Cannes 2024 (3)
Sex and Oligarchs
Eine Striptänzerin und Sexarbeiterin in Brooklyn lernt einen steinreichen jungen Russen kennen und heiratet ihn in Las Vegas. Seine Oligarchen-Eltern sind von dieser peinlichen Liaison überhaupt nicht begeistert und bestehen darauf, dass die Heirat annulliert wird.
Der 43jährige Sean Baker gehört zu den Stars der amerikanischen Independent-Szene. Als Regisseur und Autor ist er enorm produktiv. Vor drei Jahren war er mit „Red Rocket“ zum ersten Mal in den Wettbewerb von Cannes eingeladen. Sein neues Werk „Anora“, das bei der Premiere als Geheimtipp für die Goldene Palme gefeiert wurde, ist schon sein achter Film.
Sex und Prekariat sind die zentralen Themen in den Filmen von Sean Baker. „Sex ist überall, wir leben […] in einer exhibitionistischen Gesellschaft, die es vermeidet, über ihre Obsession zu sprechen“, sagte der Regisseur in einem Interview. In der Pressekonferenz forderte er mehr Respekt für Sexworker, deren Arbeit nicht mehr kriminalisiert werden solle. Zur #MeToo-Debatte meinte er, dass er mittlerweile zehn Sexszenen in seinen Filmen gedreht und auch ohne einen Intimacy Consultant immer darauf geachtet habe, dass es seinen Darstellern gut geht. Seine Hauptdarstellerin Mikey Madison fühlte sich unter all den nackten Frauen im Sexclub ganz wohl. „Die Nacktheit war kurioserweise wie ein Kostüm für mich.“
Die Titelfigur Anora (Mikey Madison), die sich lieber Ani nennt, weil sie ihren usbekischen Namen nicht mag, arbeitet in einem New Yorker Sexclub. Dort lernt sie Vanya (Mark Eydelshteyn) kennen, der sie zuerst als Escort für eine Woche bucht, um dann mit ihr nach Las Vegas zu fliegen, wo die beiden heiraten. Ein Leben im Luxus scheint auf sie zu warten, bis plötzlich zwei rabiate Russen auftauchen, die Vanya im Auftrag des armenischen Priesters Taros (Karren Karagulian) zu seinen Eltern zurückbringen sollen. Als Vanya entwischt, nehmen die beiden Ani in die Mangel. Bei einer wilden Schlägerei geht die Einrichtung des Luxusappartements zu Bruch, was für wunderbaren Slapstick sorgt. Ohnehin hält der Film eine gelungene Balance zwischen Komik und Drama und entwirft dabei ein breites Panorama der postsowjetischen Community in New York, vom reichen Oligarchensohn über den armenischen Geistlichen und seine Männer fürs Grobe bis hin zu der Sexarbeiterin Ani, die ihre russisch-usbekische Herkunft möglichst herunterspielt. Um das Milieu authentisch wiederzugeben, hatte Sean Baker einen russisch sprechenden Berater engagiert, um die Dialoge sprachlich präzise zu pointieren.
Zuerst als wortkarge Nebenfigur eingeführt, gewinnt die Figur des russischen tough guy Igor zunehmend zartere Konturen. Großartig inszeniert von Sean Baker und gespielt von Juri Borissow, der vor drei Jahren in dem finnischen Film „Compartment No. 6“ in Cannes Furore machte. Mikey Madison als Ani zeigt eine derart eindrucksvolle Präsenz, dass sie als Kandidatin für den Darstellerpreis gehandelt wird, während „Anora“ zum Favoriten der Kritiker avanciert.
Vom Punk zum Faschisten
Während Sean Bakers Film das russische Milieu im Amerika von heute zeigt, geht das Biopic von Kirill Serebrennikov zurück in die 1970er Jahre, als sich russische Emigranten in Amerika noch fremder fühlten. Der Dichter und Schriftsteller Edward Limonov wird 1974 aus der Sowjet-Union ausgewiesen und landet in New York. Serebrennikov, der mit seinen Theater-, Oper- und Filminszenierungen bekannt geworden ist, hat das Leben Limonovs mit dem Engländer Ben Whishaw in der Hauptrolle inszeniert. Das war keine gute Entscheidung, denn „Limonov: The Ballad“ leidet darunter, dass alle, auch die russischen Schauspieler, Englisch mit russischem Akzent sprechen. Ein Kalkül, das die Chancen einer internationalen Vermarktung verbessern soll, dem Film aber alle Authentizität raubt. Die Konstruktion ist ähnlich absurd wie bei Ridley Scotts „Gucci“-Saga und Michael Manns „Ferrari“-Portrait.
Der französische Starautor Emmanuel Carrère hatte 2011 ein biographisches Werk über Limonov veröffentlicht, das der polnische Regisseur Pawel Pawlikowski als Drehbuch adaptierte. Ursprünglich wollte Pawlikowski selbst Regie führe, verlor dann aber das Interesse an der Figur von Limonov. Das man gut nachvollziehen, denn es ist ein wenig sympathischer Charakter. Limonov stammt aus Russland und wächst in Charkiw auf. Wir sehen seine Anfänge als junger Dichter in der Ukraine, erste literarische Bekanntheit in Moskau und die Übersiedlung mit seiner Frau Jelena nach New York Anfang der 1974.
Limonov gefällt sich in der Pose des zornigen Rebellen, der alles in die Luft jagen möchte, für andere Autoren nur Verachtung übrighat und sich selbst für den größten russischen Poeten hält. In New York angekommen, feiert er ein Leben in Freiheit und Abenteuer, stylt sich mit langen Haaren und Sonnenbrille als Jim Morrison-Kopie. Bald muss er feststellen, dass in den USA niemand auf ihn gewartet hat. Limonovs Reaktion schwankt zwischen Größenwahn und Selbstmitleid. Er geht nach Frankreich, wo sein in New York geschriebener Roman „It’s Me, Eddie“ (Dt.: „Fuck off, Amerika“) einen Verlag findet und ein Bestseller wird. 1991 kehrt er nach Russland zurück, wo er die „Nationalbolschewistische Partei“ gründet, eine rechtsradikale Skinhead-Truppe mit einer ausgeprägten Neigung zu Gewalt. Limonov wird verurteilt und nach zwei Jahren im Gefängnis bei seiner Entlassung als Held gefeiert.
Während die Jahre in New York in extenso ausgebreitet werden, bleibt für die Zeit in Russland und die Verwandlung vom Punkliteraten zum Ultranationalisten nicht mehr viel Zeit. Der Rest muss im Abspann erklärt werden. Eine vertane Chance, denn Limonov hat die Saat eines aggressiven russischen Nationalismus gelegt, von dem auch Putin profitiert.
Beide Filme verbindet ein Gefühl der Fremdheit, das die russischen Emigranten in Amerika spüren. Dabei sind sie hin- und hergerissen zwischen einerseits dem Traum vom American Way of Life und andererseits der Sehnsucht nach der Heimat in Russland.