Cottbus 2007: Glänzend organisiertes Festival
Das Wetter, nicht überraschend für den November, war kalt und unfreundlich. An den letzten beiden Tagen des 17. Festivals des osteuropäischen Films schneite es in der Lausitz. Gute Bedingungen, um ins Kino zu gehen, vollends bei einem so glänzend organisierten Filmfestival wie dem in Cottbus. Selbstbewusst aber unprätentiös, anspruchsvoll aber immer kommunikativ, zeigte das „kleine“ Festival seine Größe und seinen Charme.
Als ökumenische Jury bewerteten wir die Filme des internationalen Wettbewerbs und suchten darunter einen Preisträger aus.
Seine eigene Sprache, sein Gewicht findet der osteuropäische Film an seinen eigenen Orten. Dass diese meist auch die Signatur der Rückständigkeit tragen, mag Anlass zu tiefgehenden, pessimistischen Reflexionen über das Verhältnis von Kino und Ästhetik der Gegenwart geben. Diejenigen der zehn Filme im Cottbusser Wettbewerb, die sich an der Ästhetik westlichen Kinos versuchten, scheiterten. Der Politthriller Das Russische Dreieck (Aleko Tsabadze, Georgien 2006) genauso wie der Kriegsfilm Die Lebenden und die Toten (Kristijan Miliċ, Kroatien/Bosnien und Herzegowina, 2006), ein mühsamer Müllkippen-Hamlet (Aleksandar Rajkoviċ, Serbien 2007) ebenso wie das bemühte Ensemblestück Die Regeln des Lügens (Robert Sedláček, Tschechische Republik 2006).
Unter der Last seines überragenden Vorgängers Die Rückkehr litt auch Andrej Zvjagincevs neuer Film Die Verbannung (Izgnanie, Russland 2007). Zu viel will er mit der fatalistischen Saga eines entfremdeten Paars gleichzeitig zeigen, zu explizit sind die Reminiszenzen an Andrej Tarkowskij. Aber vielleicht braucht die zweieinhalbstündige Arbeit (die man umstandslos als Werk bezeichnen möchte) auch einen zweiten Blick oder gar den Abstand von ein paar Jahren, um deutlicher verstanden zu werden.
Den Charakter einer europäischen Produktion trug der ungarische Film Opium – Tagebuch einer irren Frau (János Szász, Ungarn/Deutschland 2007) an und mit sich. Sein Sujet, seine Besetzung, seine artifizielle Bildsprache verschließen sich vor Spezifischem, das sich dem Ort zurechnen ließe. Die deutsch-ungarische Koproduktion schildert den Aufenthalt eines Neurologen und Autors (der dänische Star Ulrich Thomsen) in einer Irrenanstalt zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Inmitten eines Arsenals bizarrer Apparaturen zur Behandlung Geisteskranker trifft der morphiumabhängige Arzt auf eine junge Frau, die sich besessen ins Schreiben flüchtet. Der psychoanalytische Vorgang der Übertragung wird hier in seiner ausbeuterischen Form fest mit dem Beginn der Psychoanalyse selbst verbunden. Der Neurologe überwindet seine Schreibblockade mit Hilfe der Patientin und lässt diese rücksichtslos zurück. Der Regisseur János Szász führt in seinem zudem auf verstörende Weise die Analogie kinematografischer und medizinischer Geräte vor. Ob seine virtuose, jedoch gleichsam teilnahmslose Ästhetik den skrupellosen Blick des Protagonisten auf seine Opfer wiederholt oder überhaupt erst freigibt, war Anlass für tiefgehende Meinungsverschiedenheiten.
Uneinig war man sich auch über die Haltung von Ernest Abdyschaparows Morgentau (Kirgistan 2007). Auf dem Hintergrund des alten kirgisischen Rituals des Brautraubs wird das Märchen der Selbstfindung einer jungen Frau aus der Stadt in der einsamen Existenz einer Hirtenfrau erzählt. Dabei wird nicht an Szenen mit tumben, betrunkenen Männern, die von ihren herrischen Frauen verdroschen werden und Ähnlichem gespart.
Herausragend (und auch von der Internationalen Jury mit dem Hauptpreis des Festivals prämiert) im Wettbewerb war Die Untersuchung (Razsledvane, Bulgarien, Niederlande, Deutschland 2006), der zweite Spielfilm von Iglika Trifonowa. Eine Kommissarin (mit Ähnlichkeiten zu Clarice Starling in Das Schweigen der Lämmer wird bewusst gespielt) sieht sich einem Mann gegenüber, der seinen Bruder getötet haben soll. Die Beweislast ist erdrückend, der Angeklagte schweigt. Ästhetisch und dramaturgisch äußerst konzentriert entfaltet die Regisseurin in der Beschreibung der Beziehung der beiden Protagonisten eine Parabel über Schuld und Wahrheit.
Ihr Tempo, ihre Definition des Bildes (Abteilfenster zeigen in der Cadrage einer Leinwand die Außenwelt), dazu der Metaphernreichtum von Bahnhöfen - Gleise, Bahnhöfe und Eisenbahnen sind für die klassische Kinoästhetik wie geschaffen -: Züge spielen eine entscheidende Rolle in den beiden schönsten Filmen des Festivalwettbewerbs. Am Bahnhof trifft der zehnjährige Stefek den Mann, den er für seinen herbeigesehnten Vater hält. Jetzt muss er ihn, aber vor allem auch seine skeptische große Schwester, davon überzeugen, dass dem tatsächlich so ist. Die Kleinen Tricks (Polen 2007) des Jungen bringen die vermeintliche Familie in dem verschlafenen polnischen Städtchen immer näher zueinander. Regisseur Andrzej Jakimowskis Film, der in seiner Erzählweise an Otar Iosseliani erinnert, vermittelt überzeugend die Perspektive eines Heranwachsenden mit Stilmitteln eines magischen Realismus, in dem Wunsch und Wirklichkeit poetisch konkurrieren.
Als besten Film des Festivals zeichnete die ökumenische Jury Reise mit Haustieren (Puteschestvie s domaschnimi zhivotnami, Russland 2007) aus. Die junge Natalja lebt in einem baufälligen Bahnhof mit ihrem viel älteren, ungeliebten Ehemann. Dessen plötzlicher Tod bietet ihr die Chance, selbst Entscheidungen für sich zu treffen. Vera Storoschevas Film zeigt die ungewöhnliche Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau, die sich im Nirgendwo der russischen Provinz die Welt neu aneignet. Die Moskauer Theaterschauspielerin Xenia Kutepova bietet eine überragende Darstellung in den klug komponierten Tableaus der russischen Regisseurin.