Cannes 2023/7
Als Special Screening lief heute Le théorême de Marguerite von Anna Novion. Nach einem konventionell inszenierten Beginn – ein junges Mädchen, ein mathematisches Genie, das naturgemäß ungeschminkt, ungesellig und widerspenstig gegenüber jeder Verführung ist – tauchen wir lustvoll ein in ein Labyrinth der Besessenheit. Marguerite, die von ihrem Vater verlassen wurde, glaubt, in ihrem Doktorvater einen Ersatz gefunden zu haben. Aber dieser lässt sie aus egoistischem Karrierismus fallen. Durch den Umweg über ein Spiel gelingt es ihr, aus dieser Position wieder herauszufinden.
Die Geschichte veranschaulicht perfekt, was der Wissenschaftsphilosoph Karl Popper in seinen Schriften entwickelt hat, nämlich dass die Lösung eines komplexen Problems von außerhalb des Systems kommen muss. Nicht Unbekanntes auf Bekanntes zurückzuführen, sondern im Gegenteil, eine überraschende Vermutung zu wagen. Alle Facetten des Wissenschaftlers, auch die irrationalsten, nehmen an diesem kreativen Prozess teil. Der Film übersetzt dieses Muster in eine Romanze, die es Marguerite ermöglicht, sich selbst zu verwirklichen, ihre Weiblichkeit mit ihrer Leidenschaft in Einklang zu bringen (mit einem Happy End, das auch wieder konventionell ist) – und der Professor (Jean-Pierre Darroussin) kann nur applaudieren.
Un Certain Regard zeigte den schönen fiktionalen Dokumentarfilm Crowrã (Le fleur de Buriti) von João Salaviza und Renée Nader Messora, der uns in das Milieu der brasilianischen Krahô führt. Drei Epochen werden aufgerufen, um ihre Geschichte zu erzählen. 1940 verüben Bauern, die ihr Land rauben wollen, ein Massaker; 1964 müssen sie sich gegen die Militärdiktatur behaupten; im heutigen Brasilien schließlich kämpfen sie wieder um die Anerkennung ihrer Kultur und den Erhalt ihres Landes. Die üppige Natur bilden den Rahmen für poetische Geschichten, die von den Vorfahren erzählen, parallel zu den ganz unmittelbaren Sorgen dieses Volkes zwischen Tradition und Moderne. Zwischen Schamanismus und politischen Forderungen ist der Weg schmal und sicherlich noch nicht abgeschlossen.
Ebenfalls in Un Certain Regard lief Terrestrial Verses (Originaltitel: Ayeh Haye Zamini) von Ali Asgari und Alireza Khatami (nach Khatamis Oblivion Verses von 2012). Inspiriert von einer überlieferten Form iranischer Poesie stellen sie zwei Charaktere gegenüber, die philosophische oder gesellschaftliche Probleme zugleich gedankenreich und humorvoll diskutieren. Der Film inszeniert sehr bodenständige Situationen (daher der Titel) aus dem Leben „kleiner Leute“, die zu einer Folge von neun Erzählungen zusammengefügt sind. Mit subtilem Humor unterstreichen sie, was die Regisseure vor der Vorführung sagten: Nichts könne die Absurdität der Tyrannei besser demonstrieren als Lachen.