Worüber ein Jurymitglied in der Regel nicht schreibt.

Gut 150 Filme in zehn Tagen – als Mitglied der Oekumenischen Jury bei der diesjährigen „Berlinale“ braucht man sich um seine tägliche Überforderung keine Sorgen zu machen. Selbst wenn sich die Jurymitglieder, wie in unserem Falle geschehen, dafür entscheiden, gemeinsam den Wettbewerb zu begutachten und sich für die beiden Sektionen „Panorama“ und „Forum des jungen Films“ aufzuteilen, bleibt ein kaum zu bewältigendes Pensum. Um am Ende dennoch zu einem seriösen und mehrheitsfähigen Entscheid zu gelangen, muss man deshalb nicht nur ständig ins Kino gehen, sondern auch diskutieren, wann immer der Projektor still steht. Juryarbeit ist zu einem grossen Teil Kommunikationsarbeit: „Diesen Film habe ich gesehen, der könnte was für uns sein, geht wenn möglich auch hin; diesen fand ich schrecklich, den müsst ihr euch nicht antun; war ganz nett...“

In den ersten Tagen besuchte ich fieberhaft jede sich bietende Vorstellung, aus Angst, ich könnte den Preisträger verpassen; später atmete ich auf, weil sich wider erwarten bereits einige Kandidaten abzeichneten; schliesslich hoffte ich vergeblich auf das eine, alles in den Schatten stellende Meisterwerk. Was natürlich so gut wie nie geschieht, weil Meisterwerke erstens rarer sind als Filmfestspiele und zweitens sich meistens erst Jahre nach ihrer Uraufführung als Klassiker entpuppen. Nach der Hälfte der Festspiele waren einige Filme im Rennen, die man in der Jury ausführlich diskutieren wollte und musste, wobei ein ausgeglichener Wettbewerb wie in diesem Jahr fast noch schwieriger zu beurteilen ist als ein ganz schwacher. Viele preiswürdige Filme, aber keiner, für den man auf die Barrikaden steigt. Schwierig haben es dabei vor allem die leisen Filme, weil sie vom Festivalgetöse rasant überlagert werden. >Heaven< von Tom Tykwer und >July Rhapsody< von Ann Hui beispielsweise waren schon von der Liste verschwunden, bevor sie ihren Zauber allmählich entfalten konnten.

Und dann sitzt man schliesslich in der Schlussrunde, bei der die Entscheidung fällt. Soll ich >Heaven< wieder ins Gespräch bringen und – entgegen den gemeinsam vereinbarten Regeln – meine Kolleginnen und Kollegen mit der Wiederaufnahme einer abgeschossenen Diskussion nerven? Oder halte ich still, in der hoffnungsvollen, aber auch etwas bequemen Erwartung, dass dieser Film doch wohl bei den „Bären“ kaum leer ausgehen wird? Ich entschloss mich für die Zurückhaltung, wohl auch, weil sich allmählich etwas Festivalmüdigkeit breit machte. Dann aber entbrannte doch noch eine heftige Diskussion, allerdings um einen Film, bei dem das niemand erwartet hätte. Mit einem Male weicht die harmonische Stimmung der letzten Tage einem anregenden Streitgespräch um Filmsprache und –inhalt, presst jeder den letzten Rest seiner Englischkenntnisse aus sich heraus, um mit seinen Argumenten in die Diskussion einzugreifen. Obwohl der umstrittene Film das Rennen am Schluss doch nicht macht, tun Diskussionen wie diese einer Jury, aber auch den Preisträgern gut, weil sie ein lebendiger Beweis dafür sind, dass sie sich die Arbeit nicht zu leicht gemacht hat. Dann ist ziemlich abrupt Schluss: Der vermeintliche Aussenseiter, den wir auszeichneten, gewinnt überraschend den „Goldenen Bären; >The Great Dictator< machte mich glücklich, auch weil mir die Entscheidung „Meisterwerk oder Schrott“ schon abgenommen war; ich gehe mit mir ins Gericht, weil ich nur einen lahmen Fight für >Heaven< geliefert habe; und träume davon, einen Sonderpreis für den wohltuendsten Festivaltrend vergeben zu dürfen: für ein Kino, das sich von seiner menschenfreundlichen Seite gezeigt hat.

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