern, wohl auch des Ehemannes und Vaters der Söhne. Ist sein Fehlen der Grund für das große Schweigen?
Die Stärke von Baydarovs Xurmalar Yetişən Vaxt liegt in der emphatischen Darstellung einer trotz aller Erschwernisse und Einsamkeit in sich ruhenden Mutter, die Gedanken wie Schmerzen lieber für sich behält. Die traurigen Gesichter, die wenigen Worte, das Betrachten der äußeren Welt durch vergitterte Fenster können freilich auch Anspielungen auf die außen- wie innenpolitische Situation in Aserbaidschan und der Region sein. Im Norden an Russland, im Süden an den Iran und im Westen an Armenien grenzend, das zwanzig Prozent des aserbaidschanischen Territoriums besetzt hält, liegt das ölreiche Land isoliert im Kaukasus. Die Entwicklung einer stabilen Demokratie im Inneren wird auch dadurch nicht gefördert. Kritik an den Zuständen im Land ist in einer solchen spannungsgeladenen Atmosphäre daher auch nur eingeschränkt möglich.
Raum für verschiedene Interpretationen anzubieten – das ist eine weitere Stärke von Xurmalar Yetişən Vaxt. Er erlaubt den Zuschauern, ja zwingt sie regelrecht, sich eigene Gedanken zu machen, sich in die Figuren zu versetzen und dadurch den Film für sich selbst auszuloten. Dabei hält der Regisseur die Zuschauer auch darüber im Ungewissen, in welche Gattung dieser Film eigentlich gehört, weil die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion nicht eindeutig zu fixieren ist. Und noch ein dritter Aspekt macht Xurmalar Yetişən Vaxt zu einem cineastischen Erlebnis: Die Bilder, die Baydarov darin eingefangen hat, wirken wie Stilleben, mit leuchtenden, kontrastreichen Farben. In ihnen gelingt es dem Regisseur, das Vergehen von Leben in der Zeit vor Augen zu führen – am Eindrücklichsten, wenn Männer aus dem Dorf ein Rind schlachten und wir sehen, wie später noch Muskeln im herunterhängenden Fleisch zucken.