Manchmal ist es gut, etwas nicht zu wissen, sondern eine Wissenslücke als Ort zu begreifen, als Raum, den man betritt, um sich zu verändern. Schon die Unterschiede bei der Übersetzung des Titels von Wang Xiaoshuais Film Chuangru Zhe geben zu verstehen, dass das Programm des 71. Wettbewerbs der Mostra Internazionale DÁrte Cinematografica la Biennale di Venezia 2014 in diesem Sinne Mut zur Lücke macht. Sicher klärt sich der Titel des chinesischen Wettbewerbsbeitrags rasch für jene, die Chinesisch sprechen. Doch für alle, die gekommen sind, um sich vertrauten und unvertrauten Zuständen und Vorstellungen auszusetzen, offenbart der chinesische Filmtitel eine vielsagende Kluft. Im englischsprachigen Teil des Festivalkatalogs wird er mit Red Amnesia übersetzt, im italienischen mit Gli Intrusi (Die Eindringlinge).
„Rote Amnesie“, das legt nahe, was die etwa siebzigjährige Witwe Deng in Wang Xiaoshuais Film verkörpert, derweil sie ihre Söhne tyrannisiert. Nichts können die beiden erwachsenen Männer in ihren Augen, weder Suppe kochen noch ein Kind großziehen. Unentwegt sucht die Witwe das Rezept, das die Geister der Moderne vertreibt. Wenn die Fleischklößchen nur richtig heiß sind, wird der jüngere Sohn schon erkennen, dass er nicht homosexuell ist, und der ältere seine emanzipierte Frau verstoßen. Doch hinter dem Berg von Speisen, der die junge Generation zu begraben droht, verbirgt sich der Hunger der Alten. Die Eindringlinge, die die italienische Übersetzung des Titels betonen, sie sind schon lange da gewesen. Sie haben, wie es der Regisseur im Katalog formuliert, die Chinesen von 1949 bis heute einer Gehirnwäsche unterworfen. Sie haben die Seele verfeuert und das Gefühl gefressen. Als Witwe ist die Kommunistin Deng funktionslos. Nur wenn sie andere bekocht oder bespitzelt, erfährt sie sich als nützlich. Die agile, nette Frau, die sich doch nur Sorgen machen möchte, erscheint lange als Opfer der Verhältnisse. Sie wird von einem anonymen Anrufer bedroht, vor der Tür ihres Sohns wird Müll abgeladen, ihre große Wohnung wird aufgebrochen. Wird sie gar für das undurchsichtige Finanzgebaren ihres ältesten Sohnes bestraft?
Erst als der Eindringling Kontur gewinnt, ein junger Mann, der bedenkenlos mordet und seine wechselnden Domizile verwüstet, um der Witwe in ihrem gepflegten Viertel nachstellen zu können, wird klar, wie tief die Gedächtnislücke China ist. Unter Mao hat die Kommunistin Deng vor Jahrzehnten einen Genossen denunziert, um an seiner Stelle eine Zuzugsgenehmigung für Peking zu bekommen. Der Eindringling ist ein Nachkomme des Mannes, den sie verraten hat. Oma Mörder, Mörder-Enkel. Da sie sonst niemanden haben, beginnen die beiden Unverwandten einander zu mögen. Da könnte der Film aufgeben und einen versöhnlichen Schluss suchen. Doch wenn die Schuldigen sich arrangieren, wird die Amnesie immer röter.
Ein Kollektiv, das sich seiner Schuld nicht bewusst ist, steht auch im Mittelpunkt von Francesco Munzis Wettbewerbsbeitag Anime Nere (Schwarze Seelen). Stellvertretend für eine Gesellschaft, die glaubt, dass es der jeweils eigenen Familie gebührt, sich auf Kosten anderer zu bereichern, tritt ein kalabrischer Mafiaclan auf der Stelle. Die drei Söhne der Familie haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was es heißt, die Familienehre aufrechtzuerhalten. Doch der vermeintlich schicksalshafte Kampf mit anderen Clans zwingt sie, Feinde zu töten und sich neue zu machen. Die Mafia offenbart sich als Zwangsgemeinschaft, in der jeder Sieg über Schwächere oder weniger Verderbte neue Pathologien hervorbringt. Lange Zeit sieht der Film aus wie ein klassisches Abrechnungsdrama, in dem ein Pate den anderen ermordet, List und Tücke noch immer attraktiv wirken und einer gewinnen wird. Die schizophrene Struktur wird erst durchbrochen, als einer der Söhne die italienische Amnesie abstreift. Während von ihm erwartet wird, Teil des Familienkrieges zu werden, seine hart erkämpfte Neutralität abzustreifen und endlich im Namen des Vaters die Gegner abzuschlachten, erschießt er erst seine Brüder und dann sich selbst. Dieses Ende ist umso gewaltiger, als es ein für alle Mal die Logik der schwarzen Seelen unterhöhlt. Wer soll sich nach diesem prophetischen Werk noch einen der typischen Mafia-Film ansehen wollen? Das Mafia-Genre lebte von der Überhöhung der Gewalt. Gleichgültig, wie geldgeil und widerlich die wechselnden Kino-Paten auch waren, stets wurde ihnen der Hauch des Abgründigen verliehen. Ihre Fatalität war erotisch, ihre Grausamkeit stilprägend. Vorbei. Anime Nere räumt mit dem Mythos auf. Wer dem mordenden Bruder nicht Einhalt gebietet, macht sich mitschuldig, erst recht als Teil der Menschheits-Familie.
Es gab in diesem Jahr viele Filme, die zu einem Festival der Auflehnung und der gerechten Empörung beitrugen. 99 Homes von Ramin Bahrani: ein Film über die gängigen Lügen und Betrugsszenarien amerikanischer Immobilienhändler und Banker. Birdman: ein Film über die gängigen Lügen und Betrugsszenarien der Unterhaltungsindustrie. Ghesseha von Rakhshan Banietemad: ein Film über die gängigen Lügen und Betrugsszenarien der iranischen Machtelite.
Das Motiv eines allgegenwärtigen kollektiven Versagens führt in Anime Nere zum (Selbst)Mord aus Ekel. In Birdman steigert sich ein um Ruhm ringender Schauspieler in eine Schizophrenie, die ihn größenwahnsinnig und noch berühmter macht. In 99 Homes verliert ein Immobilienmakler durch seine Geldgier Frau, Kinder und Selbstachtung. Kurz bevor seine Seele gänzlich in Schwärze und Drogen versinkt, zeigt er sich selbst des Betrugs an. Tabula rasa, wohin man auf diesem mutigen Festival blickte. Der Film, der diese notwendigen cineastischen Reinigungsrituale zu einem Meisterwerk zusammenfasst, wurde mit dem Preis des Goldenen Löwen bedacht. Roy Anderssons bildgewaltiges filmisches Fresco A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence hält die Balance zwischen berechtigtem Ekel und einer unverbrüchlichen Liebe. Musivisch geordnet, Traumelemente und Groteske verbindend, surreal und damit real wie immer, kreist Anderssons Film um die Fragen der menschlichen Existenz. Sind wir es wert, verteidigt zu werden? Am Anfang betrachtet einer der vielen Protagonisten in einem Naturkundemuseum eine ausgestopfte Taube, die auf einem abgestorbenen Baum sitzt. Wäre es nicht besser, es wäre andersrum? Der Mensch ausgestopft, die Taube lebendig? Bisweilen möchte man es glauben. Etwa bei den vielen wiederkehrenden Telefonaten zwischen einer Frau und ihrer Schwester, die stets um dasselbe kreisen. Wie es so geht, der einen Schwester und der anderen. Gut. Aha. Und was sie so tue, die unsichtbare Schwester irgendwo am Ende der Leitung. Ach, so das Übliche. Aha. Bis man dann sieht, was das Übliche ist: Die angerufene Schwester entpuppt sich als Leiterin eines obskuren Labors, in dem ein Affe innerhalb eines erkennbar sinnlosen Experiments grausam gequält wird. Das Übliche. Davon gibt es mehr in diesem Film, der zwischen der Zustimmung zur verdienten Apokalypse und einem sehr bewegenden Einspruch schwankt. Es gibt sie, die guten Menschen. Bezeichnenderweise sind sie Liebende und Infragesteller. Letztlich überwiegt Anderssons Sehnsucht, den Menschen und die symbolische Taube, immerhin Überbringerin des Ölzweigs nach der letzten Sintflut, lebendig zu sehen. Gemeinsam, in einem Bild.